Dives lag gerade mit seinen Kindern im Triclinium und ließ sich beim gemeinsamen Essen ihre neusten Erlebnisse berichten, als ein erst jüngst in Ersatz für einen verstorbenen Diener in den Haushalt aufgenommener Sklave den Raum betrat.
"Meister!", meldete er sogleich in wichtigem Tonfall. "Ihr habt einen Brief aus Roma!" Mit diesen Worten hielt er eine Wachstafel in die Höhe, auf welcher deutlich sichtbar das Siegel der Iulier zu erkennen war. "Es heißt 'Dominus'.", ergriff sogleich Faustina vorlaut das Wort, um vor ihrem Vater mit ihrem Wissen zu glänzen. "Und es heißt, 'du hast einen Brief aus Roma' und nicht 'ihr'.", fühlte sich stante pede auch ihr älterer Bruder herausgefordert, sich ebenfalls in die Erziehung des neuen Sklaven mit einzuklinken. "Unser Papa ist schließlich ein Senator und kein Lehrmeister.", kicherte Fausta anschließend in Richtung ihres Bruders. "Und wenn man nicht zu viel Wein getrunken hat, dann sieht man ihn auch nur einmal.", grinste der jüngere Dives zurück, auch wenn er ob seines Alters bisher nicht zu sagen vermochte, wie viel Wahrheit an diesem Gerücht war, dass man bei zu übermäßigem Weinkonsum alles doppelt sähe.
"Verzeih..ung, Dominus.", war dem Unfreien seine Einschüchterung deutlich anzumerken. Dives seinerseits ging über die Fehler seines neuen Dieners hinweg, nachdem sich seine Kinder bereits der Kritik angenommen hatten. Und er übersah fürs Erste auch das vorlaute Verhalten der beiden Kleinen. Sie sollten sich in ihrem jetzigen Alter voll und ganz auf die Aneignung eines grundlegenden Wissens konzentrieren. Der richtige Umgang mit diesem Wissen wäre eine Lektion, die sie im Anschluss daran gewiss noch lernen würden. "Zweifellos wieder einer der schönen Briefe, die mir mein Cousin Caesoninus regelmäßig schreibt.", erklärte der Senator also und forderte seinen Untergebenen anschließend auf: "Lies."
Der Sklave, des Lesens offenkundig nicht mächtig, stand einen Augenblick lang nur wie angewurzelt da, bis ihm ein weiterer Unfreier aus dem Hintergrund zur Hilfe eilte, den Brief übernahm, ihn öffnete und mit wohlklingender Stimme zu lesen begann:
"Salve, Marcus Iulius! Ich muss dir heute leider wegen höchst trauriger Umstände schreiben: Lucius Iulius Antoninus ist von uns gegangen!" Dives hustete kurz, nachdem er sich beinahe an einer Weintraube verschluckt hatte, so direkt wie sein Cousin hier auf den Punkt kam. "Hinabgestiegen in den Hades werden wir uns nie wieder an seiner Gegenwart erfreuen können und der kleine Caius Iulius Spurinus wird fortan ohne Vater aufwachsen müssen." Faustina schaute nachdenklich. "Papa?", redete sie mitten in die Verlesung des Briefes, sodass der Sklave - ein pfiffiger Mitdenker - kurz unterbrach. "Wer ist Lucius Iulius Antoninus?", wollte sie wissen. "Für euch... war er ein Onkel 4. Grades. Er hat über viele Jahre im Exercitus Romanus gedient: Erst in der Legio Prima, später dann über lange Zeit sogar bei den Praetorianern. Dabei hat er sich letztlich - neben einigen Auszeichnungen - so viel Anerkennung verdient, dass er nach euren lange verstorbenen Urgroßonkeln Seneca und Numerianuns sowie nach eurem noch lebenden Urgroßonkel 2. Grades, Licinus, der vierte Nachkomme unseres Stammvaters Iulius Caepio war, dem der Aufstieg unter die Equites gelungen ist.", erklärte der Senator, was ihm spontan zu seinem Verwandten einfiel. "Als wir noch in Roma gelebt haben, war er in aller Regel häufiger in den Castra seiner Einheit als dass er in der Domus Iulia gewesen wäre. Daher kennt ihr ihn vermutlich kaum.", war sich Dives spontan gar unsicher, ob sein Verwandter die beiden Kinder überhaupt je zu Gesicht bekommen hatte. (Hatte er.) "Und wer ist Caius Iulius Spurinus?", wollte im Anschluss dann der jüngere Dives wissen. "Nun... offensichtlich war Antoninus Vater - und Caius Iulius Spurinus ist sein Sohn.", musste sich der Iulier an dieser Stelle selbst auf die trivialen Fakten beschränken, da diese frohe Kunde bisher allem Anschein nach an ihm vorbeigegangen war. "Und hat der auch eine Mama? Oder ist das so wie bei uns?", hakte Minor nach. "In den Castra der Soldaten leben doch keine Frauen!", warf seine Schwester sogleich spottend ein, bevor ihr offenbar spontan doch einige Zweifel kamen. "Oder, Papa?"
"Wir hören am besten erst einmal, was sonst noch alles in dem Brief geschrieben steht, bevor wir uns mit solch detaillierteren Fragen befassen.", lächelte der Vater über seine Unfähigkeit, derlei Fragen zufriedenstellend beantworten zu können, gekonnt hinweg. Stattdessen gab er dem Sklaven ein Handzeichen, fortzufahren: "Natürlich versuchen wir alle so gut es geht für ihn da zu sein, doch ist es wohl für jedes Kind ein Schock, wenn einem die väterliche Leitfigur urplötzlich fortgerissen wird. Hoffentlich zerbricht sein junger Verstand nicht ob dieses Verlustes." Faustina seufzte leise. "Der Arme.", bekundete sie in kindlichster Naivität und legte den Kopf schief. "Die Beerdigung wird in einer Woche am Tag vor den Nonen des August dieses Jahres stattfinden." In Minors Augen funkelte es. "Papa, können wir da hin?", fragte er vorsichtig. "Zur Beerdigung?", verzog seine Schwester skeptisch das Gesicht. "Zur Beerdigung - nach Roma!", betonte er vor allem den zweiten Teil. "H-h! Au ja! Papa, können wir da hin? Zur Beerdigung von Onkel Antoninus?", spielte die Beerdigung bei ihr augenblicklich nur noch eine untergeordnete Rolle. Stattdessen war es vor allem die Aussicht auf einen kurzen Aufenthalt in der Ewigen Stadt, der ihr Herz aufgeregt schneller schlagen ließ. "Das wird schwierig.", dämpfte Dives in der Folge sogleich die Erwartungen seiner Kinder. "Bitte, Papa.", zeigte sich Minor von seiner artigsten Seite. "Och bitte, Papi!", machte auch Faustina große Augen. "Wir werden sehen.", schloss der Vater das Thema, während er innerlich seine Entscheidung bereits getroffen hatte: Es würde nur einer nach Roma reisen - und das war der Bote mit dem divitischen Beileidsbekunden.