Dives hatte sich in die Bibliotheca des Hauses zurückgezogen in der Hoffnung, dass man ihn hier nicht so schnell finden würde, falls man ihn suchte. Bei sich hatte er einen Brief, der von einem Praetorianer für ihn abgegeben worden war. Der Senator ahnte Schlimmes. Denn Sergia Fausta hatte es damals in ihrem letzten Gespräch unter diesem Dach gesagt: Der Trecearius Tiberius hatte auch gegen Dives ermittelt und wusste über ihn Bescheid. Das bedeutete: Die Praetoriaer wussten Bescheid. Und das bedeutete: Es war dies wohl der Zeitpunkt - der divitische Senator war zurück in Roma -, da die Praetorianer ihr Wissen gegen ihn nutzen wollten. Womöglich sollte er zu irgendeinem bestimmten Stimmverhalten im Senat gedrängt werden? Oder womöglich wollte einer der Soldaten auch nur sehen, wie viel Geld er für sein Wissen erpressen könnte? Der Iulier wusste es nicht. Doch er hatte diesen Tag bereits kommen sehen, seit er den Reisewagen von Bovillae nach Roma bestiegen hatte. Seither hatte er sich insgeheim stets davor gefürchtet, dass es bald soweit sein würde. Und nun saß er mit diesem von einem Praetorianer überbrachten Brief in der hintersten Ecke der iulischen Bibliotheca und hatte Angst vor dem, was ihn nun erwartete.
Auf dem Boden sitzend und mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt saß er da. Die Briefrolle lag in Reichweite parallel zur Wand ausgerichtet vor ihm. Der Senator überlegte... Er könnte das Schreiben ignorieren und so tun, als hätte er es nie erhalten. So wäre könnte er bei welch einer Abstimmung auch immer frei stimmen und sich einsetzen für das, was er für das beste für Roma hielt (und nicht für das, was er für das beste für seine Karriere hielt). Doch wie wahrscheinlich wäre es, dass man ihm glaubte, dass er dieses Schreiben nicht erhalten habe? Es wäre beides, dringend und persönlich, so sollte der Praetorianer an der Porta gesagt haben. Wie sicher seine Kinder noch sein würden, wenn er das Schreiben ignorierte, wollte sich Dives an dieser Stelle lieber nicht ausmalen. Stattdessen kam er zu dem Schuss: Es blieb ihm nichts anderes übrig, als das Schreiben zu öffnen... und zu lesen... und zu hoffen, dass was auch immer man von ihm wollte, nichts war, das von ihm eine Entscheidung verlangte zwischen dem Wohle Romas und dem Wohle seiner Familia. - So griff er denn vorsichtig und bis ins Letzte angespannt den Brief... wagte anschließend behutsam das Siegel zu brechen... und begann hernach zögerlich das Schreiben zu entrollen:
"Der Gardetribun Decimus Serapio grüßt den Senator Iulius Dives.", las er - wie üblich - laut (und war dabei dennoch leise). Er senkte den Brief. Decimus Serapio. Von allen Leuten ausgerechnet er! Erst nannte er Dives einen verlor'nen Freund - und sagte damit nicht weniger, als dass die Freundschaft verloren war. Dann wiederum nannte er Dives nicht nur einen, sondern gar seinen Freund - gewiss nicht im amorösen Sinne, aber damit dennoch nicht weniger verwirrend. Und nun? Nun war er also der Gardetribun, der den Senator grüßte. Emotionslos, distanziert... der kalte Atem der Praetorianer, welcher den Iulier zu ersticken drohte. Dives fror und zog den Stoff seiner Tunika enger, bevor er weiterlas:
"Es ist lange her, Senator Iulius, und es tut mir leid, Dich nach Deiner Rückkehr nach Rom ausgerechnet mit einer so traurigen Nachricht empfangen zu müssen?", las er den Satz mehr als Frage denn als Aussage. Dives zog die Augenbrauen enger, denn dieser Einstieg schien ihm irgendwie... unpassend. "Dein Verwandter, Gnaeus Iulius Labeo, der erst vor einigen Tagen seinen Dienst als Optio bei uns antrat, ist letzte Nacht überraschend..." verstorben. Sein Onkel Labeo war tot. Erst Iulius Caesoninus und Iulia Phoebe. Und nun Iulius Labeo. Derselbe Iulius Labeo, der vor wenigen Tagen erst in silberner Nacht unter goldener Kuppel mit seinem Neffen zusammengesessen und von seiner spannenden, gefährlichen, aufregenden (und aus labeonischer Sicht dennoch teils viel zu langweiligen) Zeit im fernen Britannien und jenseits der Grenzen des Imperiums erzählt und berichtet hatte. Derselbe Iulius Labeo, der noch so stolz darauf gewesen war, zu den Praetorianern versetzt worden zu sein, nachdem auch sein Vater Iulius Seneca einst als Tribun ein Teil dieser militärischen Elite gewesen war. Derselbe Iulius Labeo, der seinen senatorischen Neffen Iulius Dives erst vor wenigen Tagen überhaupt zum ersten Mal gesehen hatte und den auch Dives seinerseits gerne in der nächsten Zeit ein bisschen besser kennengelernt hätte. - Dieser Labeo war nun tot.
Dives begann still und heimlich zu weinen. Einerseits aus Erleichterung darüber, dass der Brief nicht den Inhalt zu haben schien, den er ursprünglich erwartet hatte. (Und er schämte sich dafür!) Es fiel deutlich die anfängliche Anspannung von ihm ab und löste sich mehr und mehr in feuchten Tränen. Andererseits aber weinte er selbstredend auch um seinen Onkel, der ein überaus geselliger, sympathischer Mann gewesen zu sein schien. Dazu noch ein überaus fähiger Soldat, der seiner Familie und der gesamten Gens alle Ehre gemacht hatte! Ein Mann, der so viel erlebt und gesehen hatte und von dem sich der nie auch nur ansatzweise nördlich der Alpen gewesene Dives noch so viel zu lernen und zu erfahren erhofft hatte... über Bernsteine zum Beispiel, von denen er erzählt und für die er seinen Neffen damit durchaus zu begeistern gewusst hatte. - Doch nun war Iulius Labeo tot. Und mit ihm starben all seine spannenden Geschichten und all sein Wissen. Dives wischte sich mit dem Ärmel seiner Tunika die Tränen aus den Augen, um weiterzulesen. Denn nach diesem ersten Schock und der damit verbundenen Trauer, drängte sich auch bald schon die Frage des Warum in sein Bewusstsein...
"Du kannst mich jederzeit in der Castra Praetoria aufsuchen. Die Wache wird Dich zu mir geleiten. Vale bene.", schwieg sich der Brief über genau diese Frage des Warum jedoch augenscheinlich aus. Stattdessen erzwang der 'Gardetribun Decimus Serapio' sich mit diesem Wissen - denn davon ging der Iulier selbstredend aus, dass der Tribun mehr wusste, als er hier schrieb - ein persönliches Treffen. Nach all der Zeit. Es blieb ihm, so schien dem Senator, aber auch wirklich gar nichts erspart!
So saß er denn noch eine Weile in seiner Ecke, hing seinen Gedanken nach und versuchte anschließend die Zeugnisse seiner Trauer zu kaschieren, bevor Dives mit der Schriftrolle in der Hand die Bibliotheca wieder verließ. Auf dem Weg nach draußen lief ihm sein Sklaven Antinoos über den Weg, den er bei dieser Gelegenheit sogleich beauftragte: "Ich brauche eine Kette, die so silbern in der Sonne glänzt wie die Gischt der fern auf dem Meer brechenden Wellen. Und ich möchte dazu passend einen Anhänger aus Bernstein, so groß wie mein Daumenballen, so golden leuchtend wie die Sonne selbst. Geld spielt keine Rolle."