Beiträge von Tiberius Duccius Secundus

    Nachdem Luitbert wieder weg war und Landulf ein wenig Zeit gehabt hatte, ein wenig Courage zusammenzukratzen, machte er sich auf, nach seinem Onkel zu suchen. Gut, Witjon war nicht wirklich sein 'Onkel'. Nachdem er aber auch nicht sein Vater war, für Landulf aber im Grunde genommen der einzige Vater, den er je kennengelernt hatte und kennen würde, war 'Onkel' die beste Beschreibung der verwandtschaftlichen Beziehung, mit der der junge Wolfrikssohn aufwarten konnte.
    Ein klein wenig nervös war Landulf schon. Er hatte keine Ahnung, wie Witjon reagieren würde, wenn er ihm seinen Plan mitteilte. Allerdings hatte er auch nicht vor, sich von seinem Vorhaben abbringen zu lassen. Es war einfach perfekt! Er wäre an einer Stelle, wo er wirklich gebraucht würde, und er hätte eine Aufgabe, die auch wirklich sinnvoll war! Und natürlich, er könnte beweisen, dass er ein echt kerliger Kerl ist und ganz nebenbei mal schauen, was denn auf Seiten der entfernteren mütterlichen Verwandtschaft an Mädels so rumlief. Die von Mogontiacum hörten nur seinen Namen und waren da schon ganz hin und weg, weil er ein Duccius war, und wollten ihn dann gleich heiraten und Kinder und alles. Das war ihm dann doch ein bisschen zu viel des Guten.


    Doch jetzt ging es erstmal um die nähere Zukunft, und die fand hier im Arbeitszimmer von Witjon statt. Ohne anzuklopfen platzte Landulf einfach in das Zimmer, in dem er seinen Onkel vermutete. “Witjon, hast du einen Moment Zeit?“ platzte er auch gleich heraus, ehe er sich überhaupt umschaute, ob der angesprochene denn da war.

    Hatte er sich wohl doch nicht verhört, wenn er mit Pferd, Rüstung und Schwert anrücken sollte. Dennoch zögerte Landulf, die Aufforderung sofort als Marschbefehl aufzufassen. Sicher, es würde seine Probleme hier erstmal weit von ihm schieben, er konnte etwas sinnvolles tun und musste niemandem hier auf die Nerven gehen. Aber soviel zumindest hatte er von seiner Mutter dann doch wieder gelernt, dass man nicht zu allem gleich ja sagte, sondern selbst dann, wenn man ja sagen wollte, erstmal so tat, als müsse man überlegen. Und zumindest kurz sollte er noch einmal darüber nachdenken.
    “Äh... das muss ich mit Witjon besprechen.“ Musste er wohl wirklich. “Aber du bist ja sicher noch ein paar Tage hier, oder? Von daher wird ja noch Zeit genug sein, das genauer zu besprechen und … vorzubereiten.“
    Ja, das klang schonmal ein wenig fürstlicher als nur depperte Nachfragen.

    Holla, der Mann nuschelte vielleicht! Landulf stand im ersten Moment nur ein bisschen sprachlos da und versuchte, dem Redefluss zu folgen. Was ganz und gar nicht einfach war, weil der Kerl auch noch an ganz an fieser Dialekt hatte, der mit dem seiner Mutter nicht unbedingt zusammenpasste, und mit dem seiner Leute hier auch nicht unbedingt. “Äääääh...?“ machte er nicht eloquenter als vor einigen Momenten und versuchte das, was er verstehen zu haben glaubte, in eine vernünftige gedankliche Struktur zu bringen.
    “Rodewini mecht, dass i kumm?“ fragte er nochmal nach. So ganz sicher war er sich nicht, ob Chlodwin das wirklich gesagt hatte. Und wenn er ihn richtig verstanden hatte, hatte er auch was von seinem Schwert und Rüstung geredet, was nichtmal wenig Sinn ergeben würde, wenn er wirklich zu den Mattiakern gehen sollte. Immerhin standen die am Rande eines handfesten Schlagabtausches mit den Chatten. Aber warum sein Onkel Bertwini und sein Großonkel Rodewini ihn da dabei haben wollten, war ihm noch nicht so ganz klar.


    Und doch....


    Und doch war das im Grunde das, was er gesucht hatte. Eine Aufgabe! Ein Weg, der sich vor ihm öffnete! Jemand, der wusste, was er tun sollte, der wusste, was zu tun war, der ihm diese Suche nach einem Sinn in seiner Existenz einfach abnahm! Kein herumsitzen mehr, kein Abschweifen der Gedanken, kein sich-selbst-überlassen-sein. Und er lernte endlich diesen Teil seiner Familie vernünftig kennen! Abgesehen von dem ein oder anderen Thing hatte er sie kaum gesehen. Und jetzt, in dieser unendlichen Leere, die sich um ihn herum auszubreiten schien, war das eine willkommene Möglichkeit, sie zu füllen.
    Dazu noch der Ruhm, den Chatten mal so richtig eins aufs Dach zu geben...

    Er kam in letzter Zeit oft hier raus. Warum, wusste Landulf selber nicht so genau. Vielleicht wollte er auch einfach nur den offenen Himmel über sich fühlen und nicht die Mauern des Hauses, die ihn irgendwie zu ersticken drohten. In jedem Winkel und jeder Ecke sah er das Tun seiner Mutter. Besonders schlimm war es in der Küche, die Landulf jetzt schon seit einigen Tagen beharrlich zu meiden gewusst hatte. Nicht einmal der Duft von frischem Brot hatte ihn dort hineinlocken können, wo er sonst zu gerne von einem noch warmen Laib sich eine Scheibe mit großen Hundeaugen von Marga erbettelt hatte.


    Und so saß er auch jetzt einfach draußen auf dem kalten Boden gegen einen Baum gelehnt und machte im Grunde genommen gar nichts. Er saß einfach nur da und wartete darauf, dass die Zeit vorbei ging und ihm irgendjemand sagen sollte, was er tun sollte. Seine Mutter wäre vermutlich schon zehn mal herausgekommen und hätte ihn angeschnauzt, er solle nicht auf dem kalten Boden sinnlos herumhocken, sondern statt dessen mal nach der Hros sehen. Oder auf den Markt, mit irgendwem reden. Oder etwas besorgen. Oder seine Schwester suchen. Oder Witjon. Oder irgendwas reparieren. Irgendwas tun.
    Doch es kam niemand. Alle ließen ihn in Ruhe. Er war ein Mann jetzt. Nun, eigentlich schon eine ganze Weile, seit seiner Mannwerdungszeremonie. Aber er fühlte sich nicht so. Er wusste, dass er nicht am Rockzipfel seiner Mutter hätte hängen können, und er hatte das auch nie so gesehen. Aber jetzt, wo sie weg war... sie fehlte ihm so entsetzlich! Mehr, als er den anderen gegenüber zuzugeben sich traute. Wann immer sie ihn fragten, was auch selten genug vorkam, beteuerte er, dass er schon klar käme.


    Landulf bemerkte Albin erst, als der schon quasi vor ihm stand und den Besucher bei ihm ablud. Etwas linkisch kam er hoch und klopfte sich ein wenig die feuchte Erde von der Hose.
    “Heilsa... äääh... du“, begrüßte Landulf Liutbert, dessen Namen ihm grade nicht hatte einfallen wollen. Er hatte ihn auf der Beerdigung seiner Mutter gesehen und meinte, dass der sogar mit ihm gesprochen hatte. Doch alles, was diesen Tag anging, verschwamm in seiner Erinnerung zu einem uneinheitlichen Brei der Ereignisse, ersäuft unter einem ganzen Berg Met (und dem daraus resultierenden schlimmsten Kater in Landulfs leben. Verdammte Axt, er hatte sich am Boden festhalten müssen, um nicht runterzufallen!), und der Name des Boten war darin wohl irgendwo ersoffen. Seine Mutter hätte es gewusst. Und ihm hierfür die Ohren lang gezogen.

    Wie konnte sie tot sein? Selbst jetzt, als der Gode Landulf die Fackel in die Hand drückte, mit der er seine Mutter in Hels Reich schicken sollte, fand der junge Mann darauf keine Antwort. Sie konnte nicht tot sein. Sein ganzes Leben lang hatte sie wie ein Schatten über ihm geschwebt, hatte mit Sicherheit und bisweilen auch Schärfe dafür gesorgt, dass alle in der Casa Duccia – und vor allem er – beständig auf Kurs blieben. Sie war immer da gewesen, und schlimmer noch, hatte immer bescheid gewusst. Er hatte anstellen können, was er wollte, hatte seine kindischen Pläne noch so gut durchdenken können – war es der Frosch, der sich im Haar eines Mädchens aus der Nachbarschaft wiedergefunden hatte, war es der Schinken, der plötzlich aus der Vorratskammer verschwunden und auf mysteriöse Weise in seinem und Audaods Bauch gelandet war, oder auch Dummheiten wie die bei der Jagd vor langer Zeit – sie hatte ihn nur einmal angesehen, und hatte es gewusst.
    Und jetzt lag sie hier, tot. Ein dünner Schleier lag über ihrem Gesicht, damit man nicht die kleinen, roten Punkte sehen konnte, die ihren ganzen Körper übersät hatten. Landulf hatte sie gesehen, hätte sie sogar berührt, wenn Lanthilda ihn nicht davon abgehalten hätte. Er wusste, dass er sich hätte anstecken können, und er wusste, dass seine Mutter selbst ihn mit scharfen Worten davon abgehalten hätte – ja auch davon abgehalten hatte, indem sie ihm den Zutritt zu ihrem Zimmer verwehrt hatte. Und dennoch wollte das Kind in ihm nichts sehnlicher, als noch einmal die Mutter berühren.


    Ihm war es egal, dass er jetzt hier als Mann gelten musste. Er war Sohn von Lando, der jahrelang die Geschicke der Sippe Wolfriks gelenkt hatte, Sohn von Elfleda, Fürstentochter, die nach seinem Tod die Macht erhalten hatte und erste Dame Mogontiacums gewesen war. Er hatte das Blut von Fürsten in seinen Adern, war Großneffe des Fürstens der Mattiacer und Neffe von dessen Erben, Elfledas Bruder. Witjon, der jetzige Sippenführer, war ihm der einzige Vater, den er je kennengelernt hatte. Er hatte jeden Anspruch darauf, Gefolgschaft einzufordern. Von ihm wurde erwartet, zu führen und zu lenken. Er hatte seine Mannbarkeit erreicht, und wie ein Mann sollte er jetzt hier stehen. Ein Mann, zu dem halb Mogontiacum in diesem Moment sah.
    Und dennoch wollte er im Moment nichts lieber als wie ein kleines Kind zu heulen und nach seiner Mutter zu rufen, damit sie wieder aufstehen würde und ihn wie ein Kind schützen würde. Sie konnte nicht einfach so tot sein. So eine Krankheit konnte jeden in die Knie zwingen, aber doch nicht seine Mutter.


    Die Worte des Goden hatte Landulf nicht einmal richtig gehört, noch von sonst jemandem, der ihn angesprochen haben mochte. Im Moment fühlte er sich toter als der Leib auf dem Scheiterhaufen vor ihm. Er bemerkte Witjons Blick, und mit leichter Verzögerung folgte er ihm in seiner Bewegung. Selbst, als seine Fackel den Reisig entzündete und die roten Flammen schnell am Holz und noch schneller an der edlen Kleidung Elfledas leckten, fühlte er sich wie taub und erwartete jeden Moment, von seiner Mutter aus diesem schrecklichen Tagtraum geweckt zu werden.
    Das Feuer fraß sich schnell seinen Weg voran, und bald schon bleckte gelber Schein in den Himmel, so dass Landulf einen Schritt zurücktreten musste. Sehr bald konnte er schon nicht mehr den Körper auf der Bahre liegen sehen, weil die Helligkeit ihm die Sicht raubte. Schwarzer Qualm kroch in den Himmel und verbreitete den gräßlichen Geruch brennenden Fleisches. Landulf musste sich einen Ärmel vors Gesicht ziehen, auch wenn er sich fest vorgenommen hatte, das nicht zu tun. Aber es ging nicht.


    Und er hoffte, dass auch die anderen vom Feuerschein geblendet genug waren, so dass niemand allzu genau auf ihn achten mochte, als nun doch einige nicht mit körperlichen Schmerzen zusammenhängende Tränen den schwarzen Ruß auf seinem Gesicht verschmierten.

    Duccia Elva



    Es war etwas, das Elfleda so noch nicht gesehen hatte. Als sie zu der Hütte der Familie von Notker und seiner Familie kam, war es eigentlich ein ganz gewöhnlicher Gang gewesen. Drei der Kinder waren krank, die Familie stand unter der Munt ihrer Familie, und Elfleda war Heilerin. Natürlich war sie gekommen, um Notkers Frau zu helfen, möglichst viele der Kinder gesund zu bekommen.
    Sie hatten allesamt Fieber, was Elfleda mit kalten Umschlägen aus Essigwasser herunterkühlte, und eine seltsame Art von juckendem Ausschlag an ihrem Oberkörper. Die Germanin hatte das so noch nie gesehen, aber abgesehen von Müdigkeit und Schlaffheit aufgrund des Fiebers und einem wohl beständigem Juckreiz ging es den Kindern soweit ganz gut. Die Mutter schien sogar Elfledas Anwesenheit irgendwie unangenehm zu sein, eben weil es nicht gar so weltbewegend war. Anscheinend litten einige Kinder an diesem juckenden Ausschlag, und ihre drei Kleinsten hatten sich beim Spielen mit den Kindern der römischen Soldaten angesteckt. Vermutlich war es irgend eine Krankheit, die von den Legionen hergeschleppt worden war, die die kleinen Körper zu befallen schien und ihnen etwas Kraft nahm. Abgesehen von ein paar schweren Fällen von hohem Fieber, das vor allem bei sehr kleinen Kindern zum Tod führte, hielt sich das alles wohl aber in Grenzen.
    Mit einem Umschlag aus Haferkleie und Schafgarbe gegen die roten Pusteln und einigen guten Ratschlägen ließ Elfleda also die Familie in bestem Wissen zurück und verbrannte noch ein wenig Schwefel, um schlechte Luft um sie herum abzutöten und so ihre Gesundheit zu bewahren.



    Eine Woche später allerdings fühlte auch sie sich müde und schwindelig und musste sich hinlegen. Etwa zur selben Zeit wurde auch Notkers Frau schwer krank, und ein paar andere Frauen. Auch einige Väter von kranken Kindern hatten Fieber, so dass schließlich von Stadtseite beschlossen wurde, dass alle Kranken zuhause zu bleiben hatten, ehe sich noch mehr Leute ansteckten.
    Eigentlich sah Elfleda diese Maßnahme ja ein, aber uneigentlich protestierte sie dennoch lautstark dagegen, hier als mächtigste Frau der Stadt in ihrem eigenen Haus eingesperrt zu sein. Dennoch hielt sie sich daran, und mehr noch: Sie blieb in ihrem Zimmer und ließ auch niemanden zu sich kommen. Nur Lanthilda durfte immer wieder kommen um ihr Nachrichten oder Essen zu bringen (und den Nachttopf zum leeren mitzunehmen). Und es war wohl die klügste Entscheidung, die Elfleda noch im wachen Zustand getroffen hatte.


    Zwei Tage später hatte auch Elfleda Ausschlag an Oberkörper, Hals, Armen und Beinen. Kleine, rote Pusteln, die eiterten und juckten wie tausend Ameisen auf der Haut. Damit sie sich nicht wund kratzte, schnitt Lanthilda ihr die Fingernägel, und als das nichts nützte, bandagierte sie ihr die Hände, um sie am Kratzen zu hindern. Einspruch erheben konnte Elfleda dagegen kaum. Ihr Fieber war beständig weiter gestiegen und wurde nur durch die Wadenwickel einigermaßen in Schach gehalten. Dennoch verfiel sie zunehmend in ein Delirium, brabbelte nur immer wieder davon, wie kalt ihr sei, und das, obwohl ihr Körper nicht nur glühte, sondern zerfloss. Immer wieder wollte sie aufstehen, um sich noch eine Decke zu holen, oder um das Zimmer zu verlassen und Witjon zu befehlen, endlich den Kamin einzuheizen, damit es hier im Haus nicht so elendiglich kalt wäre. Lanthilda hielt sie nur mit mühe davon ab, und es grenzte wohl an ein Wunder, dass die Germanin sich bei ihrer Pflege von Elfleda nicht ansteckte. Sicherheitshalber schlief sie schon nicht zuhause oder bei anderen, sondern im Stall bei den Pferden.


    Es ging mehrere Tage so. Die Kinder waren inzwischen alle wieder putzmunter. Fast schien es, als würde ihnen die Krankheit nicht halb so schlimm zusetzen wie den Erwachsenen. Von diesen hatten die ersten die Krankheit auch schon überstanden, aber längst nicht alle. Ein Mann war am Fieber gestorben bisher.
    In ihren wacheren Momenten, in denen das Fieber zurückgeträngt war und sie sich ein paar Löffel Suppe hinunterzwängte, gab Elfleda Anweisungen. Lanthilda wurde als Botin missbraucht, um auch alles weiterzugeben, und meldete auch brav die Bestände von eingelagertem Korn und gesalzenem Fleisch zurück an Elfleda. Besuchen ließ sich die Hausherrin nicht, weder von Witjon, noch von Landulf. Erst recht nicht von Landulf, den sie keineswegs anstecken wollte. Zweimal kam er an ihre Tür, und beide Male hatte sie die Kraft, ihn durch die Tür hindurch anzufahren, dass er nicht so dumm sein solle und sich anstecken solle. Und beide Male schickte sie ihn mit einem “Ich hab dich lieb“ wieder weg.


    Es schien schon fast, dass diese seltsame Krankheit die Mattiakerin nicht in die Knie zwingen würde. Sie hatte mehrere dieser wachen Momente, und sie aß auch und verstand größtenteils. Aber dann, in einer Nacht, stieg das Fieber wieder heftig an. Lanthilda versuchte es mit kühlenden Wickeln und wusch der Germanin den kalten Schweiß vom ganzen Körper. Überall waren diese kleinen roten Punkte, vor allem im Brustbereich. Es war unheimlich.
    Erst zitterte Elfleda nur heftig aufgrund der eingebildeten Kälte, dann versuchte sie etwas zu sagen. Es schien ihr wichtig zu sein, denn sie hielt Lanthilda am Arm fest und sah sie eindringlich an. Aber als sie sprach, hatten ihre Worte keine Stimme, und was immer es war, Lanthilda verstand es nicht. Sie fragte noch nach, was denn sei.


    Aber der Griff erschlaffte, ganz langsam, und Elfledas fiebrige Augen verloren ihren glasigen Glanz.


    Und das weitere, was man hörte, war nur das laute Schluchzen der Dienerin über den Tod ihrer Herrin.

    Jeder einzelne dieser Männer hier zeichnete ihn mit dem Blut des Ebers, die einen ernst und fast schon rituell, die anderen mit breitem Grinsen und einem Schulterklopfen, aber jeder beteiligte sich daran. Landulf verstand, dass das hier ein Ritual war, dass es wichtig war, nur verstand er nicht, was er gemacht hatte, um das auszulösen. Noch immer hatte er dieses flaue Gefühl im Bauch, das man wohl haben mochte, wenn man nur durch eine gewaltige Portion Glück gerade Hels Fängen entronnen war, und mehr Verwirrung über das eigene Leben herrschte als Erleichterung und Freude.
    Doch der eiserne Geschmack in seinem Mund, wo sich der Geschmack seines eigenen Blutes mehr und mehr mit dem des Ebers mischte, der seinen ganzen Geruch jetzt bestimmte, je mehr Blut in seinem Gesicht landete, und die leichten Schmerzen von den Prellungen, die Übelkeit, weil er sich den Kopf angestoßen hatte, all das sagte ihm mehr und mehr, dass das hier wirklich passierte. Und dass er am Leben war. Und dass seine Mutte rihn umbringen würde, wenn sie das hörte! Oh Götter, daran hatte er ja noch gar nicht gedacht! Er würde nie wieder nach draußen kommen, wenn sie davon was hörte! Und sie würde davon hören, die Männer hier lachten und scherzten ja jetzt schon miteinander über „Landulf, den Eberfäller“! Ihm wurde noch ein wenig schlechter. Aber der Stolz behielt alles dort, wo es hingehörte.


    Als genau da Sönke irgendwo durchs Unterholz brach mit wildem Kampfschrei und die Männer sich zu ihm umdrehten, war sich Landulf nicht sicher, ob er lieber im Boden versinken oder sich unsichtbar machen wollte. Warum nur war er nicht bei der Gruppe geblieben und hatte das getan, was er tun sollte? Zum Glück verdeckte das Blut seinen Gesichtsausdruck, wie es da klebrig und dick an seinen Wangen entlangrann, seine Haare verfilzte und seinen Wams verschmierte.
    “Hey Sönke. Ich hab einen Eber getötet. Irgendwie.“ Landulf mochte Sönke. Und er wollte ihm erzählen, was passiert war, aber irgendwie kam er sich umgeben von den ganzen Männern, die bei diesen drei kurzen Sätzen schon zu glucksen anfingen, extrem dämlich vor. Gern wär er zu ihm einfach rübergelaufen und hätte mit verschwörerischer Stimme alles erklärt, die Sache mit dem Tudicius und wie das passiert war. Dann wohl mit ein paar heroischeren Ausschmückungen über die Größe des Ebers, und – sofern er daran gedacht hätte – sein [strike]Glück[/strike] Geschick mit dem Speer. Aber hier unter Publikum wollte er sich nicht wie ein Kind benehmen, sondern wie ein Mann unter Männern. Und wie einem Mann wurde ihm ja auch gerade gratuliert. Also Rücken gerade und Brust raus und so tun, als wär das alles so geplant gewesen.


    Einer der Männer war unterdes schon damit beschäftigt, dem Eber den Bauch zu öffnen. Spontan fragte sich Landulf, was das Vieh gefressen hatte, dass das so stinken musste, als der Mann mit den Händen anfing, die Gedärme rauszuschaufeln. Ein Wust an blaugrauem Zeug quoll aus dem Eber, dazwischen die dunklen Stücke der größeren Organe. Sein rebellierender Magen fand den Geruch alles andere als erbaulich. Auch wenn Landulf nicht wie ein Schwächling wirken wollte, er konnte nicht hingucken. Überhaupt fragte er sich, warum der Mann das jetzt gleich machte und nicht erst später, wenn man die Tiere zusammen ausnahm und häutete und die Teile, die man verwenden konnte, mitnahm.
    Doch das klärte sich gleich auf, als er einen blutigen Beutel triumphierend herausholte, aus dem noch mehr dunkles Blut quoll als aus dem Rest. Das Herz.
    Der älteste Jäger – Landulf hatte keine Ahnung, wie er hieß. Nicht Leif – trat auf ihn zu, als sich die erste Verwunderung über Sönkes Auftritt auf der Lichtung gelegt hatte, legte ihm beide Pranken auf die Schultern und schaute ihn eindringlich an. Er sprach zu ihm, mit ruhiger und tiefklingender Stimme, es klang regelrecht feierlich. Davon, dass er einen wichtigen Schritt zum Mann gemacht habe. Ein Jäger sei ein Mann, kein Kind. Er könne eine Familie ernähren und mit einer Waffe töten. Auch wenn sie Bauern waren und Korn anbauten, um zu überleben, so sei das doch schon eine sehr alte Sitte, und er müsse sich das stets vor Augen führen. Und noch einige Dinge mehr, denen Landulf zu folgen versuchte.
    Und zum Schluss schließlich bekam er das blutige Herz des Ebers in die Hände gelegt und alle traten ein wenig zurück.


    Landulf schaute einen Moment darauf, auf dieses Stück reinen Muskel, das so glitschig in seinen Händen lag, und dann auf in die erwartungsvollen Gesichter. “Danke.... und jetzt?“
    “Na, essen“ kam es irgendwo aus der Menge, und Landulfs Blick heftete sich entsetzt auf das Herz. Die verarschten ihn doch! Die wollten doch nicht ernsthaft, dass er da jetzt reinbiss?
    “Ihr veralbert mich, oder?“
    Eine Runde Gelächter kam als Antwort, ehe der Mann, der zuerst gesprochen hatte, es nochmal bekräftigte. “Nein, im Ernst. Iss es auf. Dann wirst du groß und stark.“
    Landulf sah noch einmal in die Gesichter ringsum, die ihn alle so erwartungsvoll anschauten, und dann auf das blutige Ding in seinen Händen. Er hasste es, der Sohn von Elfleda zu sein. Seine Mutter würde ihn umbringen, weil er sich in solche Gefahr gebracht hatte. Aber sie würde es langsam tun, wenn er nun das hier hinterher versaute.
    Vorsichtig hob er es an den Mund, zuckte dann aber doch nochmal zurück. Der Geruch von dem Teil war übel. Er atmete nochmal, und biss dann hinein. Er konnte nicht wirklich von der zähen Masse abbeißen, auch wenn er es versuchte, und das was er im Mund hatte, wurde irgendwie immer mehr und mehr und mehr... und irgendwann verlor der Stolz dann doch seinen Kampf gegen Landulfs Magen.

    Der Tudicius schaute einfach zu ihm herunter, das blutige Messer fest im Griff. Landulf schaute nach oben und atmete die Süße des Lebens selbst. Er hatte sich den Kopf irgendwie angeschlagen und es dröhnte ein wenig, aber er war so froh, DAS noch zu fühlen, dass es ihm egal war. Er hatte sich schon in Hels Reich gesehen, in der Schnauze eines gewaltigen Ebers, der ihn bis in alle Ewigkeit vermutlich durchkauen würde. Was war da schon ein wenig Kopfweh?
    Und so dauerte es einen Moment, bevor er den Tudicius wirklich wahrnahm, wie er dastand, und wie er zu ihm runterschaute. Der Mann hatte einen seltsamen Ausdruck im Gesicht. Irgendwas, was Landulf nicht zuordnen konnte, was ihn aber augenblicklich an den Gesichtsausdruck des Keilers denken ließ, kurz bevor er angestürmt war.


    Leif:
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    “Was ist hier los?“ kam eine Landulf nur zu gut bekannte Stimme von irgendwo abseits, und mit einem Ächzen, das einem Achzigjährigen angemessen gewesen wäre, setzt sich Landulf auf. Ihm war ein wenig schwindelig, aber ansonsten war er noch heile.


    Leif stand ein paar Schritt weiter, hinter ihm noch ein paar Männer. Landulf sah zu ihm herüber und bemerkte gleich den erschrockenen und auch ärgerlichen Gesichtsausdruck, den dieser an den Tag legte. Landulf kannte den Mann schon sein Leben lang, genauso gut wie jeden in seiner Familie. Leifs Frau Ida hatte Witjons Sohn Audaod großgezogen, der für Landulf wie ein Bruder war. Er kannte diesen Gesichtsausdruck also sehr gut, nur diesmal galt er nicht ihm oder Audaod oder Leifs eigenen Kindern, und er war auch schlimmer, als wenn einer von ihnen etwas angestellt hatte.


    Leif:
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    “Warum seid ihr zwei so weit abseits? Und wessen Blut ist das?“


    Der Tudicius hob beschwichtigend die Hände nach oben, während Landulf sich langsam auf die Beine rappelte und sich dabei leicht den Kopf hielt.
    “War meine Schuld, Leif“, gestand der junge Duccius, und merkte nichts von der Anspannung in der Luft. “Wir sind irgendwie seitlich abgekommen, und dann war da dieses riesige Vieh, und der Keiler hat uns angegriffen, und wir sind dann ausgewichen und ich bin ausgerutscht und dann lag da der Speer und... wo ist das Vieh überhaupt?“ Landulf sah sich um, sah an dem Tudicius vorbei, der stur an ihm vorbei zu Leif blickte und den Blick auf den Eber versperrte. Also stolperte er an ihm vorbei, um sich das Vieh nochmal anzusehen.
    So wie das Tier dalag, sah es irgendwie geschrumpft aus. Landulf hätte schwören mögen, dass der Eber ihm Lebendig bis zur Brust gegangen wäre, mit Hauern so lang wie ein Arm. Jetzt lag der Eber da, der Speer steckte ihm so in der Brust, dass er am Rücken wieder rauskam. Ein tiefer Schnitt ging durch seinen Hals, wohl von dem Messer. Und irgendwie sah er aus wie jedes Wildschwein der Welt, etwas über kniehoch vielleicht, schwarze, dreckige Borsten. Und die Hauer waren zwar beeindruckend und häßlich gelb, aber vielleicht doch nicht ganz so lang.


    Hinter sich hörte Landulf so halb das Gespräch zwischen Leif und dem Tudicius, der ihnen erklärte, dass Landulf das Vieh getötet habe, als dieses Angriff. Dass er im Liegen den Speer hochgerissen habe und der Keiler direkt hineingerannt sei, in leichtem Bogen über den Jungen, den die Aktion erneut zu Boden warf, hinweggerauscht sei und nun eben da hinten liege. Und das Blut an seinem Messer eben von dem Tier war. Keine bösen Absichten, kein böses Blut. Ein paar finstere Kommentare und höhnisches Schnauben zeigte, dass nicht alle, die gefolgt waren, dem Mann glaubten.



    Leif:
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    “Und du hast das Vieh getötet?“


    Leif war hinter ihn getreten, während Landulf noch den Eber anstarrte und sich fragte, wo das riesige Vieh von Eben nur hinverschwunden war und wer es gegen dieses so viel unschrecklichere Wesen ausgetauscht hatte.
    “Öhm, ja. Muss wohl.“ Landulf zuckte die Schultern. Besonders viel hatte er davon nicht wirklich mitgekriegt.


    Leif:
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    Leif machte einmal nachdenklich “Hmmhmm“ und sah neben ihm einfach auf den Keiler runter.


    Landulf stimmte mit einem still seufzenden Nicken ein und blickte ebenfalls zu dem toten Tier. Er hatte keine Ahnung, wie er das hingekriegt hatte, aber vielleicht stimmte ja, was seine Mutter gerne mal sagte: Das Glück ist ein Rindvieh und sucht seines gleichen.
    Die anderen Jäger aber, die nachgekommen waren, waren nicht ganz so schweigsam. Nachdem sich scheinbar die angespannte Situation aufgelöst hatte, kamen die älteren lachend vorbei, einer haute ihm auf den Rücken, so dass Landulf sich beinahe nochmal hingelegt hätte.
    “Sauber, Kleiner! Dein erstes?“
    “Wildschwein?“ fragte Landulf verwirrt nach. Sein Blick lag noch immer auf dem toten Tier. “Öhm, ja, ich war noch nie mit auf Jagd.“ Seine Mutter hatte immer Gründe gefunden, warum er nicht mitdurfte, nur dieses Mal hatte sie es gut gefunden. Aber das sagte er nicht laut.
    “Was? Wirklich? Das allererste Mal? Und dann gleich so ein Vieh? Du weißt ja, was das bedeutet.“
    “Öhm.... nein?“
    Landuf drehte sich nun doch zu den anderen, und sah in lauter grinsende Gesichter. Sogar Leif hatte sein Lächeln wieder gefunden. Offenbar wussten alle etwas, was er nicht wusste.
    Und es dauerte auch nicht lang, bis er herausfand, was es war, als der älteste der Jäger sich nach dem Keiler bückte, seine Hand in das dunkle Blut tauchte und ihm danach damit über die Wange schmierte. Und nach und nach machten die anderen es ihm nach, jeder der anwesende. Außer dem Tudicius, der scheinbar unbemerkt gegangen war.

    “Bleib ja stehen, Junge.“ Der Mann war wie in der Bewegung erstarrt, rührte sich keinen Fingerbreit. Landulf schaute zu ihm, schaute zu dem Speer, der hier zwischen den kleinen Stauden von Wolfsbeeren lag, und zu dem Eber. Da blieb sein Blick am längsten heften, an diesen riesigen gelben Zähnen, von denen einer gesplittert aussah und die bis weit über die gigantische Schnauze zu ragen schienen, krumm und irgendwie scharf aussehend, und dem schwarzen, borstigen Fell, das widerstandsfähiger aussah als die Panzer aller Legionäre Mogontiacums übereinandergeschweißt. Dazu die gewaltigen Hufe, die die Erde aufscharrten und in gefährlich wirkendem Bogen nach hinten aufwarfen. Auch auf der Schnauze, aus der gerade ein beängstigendes Schreien herüberschallte, war jede Menge Dreck. Aber am furchterregendsten waren die kleinen Augen, die genau zu Landulf herüberstarrten, ihn geradezu anvisierten, als wollten sie ihm sagen: Ja, dich mein ich! Dich spieß ich jetzt gleich auf!
    “Nicht bewegen, Junge.“ Landulf blieb zwar stehen, aber bei weitem nicht so unbeweglich wie der Mann neben ihm. Er schaute wieder runter, wieder zum Wildschwein, wieder zum Speer, wieder zum Eber, wieder zu dem Tudicius. Das war doch wohl nicht sein Ernst, dass sie hier einfach stehen bleiben sollten! Das Vieh verspeiste sie beide noch vor dem Frühstück! Und es sah auch nicht so aus, als würde es darauf verzichten, nur weil sie hier schön brav stehen blieben.


    Und dann ging auch alles schnell. Offenbar hatte die Wildsau lang genug überlegt, was sie machen sollte, und stürmte auf sie los. Landulf hörte noch ein sehr garstig klingendes “Scheiße“ von rechts neben sich, als der Mann auch schon noch weiter von ihm weg sprang, mitten in einen Busch. Und Landulf blieb nichtmal Zeit, zu überlegen, was er tat. Seine Beine reagierten einfach aus uraltem Instinkt heraus und hechteten nach links weg. Gerade noch rechtseitig, denn etwas Dunkles und Gewaltiges donnerte an ihm vorbei und krachte gegen mehrere Äste. Landulf rappelte sich vom Boden auf, seine Beine rutschten auf dem nassen Boden immer wieder Weg. Sein ganzer Mund schmeckte nach erde und Eisen, weil er sich auf die Zunge gebissen hatte beim Sturz, als er hinter sich auch mehr fühlte als sah, dass das Vieh noch nicht mit ihnen fertig war.
    Der Tudicius war sonstwo, und Landulf rannte einfach rechtsrum um den Baum, wusste, dass der Eber ihm folgte, glitt nochmal auf dem Boden aus. Seine Linke traf am Boden auf etwas hölzernes, hartes. Der Speer! Er packte einfach zu, drehte sich um, riss was auch immer er da nun in Händen hatte mit herum. Über ihm war ein Schatten, dann Krach, das Splittern von Holz.


    Landulf lag auf dem Rücken und keuchte. In einer Hand hielt er noch einen Teil des Speeres. Landulf hob ihn leicht an und sah, dass das Holz keine drei Hand breit über seinem Griff zersplittert war. Entkräftet ließ er ihn einfach zur Seite fallen. Ein paar Meter hinter ihm schrie der Eber noch einen Moment, ehe er plötzlich verstummte. Landulf sah hoch ins Blätterdach des Auwaldes, als wieder ein Schatten über ihm auftauchte. Im ersten Augenblick zuckte Landulf zusammen, ehe er den Tudicius erkannte. Über ihm, mit blutigem Messer. Der schaute einfach runter, während Landulf hinaufschaute und mit Atmen schwer beschäftigt war.

    Neben ihm lief ein bärbeißiger alter Kerl, der eine finster ausschauende Narbe quer übers Gesicht hatte. Landulf konnte einfach nicht aufhören, rüberzuschauen. Wie das wohl passiert war? Im jugendlichen Hirn formten sich die tollkühnsten Theorien, wie es wohl dazu gekommen sein mochte, und je wilder die Phantastereien wurden, umso näher trat Landulf zu dem Kerl heran. Dieser natürlich wurde der zielstrebigen Annäherung des jungen Burschen gewahr, und nachdem finster zurückstarren scheinbar seine Wirkung verfehlte, wich er etwas weiter aus.
    Es war nicht viel, was sich so das kleine Zweiergrüppchen seitlich bewegte, eigentlich nur eine kleine Kursabweichung, aber sie reichte aus, dass Trommeln der anderen leiser werden zu lassen, als diese sich mehr und mehr von ihnen entfernten.
    “Sag mal, ich kenn dich irgendwoher. Wie heißt du?“ Landulf beschloss, jetzt einfach zu fragen, in der Hoffnung auf eine Antwort, die hoffentlich mit einer seiner Theorien übereinstimmte. Und der alte Mann kam ihm wirklich irgendwoher bekannt vor. So groß war Mogontiacum ja nun auch nicht – zumindest, wenn man dort aufgewachsen war und irgendwie überall seine Nase schon reingesteckt hatte – und hier auf der Jagd waren ohnehin hauptsächlich Männer vertreten, die irgendwo in der Schuld seiner Sippe standen. Mutter hätte es niemals zugelassen, dass er irgendwo mitging, wo sie nicht sicher war, dass er lebend wieder zurück kam. Auch wenn sie das so nicht ausdrückte, sondern etwas mehr so, als wäre das ganze seine Schuld.
    Doch der Kerl antworte sowieso nicht. Er hörte auf, mit seinem Spieß auf seinen schild zu hämmern, so dass auch Landulf sich ein wenig blöd vorkam, noch weiter mit seinen beiden Klanghölzern Tiere aufscheuchen zu wollen und drehte sich mit einem Grunzen einfach um und stapfte von Landulf weg.
    “He, warte mal“ lief er ihm hinterher und versuchte, aufzuholen. Woher kannte er den Kerl? Woher...? Achja! “Gehörst du nicht zu den Tudicii? Ich hab dich doch im Herbst bei der Aussaat gesehen. Richtig?“
    Wieder nur ein Grunzen, und er stapfte ein wenig schneller mitten ins Nirgendwo, weg von der Jagdgesellschaft, weg von den Trommeln. Und Landulf folgte ihm daher schneller. Natürlich wusste Landulf um die Geschichte, wie die Tudicii in die Munt der Duccii gekommen waren. Jeder hatte es ihm erzählt, ein Dutzend Male, dass einer der Tudicii seinen Vater getötet hatte. Hinterrücks erschlagen, obwohl er den Zweikampf gegen den gewählten Streiter von ihnen gewonnen hatte. Ermordet, der große Lando, dem zu Ehren eine Statue mitten in Mogontiacum stand. Dieser Bronze-Vater, von dem Landulf andauernd hörte, dass er stolz auf ihn sein konnte, was er alles erreicht hatte, wie er sich um die seinen gekümmert hatte. Auch seine Schwester sprach so von ihm, obwohl sie keine fünf Jahre alt war, als er gestorben war. Die wusste eigentlich genauso wenig über ihn wie Landulf selbst, und trotzdem redete sie dauernd von ihm. Vor allem, wenn Landulf mit Witjon etwas unternahm, dem Mann, der der einzige Vater war, den Landulf so kennen gelernt hatte. Auch wenn er wusste, dass er nicht sein Vater war, aber was wusste jemand wie er schon davon, wie der Unterschied war?
    Doch es mochte sein, wie es war, Landulf folgte dem grobschlächtigen Tudicius dennoch. Trotz der Geschichten über ihren Verrat. Trotz der wenig vertrauenserweckenden Art des Mannes oder seiner Sippe. Was sollte schon passieren? Außer, dass er ihn mit seinem Spieß abstach und im Wald verbuddelte und behauptete, von nichts zu wissen, vielleicht. (Eine Möglichkeit, die Landulfs jugendlicher Leichtsinn großzügig ausklammerte.)


    Und so waren sie auch ein gutes Stück von den anderen entfernt, als der Mann sich doch zu ihm umwandte, ihn am Kragen packte und gegen den nächsten Baum drückte. “Lass mich in Ruhe, Junge!“ zischte er Landulf ungehalten zu, ehe er ihn mit einem letzten Ruck gegen die Brust wieder aus seinem Griff losließ und den zu m Zwecke der Machtdemonstration fallen gelassenen Spieß aufheben wollte.
    “Is ja gut, war ja nur 'ne Frage“ meinte Landulf und sammelte seine Ehre wieder zusammen. Doch irgendwas war anders und nicht so, wie es sein sollte. Landulf merkte es erst, als er aufhörte, seine Kleidung wieder zurecht zu zupfen und an sich entlangzuklopfen und den Mann ansah, der in der Bewegung erstarrt war und noch immer gebückt zu seinem Spieß dastand.
    Landulf folgte der Blickrichtung und erblickte das häßlichste und größte Wildschwein, dessen er je ansichtig wurde.

    Bumm. Bumm. Bumm. Die Trommeln klangen dumpf durch den sommerlichen Wald, hallten von den Blätterdächern der großen Laubbäume wider. Das Unterholz knackte immer wieder leicht, wenn sie es niedertraten, dazwischen raschelte das noch liegende Laub vom letzten Jahr. Die grünen Stellen, wo Gräser wuchsen, dämpften die Schritte. An den Wildwechseln standen Wegerich und Huflattich, an den Bachläufen, wo nach jedem stärkerem Regen die Flüsschen über die Ufer traten, oder auch vom nahen Rhenus bei Überschwemmung Schlamm in die Auen getragen wurde, standen Dotterblumen, schwere, rote und violette Akeleien dort, wo der Boden trockener war. Am Rand der Lichtung Rittersporn und Eisenhut. Überall wuchs der kräftig gelbe Hahnenfuß, dann weiße Schafgarbe, roter Mohn. Brennesseln mit ihren gezackten Blättern, Kletten, die an den Hosen hängen blieben. Der Wald war schön zu dieser Jahreszeit.
    Bumm. Bumm. Bumm. Die Vögel hatten aufgehört, zu singen, und flogen vor dem Lärm der Trommel weg. Einige Dohlen schimpften lautstark, wenn sie einem hohlen Baum zu nahe kamen, verteidigten mit ihrem spitzem kjachack ihre Nester. Eichhörnchen saßen hoch auf den Bäumen, keckerten die Menschen zu ihren Füßen an und schimpften, ehe sie sich höher hinauf verzogen. Außerhalb der Reichweite von Steinschleudern.
    Bumm. Bumm. Bumm.Gleichmäßig ging es voran, immer in Sichtweite zum nächsten. Die Aufgabe als Treiber war nicht schwer. Man brauchte nur etwas, das ein bisschen Lärm machen konnte. Zwei große Stöcke, die einen kräftigen Klang beim aufeinanderschlagen gaben. Ein alter Schild, auf den mit einer kleinen Keule gehauen wurde - für die, die gern viel Gewicht trugen oder hier im Wald lieber sicher unterwegs sein wollten. Oder eben ein mit Fell bespannter Holzreif, als einfache Trommel. Es musste nur laut genug sein, alles aufzuscheuchen,was sich in den Sträuchern von Brombeer, Holler und Flieder vor ihnen wegducken könnte.
    Bumm. Bumm. Bumm.Und sie flüchteten. Haken schlagende Hasen, Fasane und Wachteln, rote, zottige Füchse, Wildkatzen, Luchse, Wiesel, Marder, Rotwild. Alles lief weg vor dem Lärm, der für sie nur Mensch.Mensch.Mensch. verkündete, lief weg in die Richtung, wo mit Fangnetzen und Spießen schon die Jäger warteten. Denn heute wurde gejagt.


    Landulf lief mit bei den Treibern. Zu gern wäre er einer der Jäger, aber Mutter hatte es nicht zugelassen. Er sollte froh sein, hier dabei zu sein bei den Treibern, Teil der Gemeinschaft. Er sollte lernen, Teil von etwas zu sein. Um zu führen, müsse man es verstehen. Eins sein. Wer sollte ihm später folgen, wenn er nicht selbst tun konnte, was er von anderen verlangte? Wer sollte auf ihn hören, wenn er nie Dreck gefressen hatte? Und so marschierte er mit den anderen Jungen. Sie waren eine gemischte Gruppe, von acht bis achtzehn alle Altersklassen vertreten. Unter ihnen waren auch noch zwei der Alten, mit graugetrübten Augen und zittrigen Händen, zu schlecht beim Zielen für einen Wurf, zu zittrig mit den Händen für einen Todesstoß, zu stolz im Herzen, um nicht teilzunehmen. Landulf grinste zu einem dieser bärbeißigen Kerle rüber, bekam aber keine Reaktion.
    Bumm. Bumm. Bumm. Es machte nichts. Er ging einfach weiter, schlug mit zwei Stöcken aufeinander, im Takt ihrer Schritte, klapperte besonders bedrohlich an den Wildrosenhecken und scheuchte so noch ein paar Kaninchen mehr auf, sah ihnen nach, wie sie panisch im Unterholz vor ihnen verschwanden. Im Lichtgrün des Waldes vor ihnen raschelte es immer wieder, wenn das ein oder andere größere Tier durchs Unterholz brach auf der panischen Flucht vor den vermeintlichen Häschern. Nur wenige waren so mutig, sich dem Lärm zum Trotz seitlich dazu durchzuschlagen und so der aufgestellten Falle zu entgehen.


    Im Morgen waren sie losmarschiert, als der Tau noch klamm in der Luft hing. Inzwischen war die Sonne schon höher gestiegen, doch noch war nicht einmal Mittag. Sie liefen bereits das zweite Mal auf den Sammelpunkt zu, diesmal von der anderen Seite. An Landulfs Hose klebten überall fleckig Reste des Unterholzes. Alles roch nach Harz. Und von überall klang noch immer das Bumm. Bumm. Bumm!