Beiträge von Petronia Octavena

    Octavena erwiderte Tariqs Grinsen mit einem kleinen Lächeln, in erster Linie, weil sie merkte, dass er gerade versuchte, nett zu sein, weil es so offensichtlich war, dass der Tod ihres Mannes noch immer kein ganz einfaches Thema für sie war. "Ich bin mir sicher, du wirst dich auch schnell genug daran gewöhnen. Und wenn nicht, kommt immer irgendwann der Frühling." So war es ja auch Octavena immer gegangen. Den halben Winter schimpfte sie über die Kälte und die Dunkelheit, aber umso schöner kam ihr dann jedes Jahr der Frühling vor.


    Mit Dagny und Iring kam auch Ilda mit Essen und Getränken zurück und damit kamen nun auch die Art von simplen, organisatorischen Fragen auf, die jetzt auch wieder Octavenas Neugier weckten. Ihr Blick glitt kurz suchend zu Dagmar, um sie nicht aus purer Gewohnheit zu übergehen, dann ergriff sie aber doch zuerst das Wort. "Natürlich, das mit dem Zimmer ist unsere leichteste Übung", erwiderte sie auf den Teil von Hadamars Bitte, der ganz eindeutig an sie und Dagmar gegangen war, und sah dann fragend zwischen Tariq und Hadamar hin und her, achtete aber darauf, nicht ablehnend oder missbilligend zu klingen, wenn sie im Grunde nur dabei war, die Puzzleteile dieser Überraschung in ihrem Kopf zusammenzusetzen. Bisher hatte es so gewirkt, als ob Tariq bleiben sollte, aber das Stichwort "Gästezimmer" klang nicht danach als ob die Villa gerade einen neuen Bewohner gewonnen hatte. "Wie haben denn bisher überhaupt eure Pläne ausgesehen? Soll Tariq länger hier bleiben?"

    Das Gefühl der Überforderung bei so vielen Menschen konnte Octavena wenigstens vage nachvollziehen. Oder wenigstens leuchtete es ihr ein, gerade vor dem Hintergrund, dass sie selbst, die sie vor ihrer Heirat nie viel Familie gehabt oder in einem wirklich großen Haushalt gelebt hatte, ein wenig gebraucht hatte, bis sie sich richtig an diese Feiern gewöhnt hatte. Auch wenn beides nicht ganz vergleichbar war, was ein Grund war, warum sie sich hütete, die Bemerkung mit mehr als einem langsamen Nicken zu kommentieren statt eine letztlich doch inhaltsleere Antwort zu geben, die am Ende nur einen wunden Punkt traf. Der andere Grund war der, den Hadamar im nächsten Moment auch schon selbst aussprach. Dass zwischen seinem Fortgang und seiner Rückkehr die Familie eben gleich mehrere ihrer Mitglieder verloren hatte. Für Octavena mochte Witjons Tod der sein, der am schwersten wog, aber sie war nicht naiv oder blind genug, um nicht zu sehen, dass sie definitiv nicht die Einzige war, die noch immer an ihrer Trauer zu knabbern hatte.


    Bei dem Kompliment über die Feier dagegen lachte Octavena dann leise. "Danke", erwiderte sie und nun zuckte doch ein ehrlich selbstironisches Lächeln um ihre Mundwinkel. "Ich bin mir zwar nicht sicher, ob das wirklich so sehr meine Leistung war oder ob ich nur alle anderen verrückt gemacht habe, aber es freut mich, dass dir das Ergebnis gefällt." Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, so zu tun, als ob ihr nicht klar war, dass sie es bei den Vorbereitungen wenigstens teilweise übertrieben hatte. Es war es ohnehin gut möglich, dass seine Geschwister ihm längst gesteckt hatten, dass Octavena sie zum Teil ziemlich herumgescheucht hatte. Oder es wenigstens versucht hatte. Außerdem war dieses Fest auch vollkommen unabhängig davon wirklich nicht allein Octavenas Leistung. So wie Weniges seit dem Frühjahr allein ihre Leistung war. Und langsam, aber sicher kam sie auch an den Punkt, an dem sie damit ihren Frieden machte, ganz egal, wie schwer ihr das manchmal gefallen war und noch immer fiel. Wenigstens bei manchen Dingen. "Aber es ist schön, mal wieder so viele Gäste hier zu haben. Dafür war es wirklich mal wieder Zeit." Sie seufzte tief und verzog kurz das Gesicht, entschied sich dann aber dazu, nicht künstlich um den heißen Brei herumzureden. Es brachte ja doch nichts, die Tatsachen kaschieren zu wollen, wenn sie so offensichtlich auf der Hand lagen. "Es war eben kein einfaches Jahr. Für keinen von uns. Endlich mal wieder ein großes Fest zu feiern, tut da glaube ich uns allen ganz gut." Nun war sie es, die einen Moment lang auf den Teich vor ihnen starrte, teilweise, weil es einfacher war, über diese Dinge zu reden, wenn sie niemanden direkt ansah. "Irgendwie und irgendwann muss es ja doch weitergehen."


    Octavena meinte das auch genau so, wie sie es sagte. Wenn es etwas gab, das sie über die Jahre gelernt hatte, dann das, dass das Leben immer unaufhaltsam fortlief, im Guten wie im Schlechten. Und so wie bald die Tage wieder länger und die Nächte kürzer werden würden, so würde Octavena sich auch wieder fangen, genauso wie alle anderen auch. Zumindest glaubte sie das. Ein bisschen war sie selbst ohnehin schon dabei, auch wenn das noch Zeit brauchen würde. Aber früher oder später würden auf die Toten auch wieder Hochzeiten und Geburten und alles Mögliche an anderen schönen Ereignissen folgen. So wie immer. Bei dem Gedanken musste sie wieder lächeln und drehte dann den Kopf, um Hadamar anzusehen. "Tariq ist übrigens ein lieber Junge", wechselte sie dann das Thema, weg von den Toten und hin zu den Lebenden. "Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob ich ganz verstehe, wie du ihn eingesammelt und davon überzeugt hast, nach Germanien zu kommen, aber Farold ist absolut begeistert von ihm." Ihr Tonfall, als sie das sagte, war ehrlich amüsiert, aber dahinter verbarg sich genauso ehrliche Erleichterung. Wie immer, wenn sie daran erinnert wurde, wie ungefiltert neugierig und begeistert ihr Sohn sein konnte. Und wer es schaffte, diese Begeisterung bei Farold - oder Ildrun, aber die ließ sich inzwischen nicht mehr so leicht um den Finger wickeln wie ihr Bruder - auslösen konnte, der hatte sowieso auch bei Octavena einen Stein im Brett.

    Manchmal überraschte es Octavena ein wenig, wie viel Chaos ihre Kinder eigentlich so verursachen konnten, wenn man nur kurz wegsah. Selbst jetzt noch, wo sowohl Ildrun als auch Farold eigentlich aus dem Gröbsten raus waren und Octavena zum Glück nicht mehr die Energie von Kleinkindern zu bändigen hatte, schafften alle beide es auf die eine oder andere Weise, dass ihre Mutter konstant das Gefühl hatte, hinter den beiden herzuräumen. Was sie in diesem Moment, als sie gerade mal wieder ein paar von Farolds Holzfiguren vom Boden aufsammelte, ganz besonders nervte, weil sie ihn ohnehin ständig ermahnte, die nicht überall zu streuen, ganz besonders nicht in ihrem Schlafzimmer. Das hatte sie schon versucht, als das hier noch ihr gemeinsames Schlafzimmer mit Wijton gewesen war, aber mit diesem Anliegen war sie damals wie heute so wenig erfolgreich, dass am Fuß des Bettes eben doch wieder eine Spielzeugtruhe stand. Und nicht einmal in die räumte ihr chaotischer Sohn seine Sachen auf.


    Octavena seufzte leise und hob gerade eine weitere Figur vom Boden auf, als es an der Tür klopfte. "Herein!", rief sie und erwartete eigentlich halb Ilda oder vielleicht noch Dagmar, die Octavena wahrscheinlich erzählen würde, dass nach dem Chaos im Schlafzimmer wahlweise Ildrun oder Farold schon den nächsten Unsinn ausgefressen hatten. Das hätte jedenfalls zu ihrem Tag gepasst. Als sie sich dann aber aufrichtete und umdrehte, um zu sehen, wer eintrat, stand Iring vor ihr und Überraschung erschien kurz auf ihren Zügen. "Salve, Iring", sagte sie noch halb über ihre Schulter und öffnete kurz die Spielzeugtruhe, um die Figuren in ihrer Hand darin zu verstauen, ehe sie sich dann umdrehte und ihm vollends ihre Aufmerksamkeit zuwandte. "Kein Problem, wie kann ich dir helfen?"

    Eigentlich hatte Octavena die Saturnalienfeier in der Villa dieses Jahr bisher wirklich genossen. Es gefiel ihr, das Haus voller Leute zu haben, und abgesehen von ein paar Ausnahmen, die sich nie ganz vermeiden ließen, hatte sie sich auch gefreut, eine ganze Reihe Leute wiederzusehen, die sie länger nicht mehr getroffen hatte. Selbst die vereinzelten Beileidsbekundungen, die ihr noch immer ab und zu von dem einen oder anderen Gast ausgesprochen wurden, hatten ihre Stimmung nicht trüben können. Sie hatte sich vorgenommen, diesen Abend zu genießen und stur, wie sie sein konnte, tat sie das dann auch. Aber dann hatte sie irgendwann einen Moment innegehalten, um ihren Blick ein weiteres Mal über die Gäste gleiten zu lassen, und hatte mit einem Mal doch wieder auf eine Weise an Witjon denken müssen, die ihr dann doch einen Stich versetzt hatte. Dieses Fest hätte ihm gefallen. Zu sehen, wie Familie und Freunde versammelt waren, lachten und tranken, das wäre genau in seinem Sinn gewesen. Und nur für den Bruchteil einer Sekunde wäre es so leicht gewesen, sich vorzustellen, dass er doch noch im nächsten Moment um die Ecke kam und sich unter die Gäste mischte. Das war albern und müßig, das wusste Octavena, aber noch in dem Augenblick, in dem ihr der Gedanke durch den Kopf geschossen war, hatte sie wieder ein tiefes Gefühl von Wehmut in sich aufsteigen fühlen. Dabei hatte sie sich das wahrscheinlich einfach nur sich selbst zuzuschreiben. Sie hatte zu sehr versucht, es zu forcieren, zu viel von sich verlangt, als sie versucht hatte, sich heute Abend ihre eigenen Sorgen ein Stück weit selbst zu verbieten. Natürlich war klar gewesen, dass sich das früher oder später rächen würde, selbst wenn es nur in Form dieser merkwürdigen Melancholie war, die ihr in den letzten Monaten nur allzu vertraut geworden war. Und gerade weil ihr dieses Gefühl inzwischen so vertraut war, wusste sie auch sehr genau, dass diese Stimmung das letzte war, was auf die Feier heute Abend gehörte. Das war ihr Problem und damit würde sie ganz sicher niemandem die gute Laune verderben. Am allerwenigsten ihren Kindern und dem Rest der Familie, die sich alle diesen schönen Abend genauso sehr wie sie verdient hatten.


    Statt also zu versuchen, diesen Moment der Melancholie einfach wegzulächeln, wie sie es sonst manchmal tat, hatte Octavena sich entschuldigt, um sich ein zusätzliches Tuch gegen die Kälte aus dem Haus zu holen und war dann statt zu den Feiernden zurückzukehren in Richtung Garten verschwunden. Die Ruhe dort erschien ihr gerade genau richtig, um ihre Gedanken wieder zu sammeln und sich dann wieder unter die Gäste zu mischen, ehe jemand ihre Abwesenheit bemerken würde. Tatsächlich fühlte sie sich schon in der Sekunde ein wenig besser, als sie in sicherer Entfernung vom Haus das erste Mal zum Stehen kam und innehielt, um einmal tief ein und auszuatmen. Eigentlich war es für Octavenas Geschmack viel zu kalt, wie immer während dieser verfluchten germanischen Winter, mit denen sie sich einfach nicht anfreunden konnte, aber die kühle Luft genauso wie die Einsamkeit des Gartens sorgten trotzdem dafür, dass sie sich direkt wieder etwas entspannte. Nur dass sie schon im nächsten Moment feststellte, dass sie eben nicht allein war. Eine Gestalt kauerte weiter vorne am Teich und kurz runzelte Octavena die Stirn bis sie die Silhouette schließlich erkannte. Hadamar. Sie wusste nicht so richtig, warum, aber irgendwie war das niemand, den sie gerade jetzt hier erwartet hätte. Andererseits hatte sie ohnehin nicht damit gerechnet, irgendwem hier draußen zu begegnen, von daher hieß das vermutlich nicht viel. Einen Augenblick lang überlegte sie, einfach wieder kehrt zu machen, und ihn in Ruhe zu lassen - wahrscheinlich war er ja mit einem ähnlichen Gedanken wie sie hierhergekommen - doch dann richtete er sich auf und ihr wurde klar, dass er sie ohnehin schon bemerkt hatte, und sie verwarf die Idee direkt wieder.


    "Ich bin also doch nicht die Einzige, die es gerade von der Feier wegzieht." Octavena lächelte ein wenig schief, als sie langsam näher trat, und zog sich dabei ihr Tuch etwas enger um die Schultern. "Hast du genug vom Trubel?"

    Octavena schmunzelte wieder ein wenig, als Tariq sich beeilte klarzustellen, dass sie nicht alt aussah. Es war nett, wie offensichtlich er sich darum bemühte, von Hadamars Familie gemocht zu werden und niemanden vor den Kopf zu stoßen, auch wenn Octavena ihm die offenbar unbeabsichtigte Andeutung, sie wäre alt, auch nicht übel genommen hätte. Tariq sah so aus als wäre er noch in einem Alter, in dem ihm wahrscheinlich alle Leute, die mehr als zehn Jahre älter als er waren, auf die eine oder andere Weise alt vorkamen. Und Octavena war da genug mit sich selbst im Reinen, um das wiederum mit Humor nehmen zu können statt beleidigt zu sein. "Nein", gab sie stattdessen ehrlich auf Tariqs Frage zurück, ob sie Hispania noch vermisste. "Mein Zuhause ist schon lange hier." Ein schiefes Grinsen zuckte um ihre Mundwinkel. "Die germanischen Winter sind zwar fürchterlich, aber die Leute hier können einem schnell ans Herz wachsen. Außerdem gäbe es in Hispania inzwischen ohnehin kaum noch etwas, das mich dahin zurück ziehen könnte. Dafür bin ich auch einfach schon zu lange weg."


    "Danke. Es ist nett, dass du das sagst." Ehe sie es verhindern konnte huschte bei der Beileidsbekundung ein trauriger Schatten über Octavenas Gesicht und nur für einen kurzen Moment fühlte sich ihr Herz wieder etwas schwerer an, wie immer, wenn jemand ihr sein Mitgefühl aussprach. Diese Bemerkungen waren immer gut gemeint und Octavena wusste das auch durchaus zu schätzen, aber gleichzeitig … gleichzeitig hasste sie auch immer ein wenig, wofür sie standen und was sie ein weiteres Mal unterstrichen. Dass ihr Mann nun einmal tot war. Bei der Erwähnung seines Vaters wagte sich jetzt auch Farold wieder aus dem Hintergrund an die Seite seiner Mutter und sah kurz ungewöhnlich still zu ihr hoch. Octavena dagegen lächelte warm zu ihm hinunter und strich ihm dabei einmal liebevoll über den Kopf. Sie war sich nie sicher, ob ihr Sohn in solchen Situationen ihre Nähe suchte, weil er selbst Witjon vermisste oder weil er spürte, dass sie es tat. In jedem Fall hatte es auch für sie immer etwas Tröstliches. Trotzdem wollte sie nicht die Stimmung drücken und nutzte stattdessen die Gelegenheit, Farold wieder in ihrer Reichweite zu haben, um zu ihrem Anliegen von vorhin zurückzukommen und so das Thema wieder zu wechseln. "Du, junger Mann, musst dich übrigens immer noch umziehen", sagte sie in einem Tonfall sanfter, aber dennoch eindeutiger mütterlicher Autorität und sah ihn auffordernd an.

    "Aber-"

    "Kein aber. Wenn du dich umgezogen hast, kannst du wiederkommen", widersprach Octavena und schob ihn ein wenig in Richtung Tür. "Ab mit dir."

    Farold grummelte noch leise protestierend etwas vor sich hin, gehorchte aber, wenn auch nicht ohne zum Abschied nochmal Tariq zuzuwinken ehe er verschwand. Auf dem Weg nach draußen schlug er noch einen Haken um Iring, der ihm entgegenkam, blieb aber nicht stehen. Währenddessen spürte Octavena ein wenig Erleichterung in sich darüber aufsteigen, dass sie mit Irings Erscheinen und der Begrüßung der Brüder eine Gelegenheit bekam, sich für den Moment wieder ein wenig aus dem Fokus des Gesprächs zu ziehen, bevor sie noch einmal daran vorbeischrammen konnten, über Witjon oder einen anderen wunden Punkt zu reden, der die Stimmung im ungünstigsten Fall zum Kippen hätte bringen können. Nichts davon gehörte gerade hierher und dass es ihr nach wie vor nicht immer gelang, diese Gedanken und Gefühle, so konsequent bei Seite zu schieben wie sie das gerne gehabt hätte, war niemandes Schuld. Und sie würde ganz sicher nicht dieses Wiedersehen hier damit überschatten.



    Octavena lächelte ebenfalls ein wenig amüsiert, als Iring bei dem ersten Anzeichen, dass sich das Gespräch in Richtung Mode verschieben könnte, sich direkt wieder verzog. Immerhin dachte er noch daran, seiner Schwester ebenfalls ein Kompliment für ihre Haare zu machen, aber damit war er auch genauso plötzlich verschwunden, wie er zuvor aufgetaucht war. Das Lächeln auf ihren Lippen wurde dann fast zu einem richtigen Grinsen, als Dagny genau das aussprach, doch noch im nächsten Moment wurde der Ausdruck auf Octavenas Zügen unwillkürlich wieder sanft. "Es ist lieb, dass du das sagst", erwiderte Octavena dann auf die Bemerkung über ihr eigenes Modewissen und lächelte ein wenig überrascht. Eigentlich hatte sie inzwischen meistens das Gefühl, nicht mehr so sehr auf ihr Äußeres zu achten wie früher, ganz egal, ob es um römische oder germanische Mode ging. Früher, ja, da hatte ihr viel an ihrem Aussehen gelegen, aber inzwischen fehlte Octavena an den meisten Tagen die Zeit und der Kopf, sich so intensiv mit alldem zu beschäftigen, wie sie es zum Beispiel als Jugendliche noch getan hatte. Das bedeutete nicht, dass Dagny mit ihrer Bemerkung vollkommen falsch lag, Octavena wurde inzwischen einfach nur noch selten daran erinnert. "Und keine Sorge, du hast nichts unterbrochen. Iring hat mich nur eben aus einem nicht enden wollenden Gespräch gerettet."


    Den Fremden, den Dagny dann beim Eingang entdeckte, hätte Octavena wahrscheinlich sonst übersehen und einen Moment lang runzelte sie die Stirn, während sie zu ihm hinübersah und überlegte, ob sie ihm schonmal begegnet war. "Keine Ahnung", gab sie dann wahrheitsgemäß zurück, als sie zu dem Schluss kam, dass sie ihn auch nicht kannte, was sie aber auch nur begrenzt überraschte. Es waren genug Leute da, die nicht direkt eingeladen, sondern mit irgendwem anderes gekommen waren, und selbst von den Gästen, die sie dezidiert eingeladen hatten, kannte Octavena auch nicht alle, schon allein weil die ganze Familie zur Gästeliste beigetragen hatte. Als Dagny losging, um den jungen Mann zu begrüßen, setzte sich Octavena ebenfalls in Bewegung, wenn auch etwas gemächlicher, während sie ihren Blick ein weiteres Mal über die Gäste gleiten ließ und im Vorbeigehen noch dem einen oder anderen bekannten Gesicht zunickte. Sie entdeckte dabei kurz Ildrun, die gerade mit einem der großen Wachhunde der Villa um eine Ecke bog, und verspürte kurz wieder diesen vertrauten Stich der Sorge, wie immer, wenn sie ihre Tochter mit einem der Tiere sah. Ildrun hatte in den letzten Monaten einen wahren Narren an den beiden gefressen und auch wenn Leif, der die beiden abgerichtet hatte, Octavena versichert hatte, dass sie aufs Wort hörten und Ildrun wusste, wie sie den beiden Befehle gab, konnte Octavena die Sorge darüber nie ganz niederkämpfen. Es hatte zwar auch keinen Sinn, mit Ildrun darüber zu streiten, erst recht nicht heute, aber die Sorge, die blieb nun einmal. Noch so etwas, das sie in diesem Jahr stetig zu begleiten schien, ganz egal, wie sehr sie sich darum bemühte, es abzuschütteln. Octavena seufzte leise und zwang sich, den Gedanken bei Seite zu schieben. Stattdessen folgte sie Dagny, wie sie es ohnehin vorgehabt hatte. "Bona Saturnalia", grüßte sie dann ebenfalls freundlich den Fremden, als sie mit leichter Verzögerung neben Dagny erschien und sich ihrer Vorstellung anschloss. "Und ich bin Petronia Octavena, die Hausherrin hier." Es fühlte sich noch immer etwas ungewohnt an, sich einfach nur als Hausherrin statt als Wijtons Frau und damit auch Hausherrin der Villa vorzustellen, aber das war nun einmal das, was auf dem kürzesten Weg erklärte, wer sie war, ohne dass sie ihre eigene Biografie direkt ausbreiten musste. "Willkommen."

    Im Inneren bot Dagny an, etwas zu essen und zu trinken zu organisieren, worüber Tariq dankbar war. Essen und Trinken hielten einen wach. Ihrer Aufforderung, es sich bequem zu machen, kam er hingegen nicht nach, weil er Angst hatte, dass er, wenn er sich hinsetzte, sofort einschlafen würde. Beim Austausch zwischen Farold und seiner Mutter lächelte er ein weiteres Mal und schüttelte dann an Octavena gewandt den Kopf. „Das ist nicht schlimm. Farold ist ein netter Junge. Ich finde es gut, dass er fragt … und bei mir zu Hause erzählt man gern Geschichten.“ Manch einem Bewohner Kappadokiens sagte man sogar nach, dass es gar keiner Frage bedurfte, um ihn zum Reden zu animieren – man musste sich nur daneben setzen und zuhören. Aber abgesehen davon fand Tariq am unverfälschten Interesse eines Kindes nichts Schlimmes. Ihm hatte es in dieser konkreten Situation sogar geholfen, die ersten Momente des Fremdfühlens leichter zu überwinden.


    „Dein Sohn sagte, dass du aus Hispania stammst. Wie lange bist du schon hier, wenn ich fragen darf?“


    "Ich bin als junge Frau hierhergekommen", erwiderte Octavena auf Tariqs Frage, wie lange sie schon in Germanien war, und amüsierte sich innerlich ein wenig darüber, dass Farold ihm direkt erzählt hatte, woher sie kam. Tariq musste ihren Sohn wirklich auf genau dem richtigen Fuß erwischt haben, wenn er direkt ins Plaudern gekommen war. "Das ist jetzt …" Sie hielt kurz inne. Waren es wirklich schon fünfzehn Jahre? Oder doch noch etwas weniger? Ja, es waren noch nicht ganz fünfzehn. In jedem Fall kam sie sich älter vor als sie war, wenn sie darüber nachdachte, wie viel Zeit zwischen damals und jetzt eigentlich lag. Und wie endlos fern ihr Tarraco und alles, was sie dort zurückgelassen hatte, eigentlich vorkamen. "… fast fünfzehn Jahre her." Sie lächelte und schob das merkwürdige Gefühl von Unglauben bei Seite, das sie immer etwas erfasste, wenn sie daran denken musste, wie viel Zeit seit ihrer Ankunft in Mogontiacum vergangen war. Ein paar Jahre noch und sie würde länger hier leben als sie je in Hispania gelebt hatte. "Meine Familie kommt zum größten Teil aus Tarraco, aber einen Vetter meines Vaters hatte es irgendwann nach Mogontiacum verschlagen. Mein Vater hat mich damals zu diesem Vetter geschickt und ich habe dann hier meinen verstorbenen Mann geheiratet und bin so geblieben."

    Zitat

    Cossus Duccius Fontanus

    Duccia Valentina

    "Das? Ceionia Secunda", beantwortete Octavena die Frage danach, mit wem sie gerade noch geredet hatte. "Wir kennen uns gefühlt schon ewig und Witjon hatte ab und zu mal irgendwie mit ihrem Bruder und ihrem Mann zu tun, wenn ich mich richtig erinnere." Das war auch der Grund gewesen, warum Octavena und Secunda einander bisher eigentlich immer zumindest ausgehalten hatten, auch wenn Octavena sich nie für die Details der Geschäfte interessiert hatte, die Witjon mit Secundas Verwandten wohl gemacht hatte. Vielleicht konnte Iring mit dem Namen da mehr anfangen, Octavena hatte das alles konkret in diesem Fall immer besonders wenig gekümmert. "Jedenfalls war Secunda schon immer ... anstrengend." Sie zuckte recht gleichgültig mit den Achseln. "Und das hat sich über die Jahre auch nicht geändert."


    Octavena folgte dann Irings Blick zum Feuer, wo Hadamar stand und mit zwei Männern redete, die sie ohnehin nicht erkannte, und nickte nur. Sie hatte vorher noch gar nicht aktiv registriert, dass er überhaupt schon da war, aber sie hatte sich auch darauf konzentriert, zumindest einen Teil der Gäste zu begrüßen. Und dann tauchte auch schon Dagny auf, deren unverblümte Art wieder einmaletwas Ansteckendes hatte und Octavena ebenfalls zu einem breiten Lächeln brachte. "Auf ein lichteres Jahr zu trinken klingt wie eine sehr gute Idee. Das haben wir uns wirklich alle verdient", gab sie schmunzelnd auf die Begrüßung zurück und hob ebenfalls kurz ihren Becher. Es hätte keinen Sinn gehabt, so zu tun als ob sie nicht auch genau das, ein lichteres Jahr, gut vertragen könnte, und im Grunde wäre es auch sowieso nicht Octavenas Art gewesen, so zu tun als ob das anders wäre. Ganz davon zu schweigen, dass ihr das sowieso niemand ernsthaft abgenommen hätte, wenn sie versucht hätte, ausgerechnet darüber zu lügen.


    Stattdessen nippte Octavena einfach noch einmal an ihrem Met und sah dann Dagny an. "Deine Haare sehen schön aus", sagte sie anerkennend und meinte es auch so. Octavenas eigene Aufmachung, inklusive ihrer Frisur, war wie immer konsequent römisch, aber eigentlich hatte sie sich über die Jahre daran gewöhnt, damit an Festtagen wie Jul zwischen den Ducciern trotz allem in der Regel eher aus der Reihe zu fallen. Das war schon lange nichts mehr, das sie irgendwie verunsichert hätte, Dagnys heute ebenfalls römisch gehaltene Frisur dagegen überraschte sie da nur ein wenig. "Steht dir gut."

    „Heißer Met gefällig?“ Zwischen einer Spitze und der mutmaßlich nächsten Begrüßung passte Iring den Moment ab, um Octavena einen Becher mit dem dampfenden Getränk zu reichen. Sie sah ziemlich gut aus, wirkte so als ob sie sich wirklich über die Feier freute – aber sie alle wussten, dass es das erste Jul ohne ihren Mann war. So wie alles derzeit das erste Mal ohne ihn war. Iring war jetzt keiner, der da groß mit ihr drüber redete, er redete ja nicht mal darüber was Witjons Verlust für ihn bedeutete. Und er würde sich doppelt und dreifach hüten, jetzt, während des Fests, nachzufragen wie es ihr ging, ob sie womöglich allen etwas vorspielte oder sich tatsächlich freute.


    Aber für Alkohol konnte er sorgen. Hatte sie auch verdient, nach allem was sie hier rein gesteckt hatte – in die Organisation dieser Feier im Besonderen, und in die Familie im Allgemeinen. Worüber so ziemlich jeder Bewohner der Villa Duccia froh und dankbar war – genauso wie darüber, dass Dagmar sich von ihrer Zurückgezogenheit verabschiedet hatte und wieder gekommen war. Rhaban und er kümmerten sich mit Dagnys Unterstützung so gut es ging um die Freya, aber Octavena und Dagmar hielten den familiären Laden gerade am Laufen, da gab es nichts rumzudeuteln. Auch wenn seine Schwägerin es mit der Vorbereitung dieser Feier zumindest eine Zeitlang ein kleines bisschen übertrieben hatte. Was vor allem Iring ziemlich zu spüren bekommen hatte, weil sie ihn rumgescheucht hatte wie selten – und er, im Gegensatz zu Rhaban, einfach gemacht hatte. Hatte er letztlich einfacher gefunden als sich mit ihr anzulegen, warum das oft nicht mal ihre eigenen Kinder begriffen, war ihm ein Rätsel. Allerdings: Kinder waren ihm ganz generell oft ein Rätsel.


    Und so hielt er jetzt einen Becher heißen Met hin, während er in der anderen Hand noch zwei Becher balancierte, einen für sich, einen für Dagmar, sobald er sie irgendwo sah.


    "Ah, ja, danke", erwiderte Octavena und warf Iring ein ehrlich dankbares Lächeln zu. Sie nahm den Becher entgegen, den er ihr reichte und registrierte nicht ohne eine gewisse Genugtuung, dass ihre bisherige Gesprächspartnerin sein Auftauchen als Stichwort begriff, um endlich weiter zu ziehen und damit auch vorerst wenigstens ihre wiederholten süffisanten Andeutungen darüber zu beenden, wie lange die letzte Gelegenheit her war, zu der ein paar mehr Gäste in der Villa eingeladen gewesen waren. Nicht, dass Octavena sich von dieser Art Gerede tatsächlich hätte provozieren zu lassen, aber ihr war auch klar, dass sich hier gerade jemand freute, dass sie nach dem vergangenen Jahr auch gesellschaftlich nicht mehr so fest im Sattel saß wie früher. Und auch wenn sie eigentlich nie übermäßig ehrgeizig gewesen was diese sozialen Keilereien anging, war Octavena dann doch auch einen Tick zu stolz, um die unterschwellige Beleidigung, die in solchen Bemerkungen wie eben steckte, einfach so hinzunehmen. Auch deshalb kam das Fest heute Abend genau richtig, bot es doch genug Gelegenheiten, zwischen Met und Gesprächen ganz nebenbei noch dem einen oder anderen Stückchen Tratsch ein klares Ende zu setzen.


    "Du bist gerade wie gerufen gekommen", sagte Octavena dann zu Iring, sobald sie sich sicher war, dass wenigstens im Moment niemand sonst gerade zuhörte, und schloss ihre Hände so um den Becher mit Met, dass die Wärme des Getränks auch ein wenig auf ihre Handflächen abstrahlte. "Manche Leute finden einfach kein Ende." Sie nahm einen Schluck von dem Met und ließ ihren Blick kurz über ihre Umgebung gleiten. "Haben sich deine Geschwister auch schon unter die Gäste gemischt?"

    Octavena mochte sowohl Jul als auch Saturnalia als Festtage und wie immer waren die Übergänge zwischen beidem in der Villa Duccia mindestens fließend. Beide Feste bedeuteten einerseits, dass Familie und Freunde zusammen kamen und feierten, und andererseits bedeuteten sie auch, dass bald die Nächte wieder kürzer und die Tage heller und länger werden würden. Beides Dinge, die Octavena dieses Jahr mehr als gebrauchen konnte. Sie hatten ein hartes Jahr hinter sich und es war dementsprechend lange her, dass sie das Haus voller Gäste gehabt hatten. Seit dem Sommer hatte Octavena sich zwar mehr dazu gezwungen, ihr Gesicht auch wieder mehr in der Stadt zu zeigen und Kontakte zu Freundinnen und Bekannten zu pflegen, aber das hier war etwas anderes. Heute wollte sie, dass es ein schöner Abend für alle werden würde. Sie hatte gar nicht so richtig gemerkt, wie wichtig ihr das sogar war, bis die Vorbereitungen in der Villa immer konkreter geworden waren und Octavena wieder so viel hatte kontrollieren und koordinieren wollen, dass Marga schon bei der Planung von Essen und Dekoration beinahe die Geduld mit der Hausherrin verloren und sie schließlich zwar noch freundlich, aber bestimmt ganz aus der Küche komplementiert hatte. Eine Szene, die Octavenas Tochter Ildrun mit einem so breiten Grinsen zur Kenntnis genommen hatte, dass ihre Mutter sich dann doch ertappt gefühlt hatte. Spätestens damit war auch ihr klar, dass sie sehr wahrscheinlich ihr Umfeld wenigstens teilweise mehr verrückt gemacht als irgendwem tatsächlich geholfen hatte. Marga, die als wahre Institution im duccischen Haushalt der jüngeren Octavena zwar immer mit Respekt, aber auch deutlich mehr auf Augenhöhe begegnet war als so manche der jüngeren Angestellten, hatte das nur als erste rundheraus angesprochen, wofür Octavena dann doch auch nicht undankbar war, auch wenn es ihr zugleich etwas peinlich war. Es zeigte nur einmal mehr, dass sie nach wie vor nicht ganz auf der Höhe ihrer Fähigkeiten war. Schließlich war Octavena sonst eigentlich immer stolz auf ihr Organisationstalent gewesen und darauf, den Haushalt der Villa gemeinsam mit den anderen Frauen zumindest an den meisten Tagen gut im Griff zu haben. Aber die letzten Monate und auch Octavenas eigene damit verbundene Zurückgezogenheit - zumindest im Vergleich zu früher - hatten ihre Spuren hinterlassen.


    Margas Eingreifen hatte Octavena aber im Grunde wiederum nur gut getan und sie hatte sich danach deutlich ruhiger in die Vorbereitungen im Haus eingefügt bis dann schließlich am Abend der Feier selbst die ersten Gäste eintrudelten. Während Octavenas Kinder längst irgendwo mit ein paar anderen Kindern durch die Gegend tobten, mischte sie selbst sich nun unter die ankommenden Gäste und begrüßte bekannte wie unbekannte Gesichter. Die Aufgabenverteilung innerhalb der Villa hatte sich zwar in der Familie seit Witjons Tod etwas verschoben, doch wenigstens nach außen blieb Octavena nach wie vor die Hausherrin der Villa. Oder jedenfalls fühlte sie sich zumindest verantwortlich dafür, diese Rolle angemessen auszufüllen solange sich nicht herauskristallisiert hatte, wer Witjons Platz als Familienoberhaupt denn früher oder später einnehmen und wessen Frau damit vielleicht Anspruch auf die Position anmelden würde, die Octavena an Witjons Seite bisher immer ausgefüllt hatte.


    Aber das waren alles keine Gedanken, die sie heute haben wollte. Es war schon schmerzhaft genug, diese Nacht ohne Witjon zu feiern, da musste sie sich nicht auch noch Sorgen um die Zukunft machen. Also legte sie ein freundliches Lächeln auf, zu dem sie sich heute auch nicht einmal zwingen musste, und tat fürs erste das, was sie in den Jahren an der Seite ihres Mannes zu perfektionieren gelernt hatte: Lächeln, winken und zwischendrin die eine oder andere Spitze von Bekannten mit wenig Ahnung, aber einer Meinung zu allem gekonnt übergehen.

    "Feuer? Wirklich?" Farold runzelte die Stirn und sah Tariq einen Moment lang prüfend an, konnte aber keine Anzeichen dafür erkennen, dass Tariq ihn veralberte oder belog. "Das klingt komisch." Die Idee, eine Geschichte aus diesem Land, das so merkwürdig klang, erzählt zu bekommen vertrieb seine kurze Skepsis direkt wieder und stattdessen strahlte er Tariq direkt wieder begeistert an. Neugierig wie Farold war hatte er ohnehin einen Hang zu guten Geschichten und das letzte Mal, dass ihn jemand eine vollkommen neue Geschichte erzählt hatte, war inzwischen schon wieder eine Weile her. "Versprochen?"


    "Weit weg, irgendwo im Süden", gab er zurück, als Tariq dann noch Hispania fragte, und zuckte mit den Achseln. "Ist heiß da sagt meine Mutter. Viel heißer als hier selbst im Sommer wird." Octavenas Heimat hatte für ihn nie besonders spannend geklungen, einerseits weil er mit zumindest vereinzelten Geschichten darüber schon immer aufgewachsen war und andererseits weil das, was seine Mutter so erzählte, auch nicht so unglaublich spektakulär klang. Hispania hatte heiße Sommer und es war sehr römisch. Der erste Teil interessierte Farold ohnehin nicht und der zweite Teil war insofern langweilig als dass auch Mogontiacum ein letztlich römischer Ort war. Dass es da noch weitere Gemeinsamkeiten und Unterschiede geben konnte, kam ihm da nicht großartig in den Sinn, auch weil seine Mutter insgesamt nicht sonderlich oft Geschichten über den Ort erzählte, an dem sie geboren und aufgewachsen war. Ganz davon zu schweigen, dass Farold ohnehin fand, dass Octavena eine mittelmäßige Geschichtenerzählerin war, auch wenn er es besser wusste als ihr das zu deutlich unter die Nase zu reiben. Das war eher etwas, das seine Schwester tat und die stritt sich für solche Frechheiten regelmäßig mit ihrer Mutter.


    Die Gruppe verzog sich von Hauseingang ins Kaminzimmer und Farold merkte gerade einen Moment zu spät, dass er damit auch eine Chance verpasst hatte, sich doch noch erfolgreich zu verdrücken bevor seine Mutter wieder an die Leimflecken auf seiner Kleidung dachte. Stattdessen positionierte er sich deshalb neben Dagny - bei der war es allgemein und im Moment im Speziellen wohl am unwahrscheinlichsten, dass sie sich mit seiner Mutter bei deren Erziehungsmethoden verbündete. Als Dagny die Anwesenden nacheinander vorstellte und Farold ebenfalls seinen Namen hörte, grinste er breit und sah zu ihr auf, als sie ihm über den Kopf strich. "Tariq hat gesagt, dass er mir eine Geschichte aus Cappadocia erzählt!", verkündete er dabei so begeistert, dass Octavena, die sich bisher bewusst im Hintergrund gehalten hatte, ein paar Schritte entfernt leise lachen musste und sich damit zum ersten Mal wieder in das Gespräch einmischte.


    "Ist das so?", fragte sie in erster Linie an ihren Sohn gerichtet, wobei sie anders als die anderen auch weiterhin bei Latein blieb, und brachte sich mit Mühe gerade so noch dazu, Farold ernst anzusehen, während eigentlich längst ein amüsiertes Lächeln um ihre Mundwinkel zuckte. "Aber denk dran, immer erst zu fragen, ob er gerade auch Lust dazu hat. Verstanden?" Sie wandte sich nun tatsächlich lächelnd Tariq selbst zu, um nun doch vorsichtshalber ein wenig zu intervenieren bevor Farold ihn vor Begeisterung und Neugier doch noch komplett überfuhr. Wenn Hadamar den jungen Mann als Familie ansah, dann würde der zwar auch ohnehin schon schnell begreifen, dass Farold manchmal ausgebremst werden musste, aber das bedeutete nicht, dass er das auf die harte Tour lernen musste. "Schön dich kennenzulernen, Tariq. Du hast ganz offensichtlich in meinem Sohn direkt einen Bewunderer gefunden. Aber fühl dich nicht verpflichtet, dich endlos von ihm löchern zu lassen. Er ist gerade in dem Alter, in dem er alles wissen will und tausend Fragen hat."


    Farold dagegen setzte bei dieser Zusammenfassung kurz zu Protest an, merkte dann aber, dass Dagny inzwischen verschwunden war und dass damit seine Idee von eben, sich in ihrer Nähe zu halten und so unauffällig außerhalb der Reichweite seiner Mutter zu bleiben, nicht mehr aufging und entschied sich dann dagegen, unnötig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er schielte zu Rhaban hinüber - bei Dagmar ging er davon aus, dass die Gefahr im Vergleich deutlich größer war, dass sie sich am Ende auf die Seite seiner Mutter schlagen würde - und begann dann damit, möglichst beiläufig in den Schatten seines Onkels zu verschwinden. Der allgemeine Trubel erschien ihm nach wie vor viel zu interessant, um doch vollständig die Flucht zu ergreifen, und dafür erschien ihm Rhaban gerade wie die richtige Deckung, um zuzuhören, was die Erwachsenen sagten, und gleichzeitig weiter eine sichere Distanz zu seiner Mutter und ihren Kleidungsplänen für ihn zu wahren.

    Der Kleine drehte sich um und blickte Tariq an. Er stellte sich vor, was er wohl nicht tun würde, wenn er Angst hätte. „Freut mich, Farold“, antwortete er. Der Junge rang mit sich und wollte etwas sagen – und als er schließlich mit der Sprache herausrückte, musste Tariq grinsen. „Ja stimmt“, erwiderte er gut gelaunt. „Ich komme aus Cappadocia, das ist weit weg. Da musst du viele Tage reiten, bis du da bist. Und mit dem Schiff fahren.“ Bei dem Gedanken daran wurde ihm wieder etwas flau im Magen. Er hoffte inständig, dass er in nächster Zeit keins mehr betreten musste. „Da spreche ich andere Sprachen. Germanisch hat Hadamar mir beigebracht.“ Er wies mit dem Daumen auf Hadamar, der eine junge Frau umarmte – vermutlich die Schwester, von der sie dereinst gesprochen hatten.


    „Wie alt bist du?“ fragte er den Kleinen. Er wollte ihn jetzt nicht zutexten, aber es fiel ihm tatsächlich leichter, mit dem kleinen Jungen zu sprechen, der offensichtlich einfach nur neugierig war – so wie die meisten Kinder. Tariq fand ihn im Vergleich zu den Kindern, die er aus seiner Heimat kannte, sogar recht zurückhaltend. Aber zugegebenermaßen kannte er hauptsächlich Straßenkinder, die keine gute bzw. überhaupt keine Erziehung genossen hatten. Kurz huschte sein Blick zu der Frau, die in der Nähe von Farold stand und von der er vermutete, dass sie die Mutter war. Hoffentlich störte es sie nicht, wenn er mit ihrem Sohn sprach … einige reiche Frauen in Caesarea hatten ihn verscheucht, wenn er es gewagt hatte, mit deren Kindern zu reden. Andererseits war er damals auch ein ausgemergeltes Straßenkind gewesen … und das war jetzt auch wieder ein paar Jahre her. Seine Zeit mit Hadamar und Soufian hatte ihn ziemlich aufgepäppelt.

    Ohne, dass er es wahrscheinlich hätte ahnen können, hatte Tariq Farold genau das richtige Stichwort gegeben. "Cappadocia?", fragte der Junge und seine Augen leuchteten auf. "Wie ist es da? Anders als hier?" Die Aussicht, etwas über einen weit entfernten Ort und damit etwas tatsächlich Neues zu erfahren, ließ ihn aufhorchen. In Farolds Welt waren zwar die meisten Orte außerhalb von Mogontiacum weit weg, aber das führte in Konsequenz auch nur dazu, dass er eben viele Orte interessant fand. Und im Gegensatz zu sonst hatte er jetzt die Chance, jemanden zu befragen, der von einem neuen Ort kam. "Meine Mutter kommt aus Hispania, das ist auch weit weg." Er grinste ein wenig und warf einen verstohlenen Blick in ihre Richtung, um sicher zur gehen, dass Octavena ihm gerade nicht zuhörte. "Deshalb spricht sie auch nicht gut Germanisch. Auch wenn sie alles versteht." Oder wenigstens alles, was Farold so von sich gab, und das war unpraktisch genug, weil er so selbst dann in Schwierigkeiten geraten konnte, wenn er kein Latein sprach. Und anders als seine Schwester, die sich selten irgendetwas sagen ließ, versuchte Farold eigentlich Ärger mit seiner Mutter zu vermeiden. Jedenfalls meistens. "Aber sag ihr besser nicht, dass ich dir das erzählt habe."


    "Ich bin sieben", verkündete er dann auf die Frage nach seinem Alter und streckte den Rücken ein wenig durch, gerade so als wäre sein Alter allein eine Leistung, auf die er ganz besonders stolz war. Er merkte so auch nicht, dass seine Mutter inzwischen wieder zu ihm hinübersah, aber nur still lächelte, als sie merkte, wie begeistert ihr Sohn zu sein schien. Und nachdem Tariq auch nicht so wirkte, als ob Farold ihm damit ernsthaft auf die Nerven ging, beließ sie es dabei, die Szene, die sich ihr hier bot, erst einmal stumm und aus sicherer Entfernung zu beobachten und sich nicht selbst einzumischen. Es reichte, wenn sich eines ihrer Kinder seit dem Tod seines Vaters immer weiter zurückzog, und Farolds oft noch wirklich sehr kindliche Begeisterungsfähigkeit war da eher etwas Gutes. Tatsächlich beruhigte und erleichterte Octavena das immer ein wenig, nicht zuletzt, weil sie sich so daran erinnert fühlte, dass wenigstens Farold noch immer ihr Kleiner war, während Ildrun in letzter Zeit mehr als deutlich machte, dass sie genau das nicht mehr sein wollte. Schon allein deshalb wollte Octavena weder Farold noch sich selbst seine gute Laune in diesem Moment kaputt machen, auch wenn sie sich eigentlich auch fragte, wen Hadamar da angeschleppt hatte.

    Octavena registrierte sehr genau, wie Hadamar sie nur einen kurzen Moment länger als zu erwarten gewesen wäre ansah. Ganz so wie sie diesen Blick immer bemerkt hatte, der sie jedes Mal, wenn sie sich begegneten, so kurz streifte, dass er wahrscheinlich niemandem sonst auffiel. Vermutlich wäre er Octavena selbst nicht aufgefallen, wenn sie nicht grundsätzlich auf solche Details geachtet hätte, selbst wenn sie sie dann doch für sich behielt. Und auch jetzt überging sie die Reaktion wieder einmal geflissentlich mit einem Lächeln, auch wenn sie ihre Vermutung hatte, woher dieser Blick rührte. Aber wenn sie mit dieser Vermutung richtig lag, dann war der Grund dafür sowieso so lange her, dass da gefühlt ein ganzes Leben zwischen dem Mädchen, das Octavena damals gewesen war, und der Frau lag, die sie heute war. Ein ganzes Leben mit mehr Veränderungen als sie zählen konnte, inklusive ihrer Ehe mit Witjon. Witjon, dessen Tod nach wie vor irgendwo tief in Octavenas Brust wehtat, auch wenn sie meistens so tat, als ob es anders wäre.


    Sie schob den Gedanken eilig bei Seite, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Dagny auf ihren Bruder zuflog und damit die nächste Runde Begrüßungen begann. Während Octavena aber die sich nun entfaltende Szene ihrerseits gut gelaunt beobachtete, blieb ihr Sohn mit der allgemeinen Aufregung eher überfordert. Farold begriff vage, dass es sich zumindest bei einem der beiden Fremden um Verwandtschaft handeln musste, so wie die Erwachsenen ihn begrüßten, blieb aber verunsichert davon, dass er ihn trotzdem nicht richtig zuordnen konnte. Kurz sah er in Richtung seiner Mutter und überlegte, ob er besser an ihre Seite verschwinden sollte, auch wenn er damit seine gerade erst halbwegs gelungene Flucht direkt wieder zunichtemachte. Aber dann wandte sich der Jüngere der beiden Fremden ihm zu und seine Überforderung schlug in Neugier um. Das Germanisch des Fremden klang anders als das, das der Junge von seinen Verwandten und den Hausangestellten kannte, und er sah auch ganz anders aus. Beides weckte Farolds Aufmerksamkeit und so drehte er sich um und blickte Tariq neugierig an.


    "Heilsa. Ich bin Farold", antwortete er auf die Frage nach seinem Namen und wippte kurz etwas hin und her, jetzt doch etwas unsicher, was er sagen sollte und was vor allem ihm am Ende keinen Ärger mit seiner Mutter einbringen würde, weil sie wieder fand, dass er sich nicht gut genug benahm. Und er ahnte, dass sie es wahrscheinlich nicht für gutes Benehmen halten würde, wenn er Tariq rundheraus fragte, warum sein Germanisch so ungewohnt klang. Andererseits wusste Farold auch, dass seine Mutter bei Gesprächen auf Germanisch in der Regel nicht ganz so gut darin war, auf jedes Detail zu hören, das er sagte. Ganz besonders, wenn sie abgelenkt war, so wie jetzt, also war die Gefahr für Ärger gerade wahrscheinlich verhältnismäßig gering. Trotzdem entschied er, auf Nummer sicher zu gehen - man konnte schließlich auch nie wissen, wann vielleicht doch irgendwer von seinen anderen Verwandten genauer zuhörte - und seine Neugier vorsichtig zu formulieren. "Du klingst … anders."

    Während Dagmar einen Spaziergang gemacht hatte, sah Octavena sich im Inneren der Villa mit einer neuen Ausgabe elterlichen Chaos konfrontiert. Doch statt ihrer Tochter, die gerade wahrscheinlich irgendwo auf dem Gelände herumsprang und sich nicht um das kühle Herbstwetter kümmerte, war es an diesem Tag ihr Sohn, der dieses Chaos stiftete und beschlossen hatte, sich den Wünschen seiner Mutter zu widersetzen.


    "Farold." Octavena warf ihm einen warnenden Blick zu. "Umziehen. Jetzt."


    Der Leim, den sie ihm auf Adalheidis' Anraten hin besorgt hatte, war zu gleichen Teilen eine grandiose und eine katastrophale Idee gewesen. Grandios deswegen, weil Farold absolut begeistert von dem Geschenk gewesen war und seitdem ständig dabei war, irgendwelche Holzstücke zusammenzukleben, was ihn auch bei schlechtem Wetter beschäftigt hatte, und katastrophal deswegen, weil er damit auch mehr oder weniger dauerhaft eine Sauerei nach der anderen anrichtete. Und die Sauerei des Tages war, dass es ihm irgendwie gelungen war, zumindest seine Kleidung von oben bis unten mit großen und kleinen Leimkleksen zu bedecken.


    "Neeein!"
    , krakeelte er gut gelaunt und lief den Gang entlang und weg von seiner Mutter, die langsam, aber sicher genervt von dieser Diskussion war. Es war ein mittelmäßiger Albtraum, solche Leimreste wieder auszuwaschen, sobald sie einmal richtig eingetrocknet waren - sowohl bei Stoff als auch bei verklebten Kinderhaaren, auch wenn letztere dieses Mal verschont geblieben zu sein schienen - und sie hielt eigentlich nichts davon, wenn Farold das anderen ganz selbstverständlich aufbürdete nur, weil er nicht aufpasste.


    "Farold"
    , sagte sie noch einmal, dieses Mal in einem schärferen Tonfall, der dem Jungen vermitteln sollte, dass er kurz davor war, tatsächlich in Schwierigkeiten zu geraten. "Ich will mich nicht wiederholen."

    Doch Farold lief nur weiterhin gut gelaunt den Flur entlang, offenbar, um durch die Haustür nach draußen zu entwischen und sich wahrscheinlich in irgendeines der Verstecke wegzuducken, in die seine Schwester sich für gewöhnlich zum Schmollen zurückzog und von denen beide Kinder ausgingen, dass Octavena sie nicht kannte oder ihnen in der Regel nicht dorthin folgte. Octavena dagegen ging mit zügigen Schritten hinter ihm her in der Hoffnung, ihn entweder an der Tür noch selbst abfangen zu können oder dass irgendwer von den anderen Hausbewohnern seinen Weg kreuzte und ihn aufhielt. Tatsächlich kam ihr Sohn im nächsten Moment zu einem jähen Halt im Hauseingang, aber das hatte nichts mit der Diskussion mit seiner Mutter oder einer plötzlichen Einsicht zu tun, sondern viel mehr damit, dass er beinahe mit den Erwachsenen dort zusammengestoßen wäre.


    "Oh", sagte er und riss überrascht die Augen auf, während sein Blick zwischen seiner Tante und den Fremden hin und her sprang.


    Hinter dem Jungen tauchte nun auch Octavena auf, deren genervter Gesichtsausdruck genauso plötzlich in Verwunderung umschlug, als sie zumindest einen der Gäste erkannte. "Na, das ist ja einmal eine Überraschung", sagte die dann und lächelte. "Salve, Hadamar. Ich dachte, du steckst noch immer in Cappadocia."

    "Dann wünsche ich dir viel Erfolg bei deinen neuen Erfahrungen." Octavena lächelte noch einmal freundlich in Richtung des Fremden, ehe sie sich nun wirklich wieder zum Gehen wandte. "Leb wohl."

    Damit ging sie zurück zum Haus, jedoch nicht ohne zumindest noch auf dem Weg zurück noch einmal mit einer Mischung aus Überraschung und Neugier einen Blick über die Schulter zu werfen. Was für eine seltsame Begegnung, dachte sie noch, schob dann doch den Gedanken wieder zur Seite. Denn seltsam oder nicht, sie hatte jetzt erst einmal Wichtigeres zu tun.

    Adalheidis mochte genauso überraschend verschwunden sein wie sie zuvor auf der Schwelle der Villa Duccia erschienen war, aber das änderte natürlich nichts daran, dass Octavena eine ganze Liste an Besorgungen hatte, die sie in der Stadt zu erledigen hatte. Nach dem plötzlichen Abschied der alten Frau war sie zwar selbst zuerst zu überrascht und verwirrt gewesen, um ihre Einkäufe zu erledigen, und war stattdessen nach Hause geeilt, aber nun, ein paar Tage später, begann doch die Erkenntnis durchzusickern, wie sehr sie nun doch wieder am Anfang stand. Ildrun war überzeugt, ihre Mutter musste Adalheidis vergrault haben, im Haus fehlte jetzt wieder ein Paar helfender Hände und Farold geriet in dem Chaos wieder regelmäßig zwischen alle Stühle, insbesondere wenn seine Mutter und Schwester aneinander gerieten. Sorgen, die gerade erst ein bisschen leichter geworden waren, wogen jetzt wieder schwerer und Octavena wusste erneut nicht, wie sie dieses Problem am besten lösen sollte. Und wie immer, wenn Octavena nicht recht weiter wusste, versuchte sie einfach, sich selbst beschäftigt zu halten bis sie doch noch auf eine Idee kam. Irgendwie würden die Dinge schon wieder ins Lot kommen. Sie mussten es einfach.


    Trotzdem war sie an diesem Tag etwas fahrig und statt ihre Einkaufsliste gemeinsam mit den beiden Mägden, die sie als Unterstützung für ihre Besorgungen in die Stadt mitgenommen hatte, übers Forum zu ziehen, hatte Octavena die beiden anderen Frauen allein losgeschickt und strich nun allein zwischen den Ständen hin und her. Ab und zu traf sie eine Bekannte oder alte Freundin, mit der sie ein paar Worte wechselte, aber jedes Gespräch erinnerte sie auch daran, wie sehr sie sich in den letzten Monaten zurückgezogen hatte. Sie bemerkte die manchmal skeptischen, manchmal besorgten Blicke und auch wenn ein Teil von ihr genau das hasste, so überraschte sie auch kein einziger davon. Es hatte mal Zeiten gegeben, in denen sie ganz gut auf dem Laufenden gewesen war, wessen Tochter wann wen heiratete, wer gerade gestorben war oder wer ein Kind bekommen hatte. Ihr Einsiedlerinnentum passte nicht zu ihr und natürlich erzeugte das mehr als ein paar hochgezogene Augenbrauen.


    Nicht zuletzt war es natürlich auch müßig, darüber zu grübeln, was wer über sie dachte. Irgendwer tratschte immer und Octavena hatte zu oft dabei mitgeredet, um das anderen Leuten ernsthaft zu verübeln. Stattdessen schob sie diese Gedanken bestimmt zur Seite und zwang sich, sich auf das zu konzentrieren, weswegen sie hier war: Stoffe. Also streckte sie ihren Rücken etwas durch, zwang sich zu einer unbeschwerten Miene und hielt mit ruhigen, bestimmten Schritten auf den Tuchhändler zu.

    In einem Moment waren Octavena und Adalheidis noch fröhlich am Reden, im nächsten verstummte die Germanin abrupt. Stirnrunzelnd wandte Octavena sich um, nur um zu sehen, wie sich Adalheidis über ein blutiges Bündel - einen Vogel? - beugte und mit einem Mal einen untypisch grimmigen Gesichtsausdruck annahm und verkündete, dass sie gehen musste.

    "Aber ... Was-", setzte Octavena noch an, doch verstummte noch im selben Moment wieder als sie die Entschlossenheit im Blick der anderen Frau erkannte. Es ergab keinen Sinn, denn eigentlich war Adalheidis doch gerade erst angekommen und Ildrun und Farold hatten gerade erst begonnen, sich der alten Frau und ihrer freundlich-bestimmten Art zu öffnen, aber Octavena spürte dennoch vage, dass was auch immer es war, das die andere nun wieder fortzog, zu wichtig war, um sie zum Bleiben zu bewegen. "Leb wohl", sagte sie stattdessen leise und nickte knapp. "Ich wünsche dir eine sichere Reise, vielleicht kreuzen sich unsere Wege eines Tages wieder."

    Damit ließ Octavena Adalheidis ziehen und wandte sich schweren Herzens wieder ihren eigenen Problemen zu, die sie nun wieder allein zu bewältigen hatte.

    Ein amüsiertes Lächeln huschte über Octavenas Züge und sie stemmte eine Hand in die Seite, nun doch auch etwas neugierig über das Anliegen des Fremden. "Es ist natürlich schön, dass unser guter Ruf bis nach Rom reicht", erwiderte sie dann und verkniff sich die Bemerkung, dass sie trotz allem nicht erwartet hätte, dass den Ducciern und ihrem Stammsitz ausgerechnet ein Ruf als Bauern bis nach Rom vorauseilte. "Aber unter den Familienangehörigen hier wirst du wohl im Moment niemanden finden, der dir weiterhelfen kann. Hier leben von der Familie im Moment nur Duccia Venusia, meine Kinder und ich. Aber du kannst drüben bei den Weiden gerne einmal rumfragen, da solltest du jemanden für dein Anliegen finden. Such am besten nach Gerolf. Und sag ihm ruhig, dass ich dich geschickt habe." Sie war gedanklich schon wieder fast zurück auf ihrem Weg nach drinnen, hielt dann aber noch im selben Moment wieder inne, als ihr ein weiterer Gedanke kam. "Helvetius ist dein Name sagtest du? Bist du dann ein Verwandter von Helvetius Curio und seinem Bruder? Oder was hat dich von Rom ausgerechnet nach Mogontiacum verschlagen?"

    Octavena lächelte schief angesichts von Adalheidis' Bemerkung über Ildrun und nickte. "Sie hat mehr von mir als sie sieht oder jemals zugeben würde", erwiderte sie zustimmend mit einem leicht amüsierten Unterton. "Und ich war einmal genauso wie sie jetzt, auch wenn ich damals ein paar Jahre älter war." Dass auch bei ihr der Tod eines Elternteils das Verhältnis zum anderen verkompliziert hatte, verschwiegen sie allerdings. "Aber der Leim für Farold ist eine sehr gute Idee. Wahrscheinlich bereue ich das, sobald er damit irgendetwas zusammenklebt, was er nicht zusammenkleben sollte, aber ich bin froh, dass er in letzter Zeit so viel bastelt. Er hat ganz offensichtlich Spaß daran."


    Als Antwort auf Adalheidis' Vorschläge für das Gartenfest nickte Octavena dann anerkennend. "Der Speiseplan steht noch nicht, aber deine Vorschläge klingen gut. Und du wirst sowieso auch viel mit den Vorbereitungen zu tun haben, da ist es nur sinnvoll, wenn du bei der Planung mithilfst." Sie begann, über den Markt zu schlendern und ließ dabei ihren Blick über die Stände und Waren gleiten, an denen sie vorbeigingen. "Eigentlich ist es ja nichts unglaublich Besonderes, aber es wird schön sein, mal wieder das Haus - oder viel mehr den Garten - voller Gäste zu haben. Das letzte Mal ist länger her als ich es mir gewünscht hätte." Sie seufzte etwas melancholisch und bog dann zwischen zwei Marktständen ab, als sie den Stand mit dem Olivenöl entdeckte, das Adalheidis erwähnt hatte. "Und? Hast du dich gut in den Haushalt einfinden können? Ich weiß, es ist nicht immer einfach, in der Villa zu arbeiten, so hektisch wie es trotz allem an manchen Tagen dort zugehen kann, aber ich hoffe du bist trotzdem zufrieden bisher. Farold schwärmt jedenfalls noch immer von dem Schiffchen, das du mit ihm gebastelt hast."

    Die junge Frau runzelte überrascht die Stirn. "Ich nehme an, du könntest mit ein paar der Angestellten hier reden. Der eine oder andere kann sicher ein paar deiner Fragen beantworten", begann sie zögerlich und warf einen etwas unsicheren Blick in Richtung des Wohnhauses. "Aber ich denke, da solltest du zuerst eine der Damen des Hauses um Erlaubnis fragen." Sie deutete vage in die Richtung hinter sich. "Eine der beiden müsste-"

    "Ilda!", ertönte es da deutlich, wenn auch noch nicht richtig unfreundlich vom Weg zum Haus und im nächsten Moment kam Octavena selbst in Richtung des Torhauses geschritten. "Wo bleibst du? Du wirst in der Küche gebraucht!" Sie verlangsamte ihre Schritte, als sie den Fremden entdeckte und hob fragend die Brauen.

    "Petronia, das ist Tiberius Helvetius Faustus, er würde gerne mit ein paar der Angestellten über ... Landwirtschaft sprechen", beeilte sich Ilda die Anwesenheit des Fremden zu erklären, offensichtlich noch immer etwas verwirrt von seiner Frage. "Helvetius, das ist Petronia Octavena, die Hausherrin."

    "Salve." Octavena nickte in Richtung des Neuankömmlings und wandte sich dann noch einmal kurz Ilda zu. "Ich kümmere mich hierum, geh' du zurück in die Küche, die anderen brauchen deine Hilfe." Die junge Frau nickte eilig und während sie sich auf den Weg zurück zum Haus machte, wandte sich Octavena nun mit meinem höflichen Lächeln dem Mann vor sich zu. "Entschuldige. Eine unserer Mägde ist krank und deshalb fehlt uns heute ein Paar Hände, das macht im Moment einiges etwas hektisch." Sie sah ihn fragend an. "Habe ich das richtig verstanden? Du bist hier, weil du gerne mit ein paar unserer Angestellten über Landwirtschaft sprechen würdest?"