Kurz fragte Octavena sich, ob sie etwas Falsches gesagt hatte, als sie den Blick bemerkte, mit dem Hadamar sie bedachte und den sie nicht ganz zu deuten wusste. Sie hatte die Bemerkung tatsächlich so gemeint und nicht groß darüber nachgedacht, andererseits musste das ja nichts heißen, wenn sie am Ende anders bei ihm angekommen war. In jedem Fall bestätigte die Reaktion gemeinsam mit dem Seufzen, das er ausstieß, die Vermutung, die Octavena ohnehin schon gehabt hatte: Dass ihm scheinbar ganz genauso wie ihr ein paar Sorgen und Probleme durch den Kopf gingen, die ihre Zeit brauchen würden.
Umso besser und vor allem unverfänglicher war es aber, das Thema zu wechseln. Gerade weil es deutlich angenehmer war, Hadamar zuzuhören, wie er über Tariq sprach, als weiter umeinander herumzutänzeln und zu versuchen, bloß nicht aus Versehen Wunden aufzureißen, von denen sie beide wussten, dass sie wahrscheinlich da waren, aber nicht wissen konnten, wo sie genau lagen. "Nein, ich verstehe schon, was du meinst", erwiderte Octavena noch immer schmunzelnd, auch wenn sie inzwischen ihre Züge wieder besser unter Kontrolle hatte als noch kurz vorher, schon um nicht den Eindruck zu erwecken, dass sie ihn auslachen wollte. "Man merkt dir an, dass Tariq dir wichtig ist und dass du dich für ihn verantwortlich fühlst. Da ergibt das nur Sinn."
Als Hadamar sie dann nach ihren Kindern fragte, stieß Octavena einen tiefen Atemzug langsam aus und beobachtete dann, wie sich die kleine Wolke, die sich so vor ihrem Gesicht bildete, in Luft auflöste. Ein Teil der Antwort auf diese Frage war ein sehr leichtes Thema, der andere war … schwieriger. "Du hast ja Farold erlebt", begann sie schließlich und konnte trotz allem nicht anders als beim Gedanken an ihren Sohn breit zu lächeln. "Er ist munter wie eh und je. Ein Chaos auf zwei Beinen, immer neugierig und immer auf der Suche nach dem nächsten interessanten Unsinn, den er anstellen kann." Sie lachte und obwohl sie sich sicher war, dass ihr genau das, was sie gerade beschrieb, noch so manches graues Haar bescheren würde, konnte sie sich auch einen Anflug mütterlichen Stolzes nicht ganz verkneifen. "Und selbstverständlich hat er es astrein raus, wie er so unschuldig tun kann, dass ich mich schwertue ihm irgendetwas übelzunehmen." Sie lächelte einen kurzen Moment lang in sich hinein. Farold war der einfache Teil dieses Themas. Es war leicht, darüber zu reden, wie er sie auf Trab hielt, weil das bedeutete, dass es ihm gutging. Weil er sich trotz allem im vergangenen Jahr als viel zäher erwiesen hatte, als Octavena befürchtet hatte.
"Ildrun dagegen …" Octavena seufzte. "Ildrun tut sich schwer. Sie vermisst Witjon und die letzten Monate waren deshalb hart für sie", gab sie dann zu. "Die beiden hatten eben immer ein enges Verhältnis und jetzt muss sie stattdessen mit mir Vorlieb nehmen." Ein leicht gequältes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, während sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte und dabei zu Boden blickte. "Das gefällt ihr nicht und wenn Ildrun etwas nicht gefällt, dann sperrt sie sich komplett dagegen. Oder versucht es wenigstens." Das war schon immer so gewesen. So sehr Octavena auch die Tage vermisste, als Ildrun sie noch an sich heran gelassen hatte - eigensinnig war ihre Tochter von dem Moment an gewesen, an dem sie auch nur ansatzweise einen eigenen Gedanken hatte fassen können. So sehr, dass das sogar von Zeit zu Zeit zu Spannungen zwischen ihren Eltern geführt hatte, weil Witjon seiner Tochter selten einen Wunsch hatte abschlagen können und das dann eher Octavena überlassen hatte. Und das wiederum hatte sie dann mehr als ein Mal die Wände rauf getrieben.
Sie strich sich beiläufig eine Haarsträhne, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte, hinters Ohr und sah wieder auf. "Aber na ja … Im Grunde geht es beiden gut. Sie sind gesund und fegen hier eigentlich ständig wie ein Sturm übers Gelände. Ich mache mir natürlich wie immer Sorgen, aber das haben Mütter wohl einfach so an sich. Von daher kann ich mich wahrscheinlich nicht beschweren." Oder vermutlich sollte sie es nicht. Jedenfalls nicht, wenn sie sich nicht schon wieder wie eine fürchterliche Glucke aufführen wollte. Dabei bereitete gerade Ildrun Octavena nun einmal mehr Sorge als sie hier gerade zugab. Nur das zuzugeben, hätte bedeutet, zu jammern und zu jammern hätte bedeutet, bei Hadamar Dinge abzuladen, die definitiv nicht sein Problem waren.
"Ich glaube übrigens, dass du nach Tariq der nächste sein dürftest, den Farold früher oder später belagert", fuhr sie deshalb fort, ehe sie doch noch zu viel von ihren Sorgen ausschütten konnte und grinste wieder ein wenig. "Er hat Wind davon bekommen, dass du noch mehr rumgekommen bist als Tariq, und dann dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis seine Neugier über die erste Scheu siegt. Ein Onkel, den es schon quer durch die Provinzen verschlagen hat, übt natürlich eine ganz eigene Form von Faszination auf ihn aus." Dann wurde ihr Gesichtsausdruck wieder etwas ernster und sie hob entschuldigend die Schultern. "Er kann etwas … überschwänglich werden, wenn das Eis erst einmal gebrochen ist und ihn die Neugier gepackt hat. Das nur als kleine Warnung bevor er dich einfach so überfällt." Den Hinweis, den sie Tariq gegeben hatte, dass er Farold auch ausbremsen konnte, sparte Octavena sich in diesem Moment. Einerseits nahm sie an, dass Hadamar darauf schon von alleine kommen würde, und andererseits ging sie ohnehin davon aus, dass ihre Kinder ihm dahingehend nur begrenzt eine Wahl lassen würden. Er war Familie und früher oder später würde es die beiden deshalb auf die eine oder andere Weise in seine Nähe ziehen, wenn sie die Gelegenheit dazu bekamen. Sei es aus Neugier oder aus Gewohnheit, weil sie seine Geschwister sowieso kannten und es auch sonst einfach gewohnt waren, dass sie Verwandtschaft eher auf die Nerven gehen durften als Außenstehenden.