Iring bestätigte Octavenas Verdacht, dass er auf eine klarere und einfachere Antwort von ihr gehofft hatte, diskutierte aber auch nicht mit ihr. Das war wahrscheinlich ein gutes Zeichen, genauso wie die Tatsache, dass er und Rhaban ohnehin vorhatten, auch noch mit dem Rest der Familie zu reden. Das bedeutete, dass die beiden eigentlich schon von allein darauf gekommen waren, dass ihnen diese Entscheidung niemand mehr so einfach abnehmen konnte oder würde, wie Witjon das gekonnt hätte. Trotzdem ärgerte sich Octavena insgeheim ein wenig, dass sie ihrem Mann nicht mehr Druck gemacht hatte, in dieser Sache klare - oder wenigstens klarere - Verhältnisse zu schaffen. Sie hatte immer ein wenig den Verdacht gehabt, dass sich dieses Heranziehen der beiden Brüder, ohne ihnen tatsächlich eine offizielle Position zu geben, früher oder später rächen würde. Denn während Audaod als Witjons ältester Sohn und Erbe immer weit weg in Rom gewesen war und auch keine Anstalten gemacht hatte, heim zu kommen, waren Iring und Rhaban eben da gewesen. Selbst wenn Audaod irgendwann beschlossen hätte, nach Mogontiacum zurückzukehren, hätte das sicher auf die eine oder andere Weise für Spannungen in der Familie gesorgt. Die Art Spannungen, bei denen Octavena, wenn Witjon schon nicht von allein tätig geworden war, sonst eigentlich meistens versucht hatte, ihnen elegant aus dem Hintergrund heraus entgegenzusteuern, noch bevor sie akut werden konnten. Sie wusste zwar nicht, ob es in diesem Fall überhaupt etwas gebracht hätte, Witjon in dieser Sache ins Gewissen reden zu wollen, aber dass sie es nicht einmal versucht hatte, ärgerte die trotzdem. Gleichzeitig war es inzwischen nur noch müßig, darüber nachzudenken. Die Situation war wie sie war und daran würden nur die Lebenden noch etwas ändern können, nicht die Toten.
"Tut mir leid", erwiderte sie und warf Iring ein entschuldigendes Lächeln zu. "Falls es hilft: Ich habe wirklich Vertrauen in euch. Aber genau deshalb ist es eben besser, wenn ich mich da raushalte."
Octavena meinte ihre Worte schon in diesem Moment so wie sie sie sagte - sie hatte wirklich Vertrauen in Iring und Rhaban. Witjon hatte sich schon etwas gedacht, als er die beiden mit ins Geschäft eingebunden hatte, und den Rest, der sicher auch viel mit Dingen auf ganz persönlicher Ebene zu tun hatte, würden sie schon noch herausfinden. Trotzdem bestätigte Iring - vielleicht sogar unbewusst - wenig später genau dieses Vertrauen mit seiner nächsten Antwort. Octavena registrierte dabei sehr genau, wie er seine Worte abwägte und sich offensichtlich Mühe gab, sie weder zu drängen noch ihr Vorwürfe zu machen - obwohl sie beides verstanden hätte. Genau deshalb war sie ihm aber auch dankbar für seine Rücksicht, so merkwürdig es sich auch für sie anfühlte, darauf angewiesen zu sein. Nicht nur, weil er ihr hier einen leichten Ausweg, sondern ihr vor allem einen Einstieg anbot. Und während sie ihm zuhörte, wurde Octavena mehr und mehr bewusst, dass sie diesen Einstieg auch wollte. Sie hatte sowieso ein schlechtes Gewissen, weil sie sich so wenig mit Witjons Erbe auseinandergesetzt hatte, und eigentlich war es wirklich nicht ihre Art, vor einer Herausforderung wegzulaufen, ganz im Gegenteil. Sie war immer stolz darauf gewesen, sich im Zweifelsfall allem zu stellen, was ihr das Leben entgegenwarf. Stolz darauf, diejenige zu sein, auf die sich andere ohne nachzudenken verlassen konnten, weil sie in der Regel nicht lange fackelte, sondern einfach machte. Aber das hier … das hier war komplizierter.
"Ja, vielleicht." Octavena lachte leise, als Iring meinte, dass es ja auch sein konnte, dass sie Spaß daran haben würde, wenn sie einmal anfing, sich selbst um die Betriebe zu kümmern. Tatsächlich nahm ihr unter anderem dieser Gedanke einen guten Teil ihrer Anspannung. Sie hatte das Thema gemieden, weil sie allgemein versucht hatte, zu vermeiden, zu viel an Witjon zu denken. Sein Tod mochte noch immer kein ganz einfaches Thema für sie sein, aber sie merkte selbst, dass es ihr trotz allem inzwischen schon deutlich besser ging als noch vor ein paar Monaten. Sie war dabei, langsam ihren Blick freiwillig wieder auf die Zukunft zu heften. Nicht aus Zwang, weil einfach kein Weg daran vorbeiführte, sondern weil sie es wollte. Vielleicht war jetzt wirklich der richtige Moment gekommen, um einen weiteren Schritt in diese Richtung zu gehen. Sich den Teil ihrer Selbst zurückzuholen, der sich eben nicht von einer Herausforderung einfach so einschüchtern ließ. Auch wenn das bedeutete, dass sie auf Hilfe angewiesen sein würde. Schließlich nickte Octavena langsam. "Du hast wahrscheinlich recht, ich sollte es wenigstens versuchen, mir selbst einen Überblick zu verschaffen ... Ich will mich ja auch selbst um diese Dinge kümmern und vor allem kümmern können", sagte sie dann und merkte, wie die Unsicherheit, die sie eben noch erfasst hatte, nun wirklich wieder verschwand. "Ich werde garantiert auf das Hilfsangebot zurückkommen müssen und es kann sein, dass ich euch drei dann mit mehr als einer vielleicht noch so banalen Frage nerven muss, aber ... gut, dann arbeite ich mich selbst in das alles ein, was ich wissen muss. Sowohl in Bezug auf Witjons Betriebe als auch bei der Freya." Sie lächelte ein wenig und zögerte einen Moment, sprach dann aber den nächsten Gedanken einfach gerade heraus aus. Weil er ihr tatsächlich wichtig vorkam. Abgesehen davon war sie gerade ohnehin schon so ehrlich gewesen wie selten in den letzten Monaten, dann machte das jetzt auch keinen Unterschied mehr. "Und ... Danke. Mir ist selbst klar, dass du mir das nicht hättest anbieten müssen."