Loyalität. Ein Begriff, der seinen Ursprung im Wort Lex - und damit also im Gesetz, der Vorschrift, dem Gebot, dem Vertrag - hatte. Die divitische Forderung nach Loyalität war daher nicht mehr und nicht weniger als die Forderung nach tiberischer Vertragstreue oder - speziell hier - nach Bündnistreue. Denn eine genau solche Verabredung - ein Bündnis, in dem man sich gar gegenseitig auch als Verbündeten betitelte - hatte es gegeben. Und die Tiberier hatten sich dabei leider als äußerst illoyale Bündnispartner erwiesen. Wem dies besser gefiel, der konnte es selbstredend auch als Vertragsbruch eines gewöhnliches Geschäfts bezeichnen. Das war letztlich jedem unbenommen. Denn es änderte nichts daran, dass auf das Wort eines Tiberius, dieser Eindruck hatte sich inzwischen leider bei Dives verfestigt, im Zweifel nicht viel zu geben war. Allfällig war es daher auch ganz gut, dass man den Iulier - als einen der in der Senatsdebatte ganz wenigen Verteidiger des namhaften Tiberius Durus - schlussendlich in der Abstimmung überstimmt und seine Aufnahme in das Ulpianum auf diesem Wege verhindert hatte...
"Ein interessantes Gespräch, in der Tat. Daher bedauere ich es selbstredend, dass du uns jetzt verlässt, während ich zugleich jedoch auch froh bin, dass du deinem geschworenen Eid damit alle Ehre leistest. Vale, Miles Iunius.", sprach der Senator an den sich verabschiedenden Soldaten gewandt und erkannte erst jetzt, wo er verbal direkt darauf gestoßen wurde, dass der Iunier wohl gar kein gewöhnlicher Urbaner, sondern ein mutmaßlich im Valetudinarium - sei es als Capsarius oder gar als Medicus - tätiger war. In jedem Falle eine in seinen Augen sehr angenehme Person, wie er feststellen musste. Einen kurzen Augenblick dachte er zurück an die Cena mit Iunia Axilla und Iullus Cassius Hemina Minor damals in Ostia. An viel erinnerte er sich nicht mehr - einzig, dass sie es würdevoll ertragen hatte, den gesamten Abend über vom Cassier, dem damaligen Collega des Iuliers im Amt des Duumvirn von Ostia, mit Komplimenten überschüttet und fast schon permanent angegraben zu werden, daran meinte er sich noch ganz gut erinnern zu können. Die Iunier, so wollte ihm auch ohne zu wissen, ob hier eine Verwandtschaft bestand oder nicht, scheinen, hatten einige wirklich sympathische Personen und Persönlichkeiten in ihren Reihen.
"Ich muss ehrlich sagen...", begann der Iulier, nachdem der Soldat sie also verlassen hatte, "...dass ich es für eine Illusion halte zu glauben, dass tatsächlich niemand einem anderen etwas schuldig wäre. Denn tatsächlich ist doch im Gegenteil ein jeder - jeder einzelne von uns - anderen etwas schuldig.", widersprach er der jungen Frau. "Der Sohn ist dem Vater gegenüber stets Gehorsam schuldig. Der Römer ist seiner Familie gegenüber - und sei er der letzte seines Stammes und die Familie daher nur er selbst - stets zur Loyalität verpflichtet." Der Senator verzichtete auf den Hinweis, dass es im Zweifel selbstredend eine Frage der jeweiligen Definition war, wen man als Familie betrachtete und wen nicht. "Wir alle sind es schuldig, ein gegebenes Wort zu ehren, ein gegebenes Versprechen einzuhalten, einen geleisteten Eid nicht zu brechen - sei es wie im Falle des Iunius der Eid eines Soldaten oder sei es wie in meinem Fall der Eid, den ich als Senator von Roma abgelegt habe. Ich habe eine Schuld gegenüber meinen Klienten und sie gegenüber mir. Meine Freigelassenen haben gar über meinen Tod hinaus eine Schuld gegenüber meiner Familie.", zählte Dives auf. "Und ja, natürlich stehen wir auch den Göttern gegenüber stets in einer Schuld. Schließlich möchte ich, dass das Getreide auf meinen Feldern wächst und gedeiht. Dafür muss ich selbstverständlich opfern. Und wenn ich nicht nur in einem Jahr eine gute Ernte haben will, sondern auch im Jahr darauf, dann muss ich mein Opfer selbstredend auch wiederholen. Jahr für Jahr. Denn es entspricht nun einmal nicht dem Do ut Des, lediglich einmal etwas zu opfern und im Anschluss zu erwarten, ständig und immerfort etwas dafür zu bekommen.", führte der Iulier aus.
"Wenn du Schmerz über deinen Verlust empfindest, dann übergehe ich diesen im Übrigen nicht, wenn ich auf die Götter zeige. Im Gegenteil, ich helfe dir damit.", kam er dann auch auf diesen Punkt noch zu sprechen. Denn in der Tat war er überzeugt: Solange diese Stella keine Christianerin war - oder irgendeiner anderen Sekte angehörte, die nur einen einzigen Gott allein verehrte -, solange war jedes Opfer an einen zuständigen Gott geeignet, wenigstens das Gefühl zu erlangen, man hätte eine Linderung des Schmerzes erfahren. Zweifellos: Der von ihr erwähnte Pluto war allerdings nicht dafür bekannt, in einem solchen Fall von großer Hilfe zu sein. "Die Frage, die nur du selbst wirst beantworten können, ist jedoch die, ob du diese Hilfe annimmst oder ignorierst.", erklärte Dives, der sich an dieser Stelle aus irgendeinem Grund - es musste wohl die Präsenz der Villa Tiberia sein - kurzzeitig an Lepidus erinnert fühlte, dessen gescheiterte Wahl zum Aedil der Iulier bis heute damit verband, dass der Tiberier den divitischen Ratschlag, sich nach seiner Überwerfung mit Aurelius Lupus einen neuen Patron zu suchen, konsequent ignoriert hatte. Und da hatte dann selbstredend auch Dives - seinerzeit noch ohne Sitz im stadtrömischen Ältestenrat - seinem ehemaligen Verbündeten nicht helfen können. Denn jeder musste letztlich selbst wissen, welchem Rat er folgte und welchen er in den Wind schlug. "Ich jedenfalls werde, um deine letzte Frage zu beantworten, mich nach diesem kurzweiligen Gespräch jetzt dem Miles Iunius gleich ebenfalls wieder auf den Weg begeben.", kündigte er dann an. Denn einerseits empfand er es nach wie vor als unterschwellig unangenehm, sich mit jemandem zu unterhalten, der sich ihm - trotz eigener Vorstellung - nicht ebenfalls vorstellte und diese Geste gegenseitigen Respekts von Beginn an - ja - schuldig blieb. Und andererseits, so fand er zudem, hatte er nun auch genug Zeit in Gegenwart der Villa Tiberia verbracht.
Der Senator wartete selbstredend noch einen Moment, um der jungen Frau die Gelegenheit für irgendeine Erwiderung zu geben - falls sie dies denn wollte. Andernfalls würde er sich - da er sie zwar begrüßt hatte, sie ihn umgekehrt jedoch nicht - ohne weitere Verabschiedung mit seinem noch immer wenige Schritte wie ein Schatten hinter ihm stehenden Privatsekretär Saras zurück zur divitischen Sänfte begeben.