ZitatOriginal von Marcus Iulius Dives
Entsprechend vermied Dives irgendeine Reaktion auf diesen Letter.
...doch nicht nur auf den. Auch sonst blieb der Iulier - wann immer möglich - hartnäckig wortkarg und vermied es nach Kräften, den Rückzug vom Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben anzutreten.
So las er zwar den Brief seines Verwandten Caesoninus und schickte im Anschluss auch eine kurze Nachricht an seinen vertrauten Mit-Senator Petilius Sophus, auf dass dieser ebenfalls ein paar Stimmen für Caesoninus akquiriere. Doch sehr viel mehr tat er nicht. Denn Dives hatte sich hier im beschaulichen Bovillae einigermaßen eingerichtet. Und er intendierte nicht, sich in absehbarer Zeit über ein gewisses Maß hinaus in irgendwelche Belange einzumischen, die ihn hier in Bovillae schlicht nicht weiter betrafen.
Hatte er beispielsweise eine Meinung zur Mitgliedschaft seines Cousins in der Factio Praesina? Ja, die hatte er: Er hielt es für einen äußerst durchschaubaren und daher tendenziell schlechten Opportunismus. Die Iulier waren schließlich Anhänger der Veneta. Ihr Cousin Centho war ein Mitglied, ihre Tante Helena war ein Mitglied, Dives' Vater war ein Mitglied, Dives selbst war ein Mitglied... und ohne dass dies jemals in Frage stand, schwärmte selbstredend auch Dives Minor für keine andere als die blaue Factio. Kurzum: Es handelte sich - zumindest aus divitischer Sicht - doch durchaus um eine Art Familientradition, entweder keiner Factio anzugehören oder der Veneta; entweder keine Factio zu bejubeln oder die Veneta.
Viele Jahre war es mittlerweile her - fast schon wie in einem anderen Leben -, doch erinnerte sich Dives hier an einen der wenigen kostbaren Augenblicke mit Serapio in den lucullischen Gärten. Da hatten sie einst ihre jeweilige Vorliebe für die blaue beziehungsweise goldene Factio thematisiert. Dem Iulier war dies als ein sehr unbeschwerter, sehr offener und ehrlicher Moment in Erinnerung geblieben. Denn obgleich der Decimer die absolut "falsche" Factio präferierte (Seidenhöschen - von wegen!), so tat er dies doch offenkundig weder aufgrund der (äußerst mäßigen) Erfolge der Goldenen noch aufgrund irgendeines Kalküls, damit einen für seine Karriere einflussreichen Kontakt zu knüpfen. Und genau das machte ihn als Anhänger des goldenen Rennstalls loyal.
Denn gute Fahrer kamen und gingen. Mal gehörten sie der einen Factio an und bescherten ihr die großen Erfolge; mal gehörten sie einer anderen Factio an und triumphierten für ein anderes Banner. Kein Auriga fuhr ewig, sodass auch niemand ewig alle Rennen dominierte. Gleiches galt für die Kontakte innerhalb eines Rennstalls. So waren insbesondere die Germanicer einst deutlich präsenter in höchsten öffentlichen Ämtern und Positionen vertreten als Dives damals zum Mitglied der Veneta wurde. Gleichzeitig hörte man namhaften Jubel für die Factio Praesina dereinst kaum. Ein Umstand, der sich mittlerweile durchaus gewandelt hatte. - Das Fazit des iulischen Senators: Konstanz und echte Loyalität im Wagenrennsport machten sich niemals abhängig vom Erfolg und/oder der Führung einer Factio. Und welchen anderen Grund als einen der beiden genannten könnte Caesoninus haben, mit der Familientradition zu brechen und ihr den Rücken zu kehren? (Das hatte bisher einzig ihr gemeinsamer Großvater Lepidus getan - allerdings bevor die Unterstützung der Veneta überhaupt zur iulischen Tradition geworden war; und zudem gewiss in irgendeinem Zusammenhang der damals noch sehr viel größeren iulischen Nähe zu den Aurata-nahen Decimern.)
Genauso hatte Dives natürlich auch zu manch anderem Thema eine Meinung. So erfreuten ihn insbesondere die erfolgreichen Auftritte seines Verwandten auf der Rostra und im Senat, da sich hier doch zeigte, ob jemand tatsächlich nicht nur zu erzählen, sondern auch zu sprechen, nicht nur zu überreden, sondern auch zu überzeugen wusste. Und so erfüllte es ihn umgekehrt stets mit einem unheilvollen Unbehagen, wenn sich ein Mitglied der Iulii Caepiones dem divitischen Empfinden nach zu sehr mit den Iulii Caesares zu identifizieren schien - denn irgendwie mutete es doch an wie der Wille der Götter, dass genau solche Iulier auffällig oft sehr früh verstarben; ganz so als wollten entweder die Götter keine zweiten Iulii Caesares... oder als wollten die Geister der toten Iulii Caepiones jeden Agnaten des Iulius Caepio strafen, der die Geister anderer Toter - wie die der toten Iulii Caesares - über sie stellte.
Doch wie auch schon im Falle seiner Ansicht zu den Factiones behielt Dives auch in diesem Fall seine Meinung für sich... und stellte hier nun fest, dass sich manches Problem manchmal zumindest in Ansätzen auch ein bisschen von selbst regelte. - Kurz gesagt war der Senator gewiss nicht allzu betrübt darüber, dass Caesoninus nicht länger als Aedituus ausgerechnet im Tempel der Venus Genetrix diente.
Ja, und nicht zuletzt hatte der divitische Iulier selbstredend auch in Sachen Ehepolitik - seiner eigenen mit Anlauf krachend gescheiterten Ehe zum Trotz - durchaus seine Meinung. So war er im Falle der Iuliae der Ansicht, dass eine Frau durch ihren Eheschluss nicht schlechter gestellt werden sollte... so es nicht andere Gründe gab, die ihr zum Wohle der Familie dieses Opfer abverlangten. Das bedeutete, dass eine in ritterlichen Verhältnissen aufgewachsene Frau natürlich einen Mann brauchte, der ihr ebenfalls (mindestens) diesen Status bieten können sollte. Und auch eine Iulia aus nicht-ritterlichem Elternhaus hatte selbstredend immerhin ihren guten Namen, sodass ihr zum Beispiel das Schicksal einer Ehe mit einem ehemaligen Peregrinus, der erst irgendwann im Verlaufe seines Lebens das römische Bürgerrecht erlangt hatte, hoffentlich erspart werden konnte.
Doch auch in diesem Punkt vertraute Dives darauf, dass sich sein Cousin schon gut um alles kümmern würde - und dass er insbesondere bei einem Eheschluss zwischen cognatischen Verwandten auf eine ausreichend entfernte Verwandtschaft achtete. Womöglich könnte er gar geschickt auch eine - cognatisch selbstredend nicht zu nah verwandte - Iulia von einer geeigneten Familie adoptieren lassen... nur um sie im Anschluss daran dann selbst zu ehelichen. Sofern man(n) nicht wie Dives bereits eine Ehe hinter sich hatte, gab es schließlich ab einem Alter von 25 Jahren gewissermaßen eine Ehepflicht, der gegenüber man sich besser nicht zu lange verschloss, um gar nicht erst die Frage auftauchen zu lassen... wie vorbildlich man eigentlich lebte, während man in die höchste Gesellschaftsschicht aufstrebte, die dem Volk von Roma in Sitten und Moral zu ebendiesem Vorbild gereichen sollte.