Was für ein Tag. Was für ein langer, erschöpfender und erfreulicher Tag. Erschöpfend weil endlich eine lange Reise hinter ihr lag und erfreulich weil sie die Beine wieder ausstrecken konnte. Sie war sehr lange mit ihrem Bruder unterwegs gewesen, hatte diese Reise auch sehr genossen. Aber zuhause war es eben doch am Besten. Hier hatte sie mehr Standfestigkeit, hier wusste sie eher, wo sie hingehörte. Und, noch viel Wichtiger, hier wussten auch alle anderen, wo sie hingehörte. Zur Gens Claudia, die schon seit Ewigkeiten in Rom verwurzelt war, die hohes Ansehen schon seit langen Zeiten genoss. Sie war Patrizierin und nirgendwo, das war zumindest ihre Meinung, wurde dies so sehr hervorgehoben wie am Nabel der Welt. Sie sah sich in ihrem Zimmer mit wachem Blick um, während ihre Sklavin, Corona, eifrig ihre Kleidung wieder einräumte und Truhen und Schränke mit dem Tand der jungen Frau auffüllte. Sie mochte die Wände, sie waren schlicht und edel. Zwar zeigte viel Prunk noch deutlicher, dass sie aus reichem und gutem Hause kam, aber sie selbst präferierte schlichte Eleganz. Zumindest im familieninternen Bereich. Nach außen hin präsentierte sie sich, wie sie auch ihre Familie präsentieren wollte: Edel. „Corona, sorg doch noch für ein wenig mehr Stil, ich werde derweil ein wenig meine Augen schließen.“ Corona nickte nur und verbeugte sich. Livineia hatte penibel darauf geachtet, ihre Sklavin gut zu erziehen. Sie hasste es, wenn Sklaven die ganze Zeit redeten und sich wie Ihresgleichen aufspielten. Je lebhafter eine Sklavin war, desto störender empfand sie diese. Sie waren lediglich Gehilfen um ihren Lebensunterhalt angenehmer zu gestalten und da konnte sie es einfach nicht gebrauchen, wenn sie gestört wurde. Störungen mochte jeder anders empfinden, Livineia war da sehr empfindlich. Sie ging sehr schnell in die Luft und achtete penibel auf Fehler. Es war sogar schon vorgekommen, dass Familienmitglieder versucht hatten, sie zu beschwichtigen. Häufig erfolgreich, manches Mal aber auch vergebens. Besonders wenn ihre Kopfschmerzen sie plagten, die sie nicht selten hatte, war sie gereizt. Corona konnte sich mit diesem Temperament bislang am besten arrangieren, weshalb die junge Patrizierin auch diese meistens in ihrer Nähe duldete. Neben ihrer extrem engstirnigen Art genossen Sklaven, wenn alles gut ging, in ihrer Nähe nämlich selbst häufig Ruhe, denn wollte sie gerade nichts, wurde die Belegschaft ignoriert. Sie war Luft. Und da war er wieder, der Punkt, wegen welchem sie nur stille Sklaven mochte. Und der Punkt, weswegen sie auch nur ungerne vor die Türe und vor Allem in lärmende Straßen ging. Sie verachtete den Pöbel beinahe ebenso sehr wie Sklaven. Sie lärmten rum, stritten lautstark und kannten kaum Benehmen. Sie kannte bisher nicht einen Plebejer, dem sie Respekt zollte. Natürlich ließ sie ihre Meinung selten öffentlich verlauten, denn zu ihrem Leidwesen hatten ja auch einige Plebejer einiges im Reich zu sagen. Aber mit Gleichgesinnten ließ sie ihre Meinung nur zu gerne heraus.
Leichtfüßig ging sie zu ihrem Bett und legte sich auf dieses. Schlafen wollte sie nicht, aber einen Moment von den Strapazen ausruhen. Sie hasste es abgrundtief, zu reisen. Sie hasste Schiffe, sie hasste Wasser und sie hasste das Schaukeln von Sänften und Kutschen. Sie hasste es, sich selbst beim Gehen schmutzig zu machen. Sie achtete lieber auf ihre Figur, indem sie sehr wenig aß. Sonne und Bewegung vermied sie häufig. Es strengte sie an. Diesen Aspekt hatte sie wohl von ihrer Mutter geerbt, denn sie war schnell überfordert mit einer Situation. Nur im Gegensatz zur Mutter, wurde sie überdominant, fing an launisch zu werden und wälzte diese Laune schnell auf Unschuldige ab. Also vermied sie stressige Situationen, beschränkte sich auf das Lesen, ihr Aussehen und Gespräche mit ihrer Familie. Die meiste Zeit hierbei nahm wohl ihr Aussehen in Anspruch. Ihre Eitelkeit war schon beinahe krankhaft, außerhalb des claudischen Hauses würde man sie wohl nur im seltensten Fall mit einem Makel sehen. Zudem war sie auch von großer, natürlicher Schönheit, aber die reichte ihr nicht. Sie wollte mehr, war niemals zufrieden. Auch dies hatte sie vermutlich von der ebenfalls sehr modebewussten Mutter geerbt. Mode war zwar nicht Livillas liebstes Gesprächsthema, aber ein fester Bestandteil in ihrem Leben. Ein unverzichtbarer Bestandteil. Sie fühlte sich schon unsicher, wenn nur eine einzige Strähne nicht an ihrem angestammten Platz saß. Und genau darum achtete sie auch schon fast krankhaft auf eine gute Haltung, gerade. Den Kopf hielt sie niemals gesenkt, niemals war ihr Blick verträumt. Auch nicht, wenn sie träumte. Aber sie träumte nur selten, sie stand mit beiden Beinen fest im Leben. Träume waren gefährlich, konnten schwach machen. Vielleicht sogar verletzlich. Und wer verletzlich war, zog andere Menschen mit Beschützerinstinkten an. Und das konnte sie überhaupt nicht leiden, denn sie wollte selbstständig und stark sein. Sie war kein armes, dummes Häschen.
„Ein Tuch mit Wasser.“ Gab sie unsanft bekannt. Das war ein eindeutiges Indiz für Kopfschmerzen. Sie hörte nur schnelles, leises Trippeln. Sehr gut, Corona besorgte, was sie wünschte. Angestrengt schloss sie die Augen. Die Seefahrt war der reinste Horror gewesen. Sie wollte unbedingt mit der Kutsche reisen, aber die lange Reisezeit und vor Allem die Beschwerden durch die Berge zu reisen hatten sie überzeugt, einer Seefahrt einzuwilligen. Es war stürmisch geworden und einmal hatte sie einen Schwall Wasser abbekommen. Ihr war speiübel gewesen, da es im winterlichen Sturme sehr stark geschwankt hatte. Sie wollte dies mit frischer Luft kompensieren, aber als sie dann sah, wie sehr das Wetter das Schiff ins Wanken gebracht hatte, musste sie sich unweigerlich übergeben. Wie würdelos. Aber wo immer tiefes Wasser in Sicht war, wurde ihr unwohl. Und tief definierte sich als höher als der Bauch. Und das war im Mare Mediterraneum definitiv der Fall. Das war im Tiber der Fall. Das war beinahe in jedem nicht menschlich angelegtem Gewässer der Fall.
Sie hörte Coronas Schritte nahen, das Auswringen eines Tuches und spürte alsbald das lindernde Tuch auf der Stirn. Es war angenehm kühl, aber nicht beißend kalt. Ja, diese Sklavin hatte sie sich hervorragend erzogen. Hoffentlich hatten die Sklaven im Haus ihres Großvaters ebenfalls Manieren vorzuweisen. Oder wenigstens einen loyalen Sklaven, der notfalls bei Erziehungsmaßnahmen würde helfen können. Sie seufzte wohlig und sperrte sämtliche unangenehme Gedanken aus ihrem Kopf. Sie war zuhaus.