Der Briefverkehr mit Rom war leider sehr eingeschlafen. Genaugenommen war er fast nicht mehr vorhanden. Lucia wusste nicht warum und fühlte sich ziemlich alleingelassen. Zwar hatte sie sich auch immer etwas Zeit zum Schreiben gelassen, aber doch nicht so lange, dass man ihr böse hätte sein können. Es war klar, dass jeder auch sein Leben hatte und da natürlich beschäftigt war. Aber Lucia hatte sich von so manchen eine innigere Freundschaft erhofft.
Umso mehr freute sie sich, als sie einen Brief von ihrem alten Freund Iulius Dives bekam. Was er wohl erzählen würde? Ob er eine Erklärung bieten würde? Was es in Rom wohl so Neues gab? Vorfreudig begann Lucia zu lesen.
Roma, PR ID AUG DCCCLXVII A.U.C.
Ad
Tiberia Lucia
Domus Legati Augusti pro Praetore
Mogontiacum, Germania Superior
Iulius Dives Tiberiae Luciae s.d.
Nachdem ich seit deiner Abreise aus der Urbs Aeterna leider nichts mehr von dir gehört habe, hoffe ich zunächst dennoch sehr, dass es dir, deiner Tochter und deinem Gatten, meinem Mitklienten Duccius, gut geht.
Ich muss gestehen, dass ich etwas in Sorge war - und ehrlicherweise noch immer ein wenig in Sorge bin -, da ich auf meine letzten Briefe in den hohen Norden bis heute keine Antwort erhielt - weder von dir noch von meinem geschätzten Großonkel, dem Praefectus Castrorum Iulius Licinus. Lange habe ich gewartet, laborierte zwischenzeitlich an einem tückischen Fieber und wartete anschließend weiter auf eine Nachricht aus Germania. Doch damit ist nun Schluss.
Er hatte nie eine Antwort erhalten?! Lucia brach entgeistert im Lesen ab. Das konnte doch nicht wahr sein! Erst der Brief an Avianus - den sie zu ihrer Schande noch immer nicht erneut abgeschickt hatte - und jezt das! Aber es schien ja nicht nur von ihr so zu sein. Licinus sollte auch nicht geantwortet haben? Das konnte sich Lucia nicht vorstellen! Da musste irgendwas schiefgelaufen sein! Die ganze Zeit hatte der arme Dives sich Sorgen gemacht! Lucia legte sich mitfühlend die Hand aufs Herz. Das durfte doch nicht wahr sein!
Den Göttern sei Dank, dass er noch einmal geschrieben hatte! Am Ende wäre wegen irgendeiner dummen Lapalie ihre Freundschaft kaputt gegangen! Mit vor Empöhrung erhöhtem Puls las Lucia weiter.
Die aktuellen Ereignisse zwingen mich, mein Warten zu beenden und neuerlich schreibend aktiv zu werden. Denn Tiberia Lucia, Roma wird erfüllt von Angst und Schrecken. Es sind furchtbare Szenen, die sich hier abspielen! Die Domus Iulia blieb bislang zum Glück verschont, sodass wir, ich und die Meinen, bisher unbeschadet davongekommen sind. Die kaum einen Steinwurf entfernte Villa Tiberia jedoch, der ehrwürdige Stammsitz deiner Gentilen, wurde gewaltsam mit Äxten aufgebrochen und brutal geplündert. Ein gerade von den Märkten zurückkehrender Angestellter meines Haushalts erzählte mir die grausamsten Geschichten von kaltherzig Enthaupteten, deren Köpfe absolut barbarisch einfach so den Esquilinus Mons hinunter geworfen wurden. Die ehrwürdige Villa Tiberia derweil fiel zu großen Teilen einer Feuersbrust zum Opfer.
Die tabula entglitt Lucias Fingern und fiel klappernd auf den Tisch. Bitte was war passiert? Hektisch hob sie das Schriftstück wieder auf und las den letzten Abschnitt noch einmal. Sie konnte es noch immer nicht glauben. Ihr Magen zog sich zusammen und sie schluckte krampfhaft. Ihres nun noch mehr beschleunigten Herzschlages unangenehm bewusst las Lucia weiter. Sie musste es jetzt ganz wissen. Wer? Und: Warum? Dives war nicht so geschmacklos so etwas als einen üblen Scherz zu schreiben, also musste es wahr sein.
Ich bin noch immer ganz schockiert von der rohen Brutalität dieser marodierenden Meute; noch immer ganz mitgenommen von dem augenscheinlichen Glück, mit dem die Domus Iulia bisher davonkam; noch immer voller Anteilnahme und Mitgefühl für das Schicksal meiner tiberischen Freunde. Habe ich noch vor eine Weile sehr bedauert, dass sich dein geschätzter Bruder Lepidus aus Roma zurückzog, bin ich heuer äußerst froh, dass ihr beide nicht hier seid; dass ihr beide nicht unter den Opfern seid; dass es nicht eure Köpfe sind, die mit angsterfüllten Gesichtern den Esquilinus Mons hinunter in die Tiefe rollen. Minerva möge euch stets mit Speer und Schild verteidigen.
Lucius war in Sicherheit. Egal wie Lucia in den letzten Jahren zu ihrem Bruder gestanden hatte, bei diesen Zeilen verspührte sie ungemeine Erleichterung. Zwar hatte Dives ihr auf die Fragen nach dem Wer und Warum noch immer keine eindeutige Antwort gegeben, aber das war jetzt kurz nebensächlich. Lucius war am Leben. Trotz ihres Fluches hatte sie nie gewollt, dass Lucius starb, er sollte nur bezahlen. Der Fluch. Lucias Magen sackte erneut nach unten. Bei den Göttern, da war doch nicht ihr Fluch daran Schuld, oder? Das hatte sie nicht gewollt! Das hatte sie nie verlangt! Das konnte einfach nicht sein. Entsetzt kramte Lucia in ihren Erinnerungen. Drei Dinge hatte sie verflucht. Seine Verbindung zu den Göttern, sein Verstand, und er sollte nie einen Erben... nein, die Zerstörung der Villa war nie... Lucia schüttelte wie betäubt den Kopf. Sie musste weiterlesen. vielleicht stand da noch etwas.. irgendetwas...
In einem Brief an deinen Bruder versicherte ich ihm heute, dass ich ihm jederzeit meine helfende Hand reiche; dass ich zu jeder Zeit brüderlich an seiner Seite stehen werde, wenn es darum geht, die Verantwortlichen für diese abstoßenden Untaten - die neben der Villa Tiberia auch noch mehrere weitere Haushalte in Roma trafen - ihrer gerechten Strafe zuzuführen; und dass die Domus Iulia einem Freund wie ihm jederzeit offensteht. Dieselben Worte richte ich hiermit nun auch an dich - nicht weil ich denke, dass du dieses Angebot als Frau eines Consulars nötig hättest; aber weil es mir ein tief empfundenes Bedürfnis ist, auch dir gegenüber meine Solidarität auszudrücken.
Mögen die Unsterblichen stets wachen über dich und eure Familia. Vale bene!
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MARCUS IULIUS DIVES
SENATOR ET ORATOR
Das war es. Mehr stand dort nicht. Mit zitternden Händen legte Lucia die tabula auf den Tisch und versuchte tief durchzuatmen - vergeblich. Ihre Brust hob sich nur ruckhaft. Es waren noch andere betroffen... vielleicht war es also doch nicht ihre Schuld. Doch Lucia schaffte es nicht ihre Zweifel und Schuldgefühle zu beruhigen. Am Ende war es nur wieder einer dieser gräßlich verwinkelten Wege der Götter ihren Fluch wahr zu machen. Denn: Ihr Zuhause... es war weg. Ihr einziges wirkliches Zuhause gab es nicht mehr. Ihr Zimmer, ihre Sachen die sie dort gelassen hatte. Der Garten! Alles im Feuer verschwunden. Lucia fühlte sich wie betäubt. Aber wie mochte sich Lucius fühlen? War das ein Schritt für ihn auf dem Weg in den Wahnsinn? Das war es. Entsetzen erfüllte Lucia. Es war ihre Schuld.