Beiträge von Petronia Octavena

    Octavena registrierte die Neugier, die sich weiter auf Tariqs Zügen hielt, während sie von dem Brand der alten Casa erzählte, sagte dazu aber nichts. Eigentlich lieferte das Feuer wirklich keine schöne Geschichte, aber sie verstand durchaus, warum sie trotzdem eine gewisse Faszination auf jemanden ausüben konnte, der nicht mit dabei gewesen war. Sie hatte in der Vergangenheit ihrerseits schon Farold ausgebremst, der im falschen Moment zu neugierige Fragen über diese Nacht gestellt hatte ohne zu merken, dass er das tat. "Feuergeister kennen wir hier nicht", sagte sie also stattdessen und legte ein wenig den Kopf schief. "Wie besänftigt man solche Geister in deiner Heimat?" Bei seinen nächsten Worten und dem Kompliment über das dagegen lächelte sie dann ehrlich. So wie er sich benahm, bezweifelte Octavena, dass er tatsächlich groß Vergleichswerte dafür hatte, aber seine Worte klangen aufrichtig und sie war sowohl uneitel als auch sonst gefestigt genug, um sich nicht groß am möglichen Inhalt des Kompliments im Gegensatz zur Intention aufzuhängen. "Vielen Dank", erwiderte sie und lächelte dabei warm. "Mir gefällt es hier auch sehr gut."


    Die Frage danach, ob oder wie weit das Leben in der Villa sicher war, überraschte Octavena ehrlich, genauso wie Tariqs Erklärung, woher der Gedanke kam. Seit sie Kinder hatte - und besonders seit dem Tod ihres Mannes - machte sich zwar selbst oft eher zu viel Sorgen als zu wenig, aber Sicherheit war nie etwas gewesen, worüber sie sich Gedanken gemacht hatte. Nicht in Mogontiacum und in Tarraco erst recht nicht. Die Bemerkung machte aber noch einmal deutlich, wie weit Tariqs bisheriges Leben von dem Moment hier und jetzt weg sein musste. Mogontiacum war eine römische Stadt, aber Octavena erinnerte sich selbst noch gut daran, wie fremd ihr Vieles in Germanien zu Beginn vorgekommen war. Und sie war damals zunächst einmal nur zu ihrem Onkel gezogen, was zwar neu, aber immerhin kein vollkommener Kulturschock gewesen war. "Oh, ja, wir haben Wachhunde." Octavena nickte langsam. "Zwei. Mein Mann hat die beiden vor Jahren angeschafft und abrichten lassen." Und jetzt hatte Ildrun - ganz zum Missfallen ihrer Mutter - aus unerfindlichen Gründen einen Narren an den beiden gefressen. Der Gedanke ließ einen kurzen Impuls der Sorge in Octavena aufsteigen, den sie allerdings eilig bei Seite schob. Das tat jetzt nichts zur Sache. "Vielleicht hast du die beiden gestern schon im Vorbeigehen gesehen. Die sollten eigentlich normalerweise vorne am Eingang unterwegs sein."


    Der Gedanke von vorhin, dass Tariq sich hier gerade vermutlich auf mehreren Ebenen auf unbekanntem Terrain bewegte, bestätigte sich kurz darauf noch einmal. Er sah sie mit einem so entgeisterten Blick an, als sie ihm sagte, dass er hier seine Wäsche auch mit der der anderen waschen lassen konnte, dass Octavena beinahe ein wenig amüsiert geschmunzelt hätte, sich den Ausdruck aber noch gerade so verkniff, um ihn nicht weiter zu verunsichern. Es war wirklich ... ungewohnt und vielleicht auch ein klein wenig unterhaltsam, einen Gast zu haben, dem es so vollkommen fremd zu sein schien, dass andere etwas für ihn taten. Octavena auf der anderen Seite kannte das kaum anders. Für sie war ihre Hochzeit mit Witjon durchaus ein Aufstieg gewesen - schließlich war er lange einer der einflussreichsten Männer der Stadt gewesen - aber auch davor hatte sie immer in einem Haushalt gelebt, in dem andere das meiste für sie taten. Und auch jetzt kümmerte Octavena sich zwar gerne persönlich darum, dass auch wirklich alles im Haus erledigt wurde und gut erledigt wurde, aber es gab einen Unterschied dazwischen, alle Aufgaben zu koordinieren, im Vergleich dazu, sie selbst zu erledigen.


    Trotzdem beschloss Octavena weiter, Tariqs Verlegenheit einfach zu übergehen. "Das habe ich mir schon gedacht", erwiderte sie gelassen. "Aber keine Sorge, wir haben hier ein großes Haus, da fällt so viel an, dass ein bisschen mehr oder weniger Arbeit kaum ins Gewicht fällt." Octavenas Blick glitt zurück zum Essen zwischen ihnen. Kurz überlegte sie, ihn zu fragen, ob er genug hatte, schon allein weil sie früher oder später wohl besser doch noch einmal draußen nach ihren Kindern schauen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie wollte Tariq nicht hetzen und Ildrun und Farold würden noch etwas warten können. Zumal es sowieso sein konnte, dass die beiden längst irgendeinem der anderen Erwachsenen in die Arme gelaufen waren und damit die Diskussion mit dem Mantel ohne Octavenas Zutun längst durch war. "Hast du schon Pläne für den Rest des Tages?"

    Octavena blinzelte ein paar Mal überrascht und schüttelte dann kaum merklich den Kopf, als Hadamar ihr dankte, auch wenn es noch so beiläufig war. "Ich habe dasselbe wie immer getan und vom Rest hat Dagmar einiges aufgefangen", sagte sie, lächelte aber trotzdem. Ganz davon zu schweigen, dass es gerade in den ersten Wochen nach Witjons Tod sowieso leichter gewesen war, in Bewegung zu bleiben. Etwas zu tun zu haben. Vielleicht war das ein Fehler gewesen, aber ändern ließ es sich jetzt auch nicht mehr, also war es müßig, darüber nachzugrübeln. Sie hatte in den letzten Monaten genug gegrübelt und tat es noch, ob es ihr gefiel oder nicht. Und tatsächlich gefiel ihr das eigentlich nicht, auch wenn sie da nicht aus ihrer Haut konnte.


    Das war auch einer der Gründe, warum sie ganz froh darüber war, als Hadamar kurz darauf ihr den Gefallen tat, auf ihren Witzversuch einzusteigen. Das war jedenfalls besser als Blicke wie der, den er ihr kurz davor zugeworfen hatte. Die Art Blick, den sie zwar meistens ignorierte, bei dem sie sich aber trotzdem immer etwas hilflos vorkam. "Könnte man inzwischen glatt vergessen." Octavena lachte leise und verstellte sich dafür nicht einmal, wäre aber bei seinen nächsten Worten - und dem sanften Tonfall, den sie begleiteten - trotzdem beinahe zusammengezuckt. Sie musste verzweifelter wirken als ihr das lieb gewesen wäre, wenn er ihr so einen Rat gab, und ganz kurz ärgerte sie sich über sich selbst, weil ihr gerade mehr rausgerutscht war als geplant. Im Grunde hatte er aber ja recht: Vielleicht wäre es wirklich eine gute Idee, sich einen Rat von jemandem zu holen, die ihre Lage nachvollziehen konnte. Und wenn es nur als Versicherung war, dass sie übertrieb und sie Ildrun nur weiter Zeit lassen musste. Aber da war noch ein Gedanke, der bei seinen Worten ihr durch den Kopf ging. Er hatte jetzt zweimal kurz hintereinander erwähnt, selbst nicht einfach gewesen zu sein. Octavena mochte im Moment allgemein nicht ganz auf der Höhe und nicht so aufmerksam wie sonst sein - ganz davon zu schweigen, dass sie das Angebot als solches überrascht hatte - aber die Wiederholung ließ sie nun doch ein wenig aufhorchen. War er deshalb so deutlich darauf aus, ihr zu helfen? Wahrscheinlich, wenn man bedachte, dass er seinen eigenen Vater und dessen Tod schon erwähnt hatte, als er das Hilfsangebot überhaupt angesprochen hatte. Die Vermutung hätte jedenfalls das Angebot ein wenig über bloßen Familiensinn hinaus erklärt, auch wenn Octavena noch nicht genau wusste, was sie mit dieser Vermutung anstellen sollte. Oder ob irgendetwas davon überhaupt eine Rolle spielte. "Ich lasse mir die Idee durch den Kopf gehen", sagte sie also einfach und lächelte noch einmal etwas schief. "Zu versuchen, für renitente Kinder da zu sein, ist mir jedenfalls ziemlich vertraut. Und deine Mutter hat ohnehin meinen vollen Respekt, das mit fünf Kindern irgendwie geschafft zu haben. Mich halten meine beiden ja schon nur zu zweit auf Trab." Sie hielt noch einmal kurz inne, fuhr dann aber doch fort, weiter das leicht schiefe Lächeln auf den Lippen. "Aber danke. Für den Rat und das Angebot. Ich hatte eigentlich wirklich nicht vor, dir erstmal ein Ohr mit meinen Sorgen abzukauen. Besonders nicht heute." Oder an den meisten anderen Tagen. Ihre Kinder waren und blieben schließlich im Kern Octavenas Verantwortung und ihr Problem. Die Art Problem, bei dem es ihr immer widerstrebte, es anderen aufzubürden.

    Während Hadamar davon sprach, dass er einfach mal versuchen wollte, mit Farold die Gegend zu erkunden und Ildrun wenigstens zu fragen, ob sie doch mitkommen wollte, konnte Octavena nicht ganz umhin, kurz noch einmal etwas von der Dankbarkeit von eben in sich aufsteigen zu spüren. Wahrscheinlich war ja tatsächlich nichts dabei, gerade um Farolds Neugier würde er sowieso nicht herumkommen und vermutlich würde das nicht nennenswert etwas an der Situation als Ganzes ändern, aber Octavena rechnete ihm schon die Geste hoch an. Gerade weil Hadamar sich leichter als der Rest der Familie, die Octavenas Kinder ständig direkt vor der Nase hatten, einfach hätte wegducken können und Octavena ihm das auch nicht einmal übel genommen hätte. Gleichzeitig fühlte sie sich bei seinen Worten aber auch ein wenig ertappt, weil er mit seiner Antwort sie und Ildrun in einem Atemzug genannt hatte. Benahm sie sich am Ende gerade doch nicht viel anders als ihre Tochter? Ildrun hatte seit Witjons Tod besonders gegenüber ihrer Mutter komplett dicht gemacht, weil sie wahrscheinlich nicht wusste, wie sie sonst mit der Situation umgehen sollte. Und sie selbst … Octavena hatte definitiv nicht so um sich geschlagen, wie ihre Tochter, aus diesem Alter war sie zum Glück lange raus, aber jemanden richtig an sich heran gelassen hatte sie auch nicht. Sie war sich nicht sicher, ob Hadamar das durchschaut hatte oder die Formulierung Zufall gewesen war, aber in diesem Moment fühlte Octavena sich doch kurz … erwischt. Das war ungewohnt und vor allem etwas, das sie gerade nicht gebrauchen konnte. Dieses gesamte Gespräch hatte gerade sowieso schon eine andere Wendung genommen als sie erwartet hatte, das reichte ihr eigentlich schon. Besonders an einem Abend wie diesem, der sowieso wenigstens das Potential hatte, komplizierte Gefühle in ihr zu wecken.


    Also schob sie den Gedanken eilig bei Seite und lachte stattdessen leise auf. "Ach, es ist zum Glück ja auch nicht so als ob wir hier im Chaos versinken würden - auch wenn das bei meinem Gejammer vielleicht so klingt", wiegelte sie ab, während sie noch diese kurz auflodernde Unsicherheit wieder niederkämpfte, spiegelte aber trotzdem Hadamars Grinsen mit einem kleinen Lächeln. "Farold freut sich garantiert, wenn du Zeit mit ihm verbringst und dir die Gegend mit ihm ansiehst. Ildrun gefällt die Idee bestimmt auch, du müsstest sie nur dazu bekommen, das zuzugeben." Sie hob etwas hilflos die Schultern. Wenn sie ehrlich war, dann war Octavena selbst sehr müde, wenn es um die Konflikte mit ihrer Tochter ging. Ildrun ließ sie seit Monaten gegen Wände rennen und tat umgekehrt ihrerseits viel, womit sie ihre Mutter fast in den Wahnsinn trieb. Als ob nicht so schon alles schwierig genug gewesen wäre. "Ich kann dir nur leider auch keinen sinnvollen Rat geben, wie du das am schlausten anstellst. Du stehst für sie aber wahrscheinlich immerhin nicht so unter dem Verdacht, dass ich dich auf sie angesetzt haben könnte. Vielleicht blockt sie deshalb nicht sofort ab." Ehe Octavena es verhindern konnte, rutschte ihr ein weiteres Seufzen raus, aber schon im nächsten Moment zwang sie sich wieder dazu, sich zusammenzureißen und wenigstens die Andeutung eines Lächelns aufzulegen. "Aber wie gesagt, wahrscheinlich jammere ich auch mehr als nötig wäre. Wenn du also Zeit für Ildrun und Farold findest, freut mich das, aber ich will dir auch nicht noch meine Probleme aufhalsen. Ich weiß, du hast auch so genug um die Ohren." Ihr Blick glitt einen Moment lang schweigend zurück zum Teich vor ihnen. So viel zu ihrem Plan, sich heute Abend ihre Sorgen einfach mal selbst zu verbieten. Zugegeben, das hatte schon vor diesem Gespräch nur begrenzt geklappt, aber jetzt hatte sie vor Hadamar einen guten Teil davon ausgebreitet, sehr viel mehr als sie von sich aus zugegeben hätte. Aber er hatte gefragt und Octavena hatte weder Lust noch Nerv gehabt, ihn rundheraus zu belügen. Auch wenn das bedeutete, dass sie damit gerade wohl erfolgreich die Stimmung gedrückt hatte. Mal wieder. Noch so etwas, das ihr an ihr selbst im Moment alles andere als gefiel, das sie aber nicht ganz abgeschüttelt bekam.

    Langsam wandte Octavena den Kopf. "Wie auch immer ...", sagte sie dabei und ihre Stimme nahm einen leicht witzelnden Unterton an, um die Stimmung wieder etwas zu lockern. "Willkommen zu Hause. Du merkst, Langeweile ist und bleibt uns hier vollkommen fremd."

    "Natürlich." Octavena hielt ihm die Wachstafel wieder hin. "Ich werde mich in der Zeit um alles Nötige von meiner Seite kümmern."


    Damit verabschiedete sie Selenus und ließ ihn wieder nach draußen führen. Ein paar Tage später kehrte er wie versprochen zurück, während Octavena ihrerseits, ebenfalls wie versprochen, schon den entsprechenden Vertrag vorbereitet bereithielt, um den Verkauf nun auch offiziell zu machen. Der Gedanke fühlte sich noch immer etwas merkwürdig an, weil sie noch immer einen Teil des Erbes ihres Mannes verkaufte, aber Octavena hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie verkaufte das Land genauso schnell, wie sie sich seiner Existenz überhaupt erst bewusst geworden war und war damit eigentlich mehr erleichtert, damit ein Problem weniger zu haben, über das sie sich würde Gedanken machen müssen. Ein weiterer Schritt, mit dem Octavena sich jetzt langsam, aber sicher ihr Leben zurückerobern wollte, war getan.

    Octavena nahm auch das zweite Schreiben entgegen und wie schon beim ersten nahm sie sich einen Moment, um das Siegel zu brechen und schließlich den Inhalt zu lesen. Als sie das tat, spürte sie, wie sie sich ein wenig entspannte. Der Preis, den der Senator vorschlug, war definitiv angemessen. Vielleicht hätte sie mit etwas Verhandlungsgeschick noch mehr herausschlagen können, aber die Summe entsprach dem, was das Land so weit sie in Erfahrung hatte bringen können, auch wert war, und sie hatte ohnehin wenig Lust, sich mit dieser Angelegenheit länger aufzuhalten als nötig. Der Vorschlag war fair und Octavena würde auf diesem Weg ein Problem von der Liste der Dinge, um die sie sich kümmern musste, streichen können. Und alles, was ihr im Moment ohne großen Aufwand Probleme abnahm statt neue zu verursachen, war Octavena eigentlich ganz recht.


    Sie sah wieder auf. "Die Summe ist in Ordnung für mich", sagte sie zu Selenus und nickte dabei langsam. "Für den Preis kann der Senator die drei Grundstücke gerne haben."

    Octavena nahm das Schreiben, das Selenus ihr gab, und nahm sich einen Moment Zeit, um nacheinander die Siegel am Ledereinband als auch an der Schriftrolle selbst kurz anzusehen und sie dann schließlich vorsichtig aufzubrechen, um schließlich den Brief selbst zu lesen.


    Viel zu früh verstorben. Wäre sie allein gewesen, hätte Octavena wahrscheinlich hörbar geseufzt bei dieser Formulierung. Sie bezweifelte, dass der Annaeus wusste, wie recht er damit hatte. Wahrscheinlich hatte er das nur als Höflichkeitsfloskel geschrieben, so wie man das eben tat, wenn man einer Fremden schrieb, deren Mann noch nicht einmal ein ganzes Jahr tot war. Noch eine der schier endlosen Beileidsbekundungen, die Octavena eigentlich schon länger nicht mehr hören konnte, weil sie das damit verbundene Mitleid für sie selbst kaum noch ertrug. Trotzdem lag in dieser Floskel im Speziellen viel Wahrheit. Aber das tat alles jetzt nichts zur Sache. Der Brief und vor allem das Siegel bestätigten, dass Selenus die Wahrheit sagte, und das war das Entscheidende daran, nicht Octavenas Frustration über ihre eigene Situation.


    "In Ordnung", sagte sie schließlich und blickte wieder von dem Schreiben auf. "Hier steht, du bist berechtigt, mit mir über den Kaufpreis zu verhandeln." Octavena senkte den Brief wieder und hob die Brauen. Ihr war durchaus aufgefallen, dass der Brief selbst keinen Preis nannte, sondern nur Selenus' Identität bestätigte, obwohl es natürlich ein Leichtes gewesen wäre, das bei dieser Gelegenheit zu erwähnen. Im Grunde kümmerte es sie nicht einmal, ob das Zufall oder Absicht war, aber sie bemerkte es trotzdem. Einen Moment überlegte sie, selbst eine Forderung zu formulieren, entschied sich dann aber dagegen. Sie wollte zuerst wissen, woran zu war, ehe sie ihre eigenen Karten auf den Tisch legte. "Welche Summe schwebt deinem Herrn denn für das Land vor?"

    "Salve." Octavena lächelte höflich, als sich die Tür öffnete und Selenus erschien. "Ich danke dir, dass du noch einmal hierhergekommen bist." Ilda, die ihn hereingeführt hatte, schloss die Tür hinter ihm wieder und Octavena ließ ihm währenddessen einen Moment, um sich richtig im Raum mit seinen vielen Verbindungen aus germanischen und römischen Elementen zu orientieren. Sie selbst stand dabei ein wenig entfernt nahe dem dem Raum seine Bezeichnung gebenden Kamin und hatte auch eigentlich vor, dort stehenzubleiben, wartete aber dennoch kurz ab, ob er nach dem Eintreten doch auf einem der Stühle Platz nehmen würde oder nicht.


    "Ich komme direkt zur Sache", sagte sie dann rundheraus und sparte somit sowohl sich selbst als auch ihm das höfliche Vorgeplänkel, für das sie schon allein deshalb ohnehin wenig Nerv hatte, weil die gesamte Angelegenheit noch immer mit ihrem Mann zu tun hatte. "Ich wäre bereit, die Ländereien in Italia zu verkaufen. Das Land hat einmal meinem Stiefsohn gehört, der bis zu seinem Tod in Rom gelebt hat, und ich habe im Gegensatz zu ihm von hier aus ohnehin keine Verwendung dafür. Wenn Annaeus Florus Minor dagegen Interesse daran hat, ist es mir nur recht, einen Abnehmer dafür gefunden zu haben." Ihr Blick fixierte Selenus für einen Moment. Sie wollte sich nicht über den Tisch ziehen lassen, nur weil sie in diesen geschäftlichen Dingen unerfahren war und sich deshalb in diesem Gespräch auch nicht direkt in ihrem Element fühlte. "Vorher möchte ich aber sichergehen, dass du beweisen kannst, dass du wirklich berechtigt bist, für den Senator zu sprechen und mir dementsprechend ein Angebot zu unterbreiten. Mir wäre es vielleicht recht, das Land zu verkaufen, aber es gibt für mich trotz allem keinen zwingenden Grund und ich will zuerst sichergehen, dass stimmt, was du mir erzählst." Das höfliche Lächeln von eben erschien wieder auf ihren Lippen und sie legte einen Moment lang erwartungsvoll den Kopf schief. "Ich nehme an, er hat dir irgendein Schreiben mitgegeben, das deine Geschichte bestätigt?"

    Nachdem ein paar Tage zuvor ein Fremder aus Rom in der Villa Duccia aufgetaucht war, um Octavena zu sprechen und sie darüber aufklären, dass es drei Grundstücke in Italia gab, die ihr als Teil von Witjons Erbe gehörten, mit denen es aber Probleme gab, hatte Octavena selbst sich zunächst einmal den Unterlagen ihres Mannes gewidmet. Die Ländereien hatten ihr in der Situation rein gar nichts gesagt, was aber auch nicht sonderlich überraschend war, wenn man bedachte, dass Octavena die letzten Monate weitgehend damit verbracht hatte, sich vor diesem Thema zu drücken. Sie fühlte sich auch jetzt noch immer leicht unwohl bei dem Gedanken, teils weil sie noch immer dabei war, mit der Hilfe des Rests der Familie alle Details dieses Erbes zu verstehen, teils, weil es eben um ihren Mann ging, der ihr noch immer fehlte. Sie tat sich zwar jeden Tag ein wenig leichter und die Zeiten, in denen man ihr deutlich anmerkte, wie sehr sie sein Verlust getroffen hatte, waren inzwischen vermutlich weitgehend vorbei, aber er war nun einmal trotzdem noch nicht einmal ein ganzes Jahr tot und Octavena spürte ganz genau, dass sie schlicht selbst auch noch nicht ganz darüber hinweg war.


    Trotzdem hatte sie sich zusammen gerissen und seine Unterlagen gewälzt, um Selenus' Angaben zu überprüfen. Was schonmal stimmte, war, dass Witjon tatsächlich Land besessen hatte, das direkt an das des Annaeus angrenzte, und es dauerte nicht lange bis Octavena auch ihre eigene Vermutung bestätigen konnte, dass der Grund für seine schlechte Pflege des Besitzes vermutlich nicht nur an ihrer eigenen Trauer lag. Scheinbar hatte Witjon seinerseits die drei Grundstücke von Audaod geerbt und damit war für Octavena der Fall sowieso klar gewesen. Sie hatte aus nächster Nähe miterlebt, wie hart ihren Mann der Tod seines Erstgeborenen getroffen hatte, und es hätte sie nicht gewundert, wenn er es selbst eine Weile aufgeschoben hatte, sich mit Audaods Besitz auseinander zu setzen. Er hatte ja nicht ahnen können, dass er sich nicht mehr selbst darum würde kümmern können und dass danach Octavena ihrerseits die Sache aus ähnlichen Gründen nur weiter verschleppen würde. Mit dieser Erkenntnis im Kopf hatte Octavena sich dann ein paar Tage Zeit genommen und überlegt, wie sie nun weitermachen sollte. Der Gedanke, Teile von Witjons Erbe zu verkaufen, widerstrebte ihr grundsätzlich, weil es in ihrem Kopf eben das war und blieb, sein Erbe. Etwas, das sie am ehesten für ihre gemeinsamen Kinder und natürlich ihren Sohn zu verwahren hatte. Gleichzeitig brachte es nichts, sich mehr schlecht als recht um irgendwelchen Streubesitz weit weg zu kümmern, der einmal Audaod, der ja im Gegensatz zu ihr immer vor Ort gewesen war, gehört hatte.


    Nach ein paar Tagen und ein paar eingeholten Meinungen aus der Familie aber hatte sie dann ihre Entscheidung getroffen: Sie würde das Land verkaufen. Jedenfalls sofern Selenus wirklich der war, für den er sich ausgab. Das war noch ein anderer Punkt, den sie vorher würde klären müssen. Aber dazu würde sie zunächst einmal mit ihm reden müssen. Also schickte sie ihm eine Nachricht, dass sie einen Verkauf in Erwägung ziehen würde, und gab dann in der Villa Anweisung, dass er, wenn er wieder hier auftauchte, direkt ins Kaminzimmer geführt werden sollte. Der Raum war repräsentativ genug für so ein Gespräch, auch wenn das Arbeitszimmer vermutlich die näherliegende Wahl gewesen wäre, aber Octavena hatte wenig Lust, dieses Gespräch an dem Ort in der Villa zu führen, den sie mit am meisten mit ihrem Mann verband. Abgesehen davon kam sie so Iring und Rhaban nicht in die Quere, die zwar sowieso von dem Gespräch wussten, bei denen Octavena aber trotzdem davon ausging, dass sie vermutlich auch so genug zu tun hatten. Also schickte sie die Nachricht, ließ Getränke in Kaminzimmer bringen und erwartete ihren Gast.

    Ein schmales Lächeln erschien auf Octavenas Lippen. So viel also zu der Nachricht aus purer Herzensgüte oder verwandtschaftlicher Sentimentalität. Nicht, dass sie es dem Senator übel genommen hätte, die Überlegung war ja nur logisch, aber damit klärte sich das Bild in Octavenas Kopf direkt ein Stück weiter. "Ah", sagte sie und wandte sich noch einmal Selenus zu, um ihn einen Moment lang prüfend anzusehen. Wenn stimmte, was er ihr erzählte, dann hätte Octavena wenig bis nichts dagegen gehabt, das Land zu verkaufen. Mit Ländereien in Italia konnte sie sehr wahrscheinlich ohnehin nichts anfangen und ihr Wert würde nur sinken, wenn sie sich nicht richtig darum kümmern konnte, weil sie nun einmal weit weg war und ganz andere Prioritäten hatte. Davon würden auch ihre Kinder, deren Erbe das alles in Octavenas Augen ja eigentlich war, nichts haben. "Du verstehst sicher, dass das keine Entscheidung ist, die ich hier und jetzt treffen kann", gab sie schließlich ruhig zurück. "Aber ich werde mir die Möglichkeit durch den Kopf gehen lassen."

    Octavena ließ Selenus in Ruhe ausreden und hörte sich einen Moment lang nur an, was er zu sagen hatte. Ein wenig amüsierte sie sich zwar darüber, dass er ihr extra noch einmal die Verbindung zwischen den beiden Familien erklärte, ließ sich aber davon nichts anmerken. Er konnte ja nicht wissen, dass Octavena nach wie vor mit Eldrids Geschwistern unter einem Dach lebte und schon allein deshalb sehr wohl wusste, dass sie einen Annaeus in Rom geheiratet hatte. Und zumindest die Verwandtschaftsverhältnisse auf annaeischer Seite sagten Octavena auch tatsächlich nichts. Aus der Formulierung mit der Tante zog sie aber zumindest einmal, dass der Senator ihrer Schwägerin wohl halbwegs nahe gestanden haben musste. Das machte es immer noch etwas überraschend, dass das für ihn genügte, um jemanden bis nach Mogontiacum zu schicken, nur um die Witwe eines Vetters dieser entfernt angeheirateten Tante zu kontaktieren, aber andererseits wusste Octavena nur zu gut, dass selbst entfernte Verwandtschaftsverhältnisse manchmal zu solchen Konstellationen führen konnten. Sie konnte das ja selbst ihrerseits nachfühlen, auch wenn das mehr an ihrer eigenen Biografie lag, die sie einmal quer durchs Reich und weit weg vom Großteil ihrer eigenen Familie geführt hatte, die sie seitdem ja auch nicht wiedergesehen hatte.


    Die Ländereien dagegen sagten Octavena noch immer nicht nennenswert etwas, was aber natürlich nur zu dem passte, was Selenus beschrieb. Octavena hatte es sowieso lange - zu lange - vermieden, sich überhaupt näher mit dem Erbe ihres Mannes auseinander zu setzen, da überraschte es sie nicht wirklich, dass es noch immer Teile davon gab, die sie nicht richtig überblickte. Was aber nach wie vor keinen Sinn ergab, war die schlechte Pflege, von der Selenus hier durch die Blume sprach. Witjon hatte sich immer gut um seinen Besitz gekümmert, das war überhaupt erst ein Grund gewesen, warum Octavena sich verhältnismäßig konsequenzenlos vor dem Thema hatte drücken können. Auch auf das Land in Italia konnte sie sich noch nicht ganz einen Reim machen. Soweit Octavena wusste hatte Witjon doch immer vor allem Geschäfte in Germanien gemacht. In Rom und Italia waren andere ... Und damit dämmerte es ihr. Audaod. Natürlich. Der Teil von Witjons Unterlagen, den Octavena bisher nicht einmal oberflächlich angesehen hatte, weil darin ohnehin einiges wild durcheinander zu gehen schien - was auch nicht überraschend war, wenn man bedachte, dass Witjon den Tod seines ältesten Sohns nicht gut weggesteckt hatte. Und nachdem Octavena ihrerseits auf eine ähnliche Weise monatelang um die Unterlagen ihres Mannes herumgeschlichen war, hatte dieser Teil nun auch auf ihrer Prioritätenliste ziemlich weit unten gestanden. Vorausgesetzt, ihre Vermutung stimmte. Aber das würde sie alles in Ruhe klären müssen.


    "Ich danke dir dafür, dass du den weiten Weg hierher gemacht hast, um mir Bescheid zu geben", erwiderte sie also, als Selenus geendet hatte, und lächelte freundlich. "Und richte auch dem Senator meinen ehrlichen Dank aus, es ehrt ihn, dass er sich diese Mühe gemacht hat. Mir war nicht klar, dass die Verwalter dort Probleme haben und mich nicht erreichen konnten. Italia ist von hier aus nun einmal weit weg und manchmal ist es doch nicht ganz einfach, Nachrichten hin und her zu schicken." Sie wandte sich in der Annahme, dass die Sache damit erledigt war, wieder der Tür zu. "Ich werde einen Blick in meine Unterlagen werfen und mich dann darum kümmern."

    Ganz kurz runzelte Octavena die Stirn. Es ging um Land, das an das dieses Senators angrenzte? Und die Verwalter dort hatten den Annaeus um Hilfe gebeten? Das passte alles irgendwie nicht so richtig zusammen. Sie war zwar nach wie vor dabei, sich einen detaillierten Überblick über das Erbe ihres Mannes zu verschaffen, aber diese Stichwörter sagten ihr so gar nichts. Meinte der Fremde etwa Land in Italia? Bei Witjons Besitz hier in Germanien hatte Octavena jedenfalls inzwischen das Gefühl, halbwegs durchzublicken, und da hätte ohnehin kein Verwalter jemals ernsthafte Probleme gehabt, sie zu kontaktieren, nicht einmal in den besonders schweren ersten Monaten nach dem Tod ihres Mannes. Das ergab alles so keinen Sinn.


    Aber ganz egal, worum genau es ging, sie brauchte zuerst ein paar genauere Informationen, um die Angelegenheit überhaupt auch nur ansatzweise einordnen zu können. Also öffnete sie die Tür vollends und trat dann einen Schritt zur Seite, um Selenus zumindest einmal in die große Halle dahinter eintreten zu lassen. "Nein, ich habe jetzt zumindest einen Moment", sagte sie dabei, wobei sie sich immer noch nicht sicher war, was das alles zu bedeuten hatte, und deshalb ihre Antwort mit Bedacht formulierte. Wahrscheinlich hätte sie auch länger als einen Moment Zeit gehabt, aber damit hielt sie sich für alle Fälle die Option offen, zuerst einmal zu erfragen, worum es denn genau ging, und den Fremden im Zweifelsfall erst einmal wieder wegzuschicken, wenn sie auch dann noch nichts mit seinen Beschreibungen anfangen konnte und erst einmal selbst einen Blick in Witjons Unterlagen werfen musste. "Um welche Ländereien geht es genau?", fragte sie, nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte und beobachtete Selenus dabei mit einer gewissen vorsichtigen Neugier. "Und warum schickt dich ein Senator aus Rom deshalb bis nach Mogontiacum, nur um mich zu sprechen?"

    Octavena hob nun doch überrascht die Brauen, als sie das hörte. Was konnte ein Senator in Rom von ihr nur wollen? Noch dazu einer, von dem sie sich nicht einmal entfernt erinnern konnte, jemals auch nur ums Eck mit ihm zu tun gehabt zu haben.


    "Nun, du hast mich gefunden", erwiderte sie an Selenus gewandt und legte erwartungsvoll den Kopf schief. Bei der Vorstellung ging sie ganz automatisch davon aus, dass sie schlicht einen Boten vor sich hatte, der vermutlich auch gleich wieder würde verschwinden wollen, sobald er seine Pflicht getan hatte. "Ich bin Petronia Octavena. Ich nehme an, du hast eine Nachricht für mich?"

    Nachdem in letzter Zeit Ilda auffällig oft das Pech gehabt hatte, sich gerade in der Nähe des Eingangs der Villa aufzuhalten, wenn jemand klopfte, war es dieses Mal Octavena selbst, die an der Tür erschien. Eigentlich war sie selbst auf der Suche nach ihrer ewig mürrischen Tochter auf dem Weg nach draußen und dementsprechend eher mittelmäßig gelaunt. Ildrun hatte sich den ganzen Tag schon wieder irgendwo verkrochen, nachdem sie am Morgen kurz aneinander geraten waren, und langsam hatte Octavena mal wieder genug von diesem Theater. Ganz im Allgemeinen, aber auch heute im Speziellen. Sie war aber noch nicht einmal an der Schwelle nach draußen, da hörte sie das Klopfen und hielt überrascht inne. Kurz fragte sie sich, ob sie vergessen hatte, dass irgendwer heute einen Besucher erwartete, konnte sich aber an niemanden erinnern. Das bedeutete, dass sie entweder langsam vergesslicher wurde oder dass es jemand sein musste, der unangemeldet vorbeikam. In jedem Fall stand sie jetzt ohnehin schon vor der Tür, da konnte sie auch aufmachen, obwohl sie das sonst wohl eher irgendwem von den Angestellten überlassen hätte.


    "Salve", grüßte sie und achtete darauf, sich von ihrer eigenen Laune nichts anmerken zu lassen und stattdessen dem Fremden, der da vor ihr stand, mit einer ruhigen Höflichkeit zu begegnen. "Kann ich dir helfen?"

    Octavena wusste zwar nicht, ob sie wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte oder sich nur in die nächste Sache stürzte, durch die sie sich durchimprovisieren würde, aber als Iring Farold und seine ewige Fragerei erwähnte, lachte sie trotzdem. "Immerhin etwas."


    Ihr Dank dagegen überraschte ihn offensichtlich, Octavena nahm das aber nur stumm hin und erwiderte nichts darauf. Es war ihr wichtig gewesen, das wenigstens auszusprechen, aber sie wusste auch, dass Iring und die anderen in der Regel nicht verstehen konnten, warum diese Art Hilfe für sie eben nicht so selbstverständlich war, wie er es darstellte. Oder warum es ihr schlicht leichter fiel, wenn andere sich auf sie verließen, als umgekehrt. Stattdessen nickte Octavena einfach zu dem Vorschlag, sich die Unterlagen gemeinsam anzusehen. "Gerne", erwiderte sie und kurz schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es wahrscheinlich gut war, dass es die Zeit gedauert hatte, die es gedauert hatte, bis Iring dieses Gespräch mit ihr gesucht hatte. Gerade das Arbeitszimmer war ein Raum, den Octavena doch noch immer stark mit Witjon verband und vor dem sie sich vor ein paar Monaten noch deutlich mehr gescheut hätte als jetzt. Überhaupt hätte es dann sein können, dass dieses gesamte Gespräch anders gelaufen wäre. "Wenn du mir zeigen kannst, wo ich anfangen sollte, wäre das sicher gut. Dann kann ich von da aus weiter sehen."


    Beim nächsten Thema entspannte Octavena sich wieder vollkommen und lehnte sich ein wenig in ihrem Sessel zurück, während Iring redete. Tatsächlich überraschte sie das, was er ihr erzählte, nicht einmal vollkommen. Sie hatte gewusst, dass in den letzten Jahren viele Fäden bei Witjon zusammen gelaufen waren. Das Ausmaß, das Iring jetzt beschrieb, überstieg zwar das, womit Octavena gerechnet hatte, aber im Kern ergab selbst das Sinn. "Dagmar hat so etwas Ähnliches schonmal erwähnt", antwortete sie also, als er geendet hatte, und nickte knapp. "Ich wusste zwar nicht, um wie viel Witjon sich da tatsächlich gekümmert hat, und dachte sowieso, dass er weitgehend wirklich nur als Verwalter eingetragen war, aber eigentlich wundert mich das alles auch nur begrenzt." Die Andeutung eines Lächelns zuckte um ihre Mundwinkel. "Es passt zu Witjon." Sie seufzte. Noch ein Punkt auf ihrer so plötzlich wachsenden Liste von Dingen, mit denen sie sich auseinandersetzen musste, ohne ernsthaft eine Ahnung davon zu haben. "Und natürlich habe ich nichts dagegen, den Besitz wieder aufzuteilen. Ich sehe mir das alles dann auch gerne selber im Detail an, wir können das aber auch gemeinsam durchgehen und du erklärst mir, was ihr da wo von mir braucht." Octavena hob fragend die Brauen und lächelte nun doch ein wenig schief. "Ich vermute mal, du hast ohnehin schon irgendeine grobe Idee, was die Aufteilung anbelangt?" Das war nur geraten, aber es war offensichtlich, dass Iring nicht nur mit Geduld, sondern auch mit einem klaren Plan, worüber er mit ihr reden wollte, zu ihr gekommen war. Er hatte dieses Gespräch vorab offenbar gut durchdacht, das musste Octavena ihm lassen. Und nachdem es hier zumindest seiner Beschreibung nach wohl nicht nur um Besitz ging, dessen Eigentümer sich einfach wieder selbst darum kümmern konnten, hätte es sie eigentlich mehr gewundert, wenn er ausgerechnet dieses Thema davon ausgeklammert hätte.

    Bei der Erwähnung von Rhaban und Dagny drehte Octavena den Kopf und das Lächeln auf ihren Lippen wurde kurz zu einem schiefen Grinsen. "Es kann sein, dass es da eine Verbindung gibt", gab sie amüsiert zurück. "Farold guckt sich die meisten seiner Tricks bei anderen ab, meistens bei Ildrun. Aber ihre Unschuldsmiene war trotzdem noch nie so gut wie seine." Damit kam sie zu Ildrun und weil das kein unkompliziertes Thema war, beeilte sich Octavena, den Bogen zurück zu ihrem Sohn zu schlagen, der meistens unverfänglicheren Gesprächsstoff lieferte als seine Schwester.


    "Dachte ich mir", erwiderte Octavena und lachte leise, als Hadamar meinte, dass er mit Farolds Neugier schon klarkommen würde. Das stimmte ja auch, sie hatte sich eigentlich nicht ernsthaft Gedanken gemacht, dass er etwas dagegen haben würde, wenn Farold ihn ein wenig mit seinen Fragen löcherte. Die gesamte Familie war da inzwischen abgehärtet, ob sie es wollten oder nicht. Es war nur einfacher, über Farold zu reden, als ihre Sorge um Ildrun laut auszusprechen. Aber gerade, weil Octavena eigentlich vorgehabt hatte, damit dem Thema ganz auszuweichen, traf sie das, was Hadamar als Nächstes sagte, vollkommen unvorbereitet.

    Hilfe. Das Angebot rührte sie, mehr als sie erwartet oder gar zugegeben hätte. Nicht nur, weil es ihren Kindern galt, sondern auch ihr persönlich, was wie immer etwas war, das Octavena ein wenig überforderte, weil sie das selbst weder beansprucht noch eingefordert hätte. Natürlich, sie hatte nicht erst gestern bei den Ducciern eingeheiratet und sie wusste, dass Witjons weit verzweigte Familie in der Regel füreinander da war - sie hatte ja selbst inzwischen auch dazu beigetragen, dass das so war - aber ihr erster Impuls blieb nach wie vor, sich selbst um ihre Probleme zu kümmern und sie gerade nicht den anderen einfach so aufzubürden. Selbst jetzt, nach dem Jahr, das sie hinter sich hatten und dessen Gewicht sie mit einem Mal wieder überdeutlich auf ihren Schultern spüren konnte. Nach Witjons Tod hatte Octavena einfach stur weiter gemacht, so weit sie es gekonnt hatte, und sich so halbwegs um Normalität bemüht. Was wäre ihr auch anderes übrig geblieben? Ihre Kinder so im Stich lassen, wie ihr eigener Vater sie nach dem Tod ihrer Mutter im Stich gelassen hatte? Vom Rest der Familie, die Octavena auch nicht gleichgültig waren, ganz zu schweigen. Nein, das wäre nicht infrage gekommen. Und Octavena hatte sich ja auch selbst im Griff, jedenfalls meistens. Sie hatte ihren Mann verloren, ja, und das tat weh und hatte einen Haufen Probleme in ihrem Leben erzeugt, aber sie wusste auch, dass sie sich davon früher oder später erholen würde. Schritt für Schritt, ein Problem nach dem anderen. Und trotzdem: Genau das hatte auch an ihren Kräften gezehrt, was sie jetzt so klar und deutlich spürte wie selten, auch wenn es nur für einen kurzen Augenblick war.


    "Danke", erwiderte Octavena schließlich, während sie noch dabei war, ihre eigenen Gedanken für ihre Antwort zu sortieren. "Das ist … sehr nett von dir." Sie warf ihm ein ehrlich dankbares Lächeln zu. "Und du drängst dich nicht auf. Ich freue mich wirklich, wenn du helfen willst." Kurz zögerte sie erneut, mit einem Mal unsicher, was denn tatsächlich Dinge wären, die Hadamar tun konnte. Farold war einfach, aber der bereitete Octavena zwar viele Kopfschmerzen, dafür aber wenig Sorgen. Und Ildrun dagegen war so kompliziert, dass Octavena selbst nicht mehr so richtig wusste, wo sie bei ihr ansetzen sollte. "Wahrscheinlich hilft es wirklich einfach schon, wenn du dich von Farold überfallen lässt. Wie gesagt, er ist neugierig und ab und zu etwas überschwänglich, aber er hängt sehr an der Familie und es tut ihm immer gut, wenn er jemanden findet, dem er ein bisschen mit seinen Fragen auf die Nerven gehen kann." Das war nichts Neues, aber das machte es nicht weniger wahr. Vielleicht hatte er auch deshalb die letzten Monate besser weggesteckt als seine Schwester. Weil er sich, während Ildrun sich eingeigelt hatte, nur noch mehr auf sein Umfeld eingelassen hatte. "Wenn du willst, kannst du auch versuchen, auf Ildrun zuzugehen", fuhr Octavena dann langsam fort und ihr Tonfall wurde vorsichtiger. Das war der Teil, bei dem sie verhindern wollte, dass Hadamar sich verpflichtet fühlte, eine vertrackte Situation zu lösen, die vielleicht so im Moment nicht lösbar war. "Aber wunder dich nicht, wenn du sie nicht geknackt bekommst. In letzter Zeit schafft das niemand, wenn du dir also auch die Zähne ausbeißt, wäre das nicht überraschend. Wie gesagt, sie kann sehr stur sein." Ein müdes Lächeln huschte über ihre Züge. Eigentlich war Octavena ja sehr stolz auf ihre Tochter, die ihr in manchen Dingen so ähnlich sein konnte. Nur im Moment machte ihr das auch ein wenig Angst. Gerade weil sie wusste, wie sehr Ildrun sich selbst würde schaden können, wenn sie weiter so um sich schlug, wie sie es tat, und weil Octavena einmal selbst so gewesen war - was wiederum nicht besonders gut geendet hatte. "Und was mich angeht …" Das Lächeln auf ihren Lippen verlor seine Müdigkeit und nahm stattdessen einen selbstironischen Zug an. Eigentlich redeten sie hier ja gerade über genug Dinge, die Octavena durchaus belasteten und die sie deshalb selten so offen aussprach wie jetzt, trotzdem fand sie dann doch wieder ein bisschen von ihrem Humor und der guten Laune wieder, mit der sie sich auf den Abend gefreut hatte. "Ich bin zäher, als ich aussehe, keine Sorge. Ihren Dickschädel hat Ildrun von mir und ich bin wahrscheinlich selber einfach zu stur, um mich nicht früher oder später wieder richtig zu fangen. Im Moment will ich einfach sichergehen, dass es meinen Kindern gutgeht, und der Rest fügt sich dann schon noch."

    "Ja, aber das ist inzwischen schon eine ganze Weile her", gab Octavena zurück, die merkte, wie Tariq bei der Erwähnung des alten Hauses hellhörig wurde. "Ich weiß noch, wie wir von dem Geruch von Rauch geweckt wurden und dann nur so schnell es ging alle nach draußen gelaufen sind." Genau genommen stimmte das nicht ganz. Octavena jedenfalls war eigentlich von einem schrillen Schrei geweckt worden, der Geruch von Rauch war ihr erst später in die Nase gestiegen, aber damit hätte sie den Schrecken dieser Nacht in ihrer Zusammenfassung unnötig überdeutlich heraufbeschworen. "Zum Glück wurde niemand verletzt." Wenigstens äußerlich. Gerade für die Familie war diese Nacht natürlich trotzdem schrecklich gewesen und selbst Octavena, die im Verhältnis kaum Bezug zu diesem Haus gehabt hatte, weil sie und Witjon damals noch nicht lange verheiratet gewesen waren, hatte diese Nacht nicht kaltgelassen. Für die anderen, für die dieses Haus tatsächlich ein richtiges Zuhause gewesen war, war das Feuer natürlich deutlich schlimmer gewesen. Das hatte Octavena selbst noch bei ihrem Mann gespürt. In ihrer Erinnerung hatte Witjon zwar einerseits mehr oder weniger sofort angefangen, die Löscharbeiten und die Unterbringung der jetzt obdachlosen Familienmitglieder zu koordinieren, aber später, als er irgendwann im Haus ihres Onkels dann zu ihr ins Bett gekommen war, hatte er sie trotzdem so eng an sich gezogen wie selten. "Das Haus war aber trotzdem Schutt und Asche und statt es wieder aufzubauen sind wir direkt hier raus gezogen."


    Die Frage nach den Überfällen dagegen überraschte Octavena ein wenig. "Nein." Sie schüttelte den Kopf. "Es machen natürlich in der Stadt immer mal wieder Neuigkeiten von Überfällen in der Provinz die Runde, Soldaten reden schließlich genauso wie alle anderen, aber wir sind hier immer sicher gewesen. Dafür sind wir wohl wirklich noch immer zu nah an Mogontiacum dran." Tatsächlich hatte Octavena das auch immer für selbstverständlich genommen. Mogontiacum war sicher und das Umland ganz genauso. Natürlich, Gerüchte gab es immer und mal war da mehr dran und mal weniger, aber sie konnte sich nicht erinnern, sich deshalb je wirklich Sorgen gemacht zu haben. Ihr war das immer endlos weit weg vorgekommen. Oder wenigstens weit genug weg, als dass sie nie intensiver darüber nachgedacht hatte.


    "Ah, ja, der Stammbaum ist beeindruckend, wenn man ihn das erste Mal sieht." Octavena schmunzelte ein wenig, teils weil Farold ausgerechnet diesen Teil des Hauses Tariq gezeigt hatte, teils weil es sie ein wenig amüsierte, wie Tariq das Essen vor sich in sich hinein schaufelte. Sie mochte ihn bisher, hatte sich aber auch noch nicht vollständig einen Reim auf ihn oder darauf gemacht, wie er bei Hadamars überraschender Rückkehr ins Bild passte. Tariq war merklich darum bemüht, höflich zu sein - das war Octavena am Tag zuvor schon aufgefallen, als er sich beeilt hatte, zu betonen, dass sie nicht alt aussah - aber er schien ihr dabei auch etwas unsicher, so als versuchte er sich an Regeln zu erinnern, die ihm eigentlich nicht lagen. Und die Art, wie er sich das Essen hineinschaufelte, bestätigte nur weiter ihre Vermutung, dass Hadamar Tariq aus Verhältnissen aufgelesen haben musste, in denen wahrscheinlich regelmäßige Mahlzeiten nicht selbstverständlich gewesen waren. Das hätte auch erklärt, warum Tariq Hadamar bis nach Germanien gefolgt war. Genauso wie es Octavena darin bestätigte, diese Vermutungen weiterhin geflissentlich für sich zu behalten und nicht weiter nachzubohren, nur weil sie neugierig war. Danach würde sie eher ihren Schwager bei Gelegenheit fragen, ehe sie Tariq, der sich so offensichtlich Mühe gab, von Hadamars Familie gemocht zu werden, mit einer zu direkten Frage verschreckte.


    Deshalb beließ sie es auch bei diesem Gedanken und amüsierte sich stattdessen darüber, dass Farold scheinbar direkt versucht hatte, Tariq zum Spielen nach draußen zu locken. "Ist es", erwiderte sie bestätigend, als Tariq das weitläufige Gelände ums Haus erwähnte, und lachte schon im nächsten Moment leise auf. "Mit Farold da verstecken zu spielen, kannst du aber nur verlieren. Der kennt jedes Versteck in- und auswendig und ich habe selber oft genug meine Probleme, ihn oder seine Schwester zu finden, wenn sich einer der beiden irgendwo draußen verkrochen hat. Da versucht er, auszunutzen, dass er weiß, dass er sich hier besser auskennt als du." Die Bemerkung über den Fluss dagegen bestätigte Octavenas vage Vermutung von eben, dass Tariq es gewöhnt war, sich mehr oder weniger allein um sich selbst zu kümmern. Sie lächelte freundlich. "Und ja, der Fluss gehört auch zum Gelände, aber du kannst deine Sachen auch einfach Ilda geben." Octavena warf einen beiläufigen Blick über ihre Schulter, aber Ilda hatte sich nach der Standpauke schon wieder verzogen. "Oder du lässt sie einfach in deinem Zimmer liegen und ich gebe Ilda Bescheid, dass sie deine Sachen mitnehmen soll, wenn sie sich ohnehin um die Wäsche kümmert." Sie wandte sich wieder Tariq zu. Ein wenig hatte sie ja das Gefühl, ihm die Gastfreundschaft anbieten zu müssen, die wahrscheinlich die meisten anderen Gäste, die sie sonst so hätten haben können, für selbstverständlich genommen hätten. Nicht dass sie das gestört hätte - sie gab gerne die Gastgeberin und kümmerte sich als solche auch gerne um ihre Gäste - eher rührte es Octavena etwas, weil sie das umgekehrt selbst nicht erwartet hätte. "Allgemein kannst du gerne einfach fragen, wenn du etwas brauchst." Sie hielt ihren Tonfall locker, um sicherzugehen, dass sie ihm auch mit ihrem nächsten Satz nicht das Gefühl gab, beleidigt zu sein, sondern ihre Worte, wenn überhaupt, ein wenig selbstironisch meinte. "Wie gesagt, du bist unser Gast und ich würde hier einen schlechten Haushalt führen, wenn wir uns nicht gut um unsere Gäste kümmern würden."

    "Ach, du bist unser Gast und du hast gestern wirklich sehr müde gewirkt", gab Octavena entspannt zurück und zuckte mit den Achseln. Sie war sich am Tag zuvor nicht einmal sicher gewesen, wie viel er vor Müdigkeit noch mitbekommen hatte, als sie ihm das Gästezimmer gezeigt hatte. Schon allein deshalb hatte sie auch Farold am nächsten Morgen prophylaktisch abgefangen, damit er Tariq schlafen ließ. "Was nach so einer langen Reise auch kein Wunder ist. Und ihr müsst ja recht unvermittelt aufgebrochen sein, wenn Hadamar nicht einmal mehr eine Nachricht schicken konnte, dass er wieder nach Mogontiacum versetzt worden ist."


    Tariqs Bemerkung über das Haus ließ Octavena dagegen kurz innehalten. "Ja, das ist es wirklich." Lächelnd ließ sie ihren Blick über ihre Umgebung gleiten. Manchmal, irgendwo zwischen Alltagstrott und den großen und kleinen Sorgen darüber hinaus, vergaß sie selbst ein bisschen, wie schön sie es eigentlich hier hatten. Wie so vieles in ihrem Leben war auch das nichts gewesen, was Octavena für sich vorhergesehen hätte, aber über die Jahre war eben dieses Haus schlicht auch ihr Zuhause geworden. "Mein Mann hat die Villa hier draußen vor Jahren bauen lassen, nachdem das alte Haus der Familie in der Stadt abgebrannt ist", erklärte sie und wandte sich wieder zu Tariq um. "Das Anwesen hier ist im Vergleich abgelegener, aber inzwischen mag ich die Ruhe, die man hier draußen hat, auch sehr." Sie grinste ein wenig, während sie weiterging. "Na ja, so ruhig es hier jedenfalls wird, mit Kindern im Haus."


    Sie erreichten die Küche und Octavena grüßte wie immer kurz Marga, die sich aber, ebenfalls wie immer, weder von Octavenas Anwesenheit noch von dem Gast, den sie im Schlepptau hatte, groß aus dem Konzept bringen ließ, sondern mit Ilda beschäftigt war, die offensichtlich irgendetwas falsch gemacht hatte. Octavena nahm das beiläufig zur Kenntnis, entschied sich aber dagegen, sich einzumischen, einerseits weil es so gut wie immer unklug war, Marga in so einer Situation unnötig in die Quere zu kommen, und andererseits weil sie vermutlich ohnehin recht hatte. Und wenn es doch um irgendetwas Gravierendes oder etwas ging, das Octavena auch zu beschäftigen hatte, dann würde Marga sie das ohnehin noch früh genug wissen lassen. Also ließ Octavena sich stattdessen einfach am Tisch nieder, wo noch die Reste vom Frühstück bereitstanden. "Bedien dich", sagte sie zu Tariq und ließ ihm dann einen Moment Zeit, um sich ebenfalls zu setzen. Erst dann wurde ihr damit auch bewusst, dass sie noch gar nicht wusste, wie lange Farold Tariq durch die Villa geführt hatte, ohne dabei ausgerechnet an der Küche vorbeizukommen. "Wie viel vom Haus hat dir Farold eigentlich schon gezeigt?", fragte sie deshalb und nutzte die Gelegenheit, um den Bogen zurück zu ihrem Thema von gerade eben und dem Rest der Familie zu schlagen. "Wenn du Lust hast, solltest du dir übrigens bei dem guten Wetter später dann mal von einem der anderen ein bisschen was vom Gelände zeigen lassen, gerade draußen im Garten ist es bei gutem Wetter sehr schön. Meine Kinder machen das sicher, wenn du sie fragst, und sonst bekommst du bestimmt jemand vom Rest der Familie eingespannt."

    Während Tariq ausschlief, war Octavena am selben Morgen wieder einmal früh auf den Beinen gewesen. Eigentlich wäre das nicht zwingend nötig gewesen, denn jetzt, wo der Winter mehr und mehr über die Villa hereinbrach, verlief auch das Leben im Haus in ruhigeren Bahnen als noch im Sommer, aber Octavena fühlte sich in letzter Zeit selbst mehr und mehr rastlos und damit war von der Ruhe, die diese Jahreszeit sonst bringen konnte, bei ihr wenig zu spüren. Und Winter hin oder her: In einem großen Haus wie der Villa gab es auch mit zwei Hausherrinnen immer genug zu tun. Und wenn nicht, dann waren da immer noch Ildrun und Farold, die ihrerseits ihrer Mutter genug Gründe lieferten, wenig stillzustehen. In Farolds Fall war das heute die Ermahnung gewesen, den schlafenden Tariq nicht zu wecken, und in Ildruns Fall hatte es eine Diskussion darüber gegeben, dass zwar draußen die Sonne schien, sie das aber nicht davon befreite, einen Mantel anzuziehen. Octavena war sich fast sicher, dass ihre Tochter nur dagegen war, weil Octavena es gewesen war, die sie dazu aufgefordert hatte, den Mantel anzuziehen, aber am Ende waren die beiden eben doch wieder aneinander geraten, ehe Ildrun schlecht gelaunt von dannen gezogen war. Eigentlich hatte Octavena angenommen, dass die Sache damit erledigt sein und Ildrun sich schon fügen würde, aber dann hatte sie den Mantel ihrer Tochter doch wieder achtlos auf dem Boden gefunden und damit war klar gewesen, dass die Diskussion von vorhin in Kürze in die zweite Runde gehen würde.


    Mit dem Mantel in der Hand war Octavena also gerade auf dem Weg nach draußen, um ihre Tochter zu suchen, als sie auf Tariq und Farold traf. "Salve, ihr beiden", grüßte sie und musste ein amüsiertes Grinsen unterdrücken, als Farold auf Tariqs Erklärung hin erst einmal verkündete, schon satt zu sein. Im Grunde grenzte es schon an ein kleines Wunder, dass er bei dem guten Wetter nicht längst nach draußen verschwunden war, um wahlweise mit seiner Schwester oder einem der Kinder der Hausangestellten über das Gelände zu toben. "Soso", sagte sie und legte kurz den Kopf schief. Vielleicht tat sich hier ja doch eine gute Gelegenheit auf, die Sache mit dem Mantel ihrer Tochter nicht einfach unter den Tisch fallen zu lassen, sich aber trotzdem nicht schon wieder mit Ildrun über irgendeine alltägliche Banalität zu streiten. "Na, wenn du schon satt bist, kannst du mir ja einen Gefallen tun." Sie hob die Hand, in der sie besagten Mantel hielt, und hielt das Kleidungsstück ihrem Sohn entgegen. "Bringst du Ildrun ihren Mantel nach draußen? Und sag ihr, ich will keine Widerrede hören. Es scheint vielleicht gerade die Sonne, aber ich will trotzdem nicht, dass einer von euch beiden krank wird."

    Farold legte seinen Kopf schief und sah skeptisch zu seiner Mutter auf. "Sie schmollt wieder, oder?", fragte er rundheraus und Octavena schnalzte tadelnd mit der Zunge.

    "Farold. Sei nett zu deiner Schwester. Verstanden?"

    Farold grinste breit, als er offenbar begriff, dass das kein Widerspruch zu seiner Vermutung gewesen war, und im nächsten Moment schnappte er sich den Mantel. "Ich such sie." Er winkte Tariq zu und ehe Octavena es sich versah, war er auch schon dabei, seinen Worten Taten folgen zu lassen und davon zu laufen.

    "Und du sollst dir auch etwas Warmes anziehen, wenn du raus gehst!"

    "Ja-haaa", schallte es zurück, während Farold schon um die nächste Ecke bog. "Weiß ich!"

    Kopfschüttelnd sah Octavena ihrem Sohn zuerst nach, wie er verschwand, ehe sie sich dann wieder Tariq zuwandte. "So viel dazu", sagte sie mit einem kleinen Lächeln. "Dann würde ich sagen, ich helfe dir stattdessen mal dabei, etwas zu essen zu bekommen." Sie nickte in die entgegen gesetzte Richtung zu der, in die gerade Farold davon gelaufen war. "Komm mit, ich zeige dir die Küche."

    Damit wandte sie sich schon direkt um und setzte sich in Bewegung, wobei sie sich mit einem Blick über die Schulter vergewisserte, ob Tariq ihr auch folgte. "Hast du gut geschlafen?", fragte sie ihn, während sie ihn durchs Haus in Richtung Küche führte. "Ich hoffe Farold hat dich nicht geweckt. Ich habe ihm vorhin schon das Versprechen abnehmen müssen, dass er dich in Ruhe ausschlafen lässt."

    Octavena sah dem Matinier ganz genau den Moment an, in dem ihm klar wurde, dass sie eine Witwe war, und in genau diesem Moment wurde sie auch wieder daran erinnert, warum es leichter gewesen war, einfach Dagny das Reden zu überlassen. Wieder dieser Blick, wieder Mitleid für sie, die arme Witwe, deren Leben so unvermittelt eine tragische Wendung genommen hatte. Wie immer sicher gut gemeint, aber nicht zum ersten Mal spürte Octavena, wie sich Widerwille in ihr gegen dieses Mitleid regte. Sie wollte nicht bemitleidet werden, erst recht nicht von Fremden. Doch das gehörte nicht hierher, also lächelte sie einfach wie immer darüber hinweg. "Danke", erwiderte sie und sah kurz zu Dagny hinüber, die einen Moment lang auf ihrer Unterlippe kaute, um ihr mit dem Lächeln zu signalisieren, dass alles in Ordnung war. Dagny konnte nichts für Octavenas Probleme und Octavena wollte ihr auch sicher nicht den Eindruck vermitteln, dass das anders wäre. Erst recht nicht heute. "Und ja, ich habe Kinder. Eine Tochter und einen Sohn. Die beiden laufen hier auch noch irgendwo durch die Gegend." Das Lächeln auf ihren Lippen wurde etwas breiter und ehe diese Information die nächste Ladung Mitleid provozieren konnte, schob sie direkt hinterher: "So ein Fest mit viel Familie ist natürlich das größte für sie." Sie nippte an ihrem Met. "Was macht deine Familie, Matinius?", fragte sie dann nun, wo sie sich schon ins Gespräch wieder eingeklinkt hatte und es damit wahrscheinlich merkwürdig gewesen wäre, wenn sie sofort wieder geschwiegen hätte. "Ich stamme ursprünglich auch aus Tarraco." Sie machte eine kleine, etwas abwiegelnde Bewegung mit einer Hand. "Obwohl das inzwischen eine ganze Weile her ist. Aber meine Familie lebt in weiten Teilen immer noch dort."


    Als Dagny über die Freya und die Pferde der Familie redete, hielt Octavena sich wieder zurück, teils weil sie sich mit einem Mal nicht danach fühlte, mehr Raum im Gespräch einzunehmen, und teils weil ihr auffiel, wie gut Dagny das eigentlich machte. Im Grunde war das nicht überraschend, wenn man bedachte, dass sie einerseits das Gestüt gut kannte und andererseits ja nun seit Monaten bei der Freya mithalf. Octavena merkte nur, dass sie bisher offenbar selbst zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war, um das so richtig zur Kenntnis zu nehmen. Was wiederum eigentlich nur wieder verdeutlichte, dass es ein Problem war, dass sie alle im Moment noch so in der Schwebe hingen. Früher oder später würde das nicht nur Octavena, Dagmar oder Dagnys Brüdern auffallen, sondern auch Fremden und spätestens dann würden sie darüber reden müssen, dass Dagny eigentlich genau im richtigen Alter war, um zu heiraten. Ein Mann, der nicht vollkommen auf den Kopf gefallen war, würde vielleicht auch dieses Talent, so beiläufig im Gespräch auch noch geschäftliche Verbindungen herzustellen, genau als solches erkennen. Aber für dieses Thema würden sie erst wieder jemanden brauchen, der auch in der Familie wirklich das Ruder übernahm. Ein Familienoberhaupt, das eben den Überblick über solche Dinge behielt und dann Entscheidungen traf, die sowohl für Einzelne als auch für die Familie als Ganzes gut sein würden. Noch so etwas, das nach wie vor nicht ganz so einfach war.