Beiträge von Marcus Decimus Aquila

    Aquila nickte dem Ianitor zu und folgte dem Sklaven ins Haus hinein bis ins Atrium, wo er sich einen gemischten Wein geben ließ. Er nippte an dem Becher und sah sich ausgiebig um, während er darauf wartete, dass jemand kam. Der Anblick war etwas verstörend, musste er zugeben. Er hatte nicht überbordenden Prunk erwartet, aber doch... einfach mehr als das hier. Sitzgelegenheiten fehlten größtenteils, das Mosaik am Boden hatte merkwürdige Flecken, und bei der ein oder anderen Büste konnte er bei genauerem Hinsehen Bruchstellen und Risse entdecken.


    Eine davon betrachtete er gerade, als er jemanden kommen hörte. Aquila drehte sich um, nicht hastig, als sei er bei irgendwas ertappt worden, aber nicht unbedingt langsam – dafür war er viel zu ungeduldig, jetzt, wo er endlich angekommen war, wo die Reise ihr Ende gefunden hatte und Bad und Bett in greifbarer Nähe waren. Dexter, ratterte es in seinem Hirn, als einer der beiden, die gekommen waren, sich vorstellte. Den Familienstammbaum wenigstens in groben Zügen zu kennen, hatte mit zu seiner Ausbildung gehört, und wo ihn irgendwelche entfernten Verwandten eher wenig interessiert hatten, vorausgesetzt sie hatten nicht gerade irgendwas geleistet, hatte er sich darum bemüht die zu lernen, von denen er wusste dass er in Rom auf sie treffen würde. „Salve, Dexter. Varenus ist dein Vater, richtig?“ lächelte er und bot ihm die Hand zum Gruß an. „Ich bin Marcus Aquila, Sohn von Maximian. Gerade aus Tarraco angekommen.“

    „Ich bin Marcus Aquila, gerade aus Tarraco eingetroffen. Meridius ist mein Großvater, er hat mich nach Rom geschickt.“ Aquila selbst war es, der antwortete, er sah nicht wirklich viel Sinn darin, sich immer alles von Sklaven abnehmen zu lassen, jedenfalls wenn es um so etwas ging. Er hob kurz die Hand, an der er den Siegelring seiner Familie trug – und winkte in derselben Bewegung dann doch noch einem der Sklaven zu. Der war es nämlich, der die Schreiben seiner Verwandten bei sich trug für die Familie in Rom, und die zog der Sklave nun auch bereitwillig hervor und wedelte damit kurz vor der Nase des Ianitors herum, so dass der die gesiegelten Schriftrollen sehen konnte – und vor allem das Siegel. „Ich werd in Zukunft hier leben. Und ich würd gern rein“, fügte er noch an, mit einer Mischung aus leichter Arroganz und beinahe quengeliger Ungeduld.

    Aquila war fertig. So froh er war, endlich nach Rom kommen zu können, und so froh er war, nach der langen Reise endlich in Rom zu sein – oder ganz egal wo, Hauptsache angekommen –, er war zu fertig, um sich so wirklich darüber freuen zu können. Nicht einmal so wirklich darüber, dass er seine Ankunft kaum besser hätte planen können: der Cornelier, so hieß es, würde in den nächsten Tagen ebenfalls in Rom eintreffen, und dann, so jedenfalls die einhellige Hoffnung aller, mit denen er in den vergangenen Tagen gesprochen hatte, in der Reisegruppe oder in den Gasthäusern, in denen sie genächtigt hatten, würde endlich wirklich Ruhe einkehren. Dass der Cornelier so nah war und bald die Regierungsgeschäfte übernehmen würde, war tatsächlich eine gute Nachricht, auch für die Decimi, weil sich dann heraus stellen würde, wie sehr die in Rom ansässigen Familienmitglieder als Verräter oder ähnliches gebrandmarkt würden... und auch wenn Aquila hoffte, dass das nicht in allzu großem Ausmaß passierte, war es doch in erster Linie wichtig, einfach zu wissen woran sie waren, damit sie darauf wieder aufbauen konnten.


    Aber nicht einmal darüber konnte Aquila sich freuen, dass er zum richtigen Zeitpunkt kam. Reisen war einfach anstrengend, und er wollte eigentlich nur noch ein Bad und ein Bett, nicht zwangsläufig in dieser Reihenfolge. Mit zwei Sklaven und einem seiner Lehrer im Schlepptau, der ihm auch hier noch zur Seite stehen sollte in seiner Anfangsphase, kam er also endlich zur Casa Decima und ließ einen der Sklaven anklopfen.

    Aquila war schon seit Tagen ruhelos. Er absolvierte weiter seinen Unterricht, das Training, tat was ihm aufgetragen wurde... aber nach der Unterhaltung mit seinem Onkel, nach den Nachrichten aus Rom, wurde er immer hibbeliger. Er wollte endlich nach Rom. In erster Linie, weil ihm hier in Tarraco mittlerweile die Decke auf den Kopf fiel. Es war langweilig, tagein, tagaus das Gleiche... Aquila wollte endlich das tun, wozu er all die Jahre erzogen, wozu er getrimmt worden war. Er fand, dass er hier nichts mehr lernen konnte, nichts mehr, was ihn weiter brachte, und er redete sich die Zunge wund, um seine Verwandten zu überzeugen dass er endlich mal anfangen musste, in der Praxis zu beweisen, was er in der Theorie gelernt hatte. Und gerade so eine schwierige Phase wie jetzt war doch prädestiniert dafür, um jemanden wie ihn lernen zu lassen! Wann sonst hatte man schon die Gelegenheit, in so einer Lage für seine Familie einzustehen? Wenn er da erst mal durch war, durch den Antagonismus, den die Decimer in Rom gerade wohl erfahren mussten... konnte ihn so schnell nichts mehr umhauen. Kein Klinkenputzen um Unterstützer zu gewinnen, keine Bewerbung, die er vor dem Senat halten musste, keine Rede vor einer Legion. Gar nicht zu reden von der Unterstützung, die die Verwandten in Rom dringend nötig hatten. Gerade weil er jung war und völlig unbekannt in Rom, hatte er doch eigentlich einen Bonus, fand er, argumentierte er, schwafelte er. Er schwafelte so sehr, dass sein Großvater ihn irgendwann halb lachend, halb ärgerlich meinte, dass er zumindest schon reden könnte wie ein Politiker. Aquila natürlich, nicht auf den Mund gefallen, nutzte die vermeintliche Gunst der Stunde und konterte sofort, na, dann könnten sie ihn doch ruhigen Gewissens nach Rom schicken... woraufhin sein Großvater ihn davon jagte. Allerdings immer noch mit Schalk in den Augen, jedenfalls meinte Aquila das gesehen zu haben... was er jetzt mal als positives Zeichen nahm.


    So versuchte Aquila also, seine Ziele zu erreichen... Aber ein Brief aus Rom sorgte dafür, dass das Pendel endgültig zu seinen Gunsten ausschlug. Ein Brief von ihren Verwandten, mit einer Beschreibung der Lage – die Stadt zwar gesichert, aber die Lage alles andere als rosig für die Decimi. Drei – drei! – von ihnen saßen im Carcer. In der Casa waren nur noch zwei übrig, und beide auch noch relativ jung. Aquila wusste nicht genau, was davon wirklich den Ausschlag gegeben hatte, und es war ihm auch relativ egal. Was zählte war nur, dass sein Großvater nach Erhalt dieses Briefs endlich sein Einverständnis gab, dass er nach Rom reisen durfte. Und so ging es endlich los für ihn... in die Urbs Aeterna.

    Aquila wäre am liebsten unruhig auf seinem Stuhl hin und her gerutscht, während sein Onkel einfach nur da saß und zu überlegen schien – aber zum einen tat für nervöses Gezappel zu viel weh, und zum anderen hätte das wohl einen schlechten Eindruck gemacht... gerade wo er doch versuchte, sich vernünftig und erwachsen zu geben. Livianus musste ja nicht nur einsehen, dass es das Beste war jemanden mitzunehmen, er musste auch sehen, dass es richtig war ihn mitzunehmen. Also riss Aquila sich zusammen und bemühte sich darum, möglichst geduldig und gelassen zu wirken. Und auch wenn ihm das wohl nicht vollkommen gelang... glaubte er doch mit sich zufrieden sein zu können.
    Als sein Onkel dann aber erneut anfing zu sprechen, war es für Momente wieder vorbei mit der Selbstbeherrschung. Aquila klappte den Mund auf, und er starrte seinen Onkel für einen Augenblick einfach nur an. Machte der Witze? Oder war das nur eine weitere Form von Test? Immerhin waren gerade Flavus und er jahrelang nur dafür ausgebildet worden, irgendwann in Rom anzutreten und der Familie Ehre zu machen, und Aquila hatte nie den Eindruck gehabt, als ob es da großartig Wahlmöglichkeiten gab... selbst wenn er das denn gewollt hätte. Was aber nicht so war, immerhin, was könnte es besseres geben irgendwann mal eine Legion zu kommandieren? Das wollte er schon, seit er denken konnte. In die Fußstapfen seines Großvaters treten. Und der wollte das auch.
    Entsprechend perplex starrte er seinen Onkel erst mal nur an, während er überlegte, warum er ihn das fragte. „Ehm. Eh“, stotterte er dann... bevor er sich räusperte und nach einer etwas intelligenteren Wortwahl suchte. „Also: Flavus will Ritter werden.“ Ob der das nun wollte, weil ihm das ebenfalls von der Familie schon von klein auf eingegeben worden war, wusste er nicht so genau. Aquila zuckte leicht die Achseln. „Und ich Senator. Ich will...“ werden wie mein Großvater. Nein, das klang zu sehr wie ein kleiner Junge, da musste sich was anderes finden lassen. „...der Familie Ehre machen...“, fuhr er fort, und es klang ein wenig lahm, fand er – kein Wunder, das war das, was Verwandte und Lehrer einem halt so eintrichterten. „...auf dem Weg in den Senat... und im Senat dann...“ Das klang so... so... so gar nicht begeistert. Und so gar nicht, wie er sich fühlte, wenn er an seine Zukunft dachte, oder was er wollte. Er sagte gerade einfach nur, wovon er glaubte was sein Onkel wohl hören wollte, aber das war... nicht das echte Ding.
    Scheiß drauf. „Ich will irgendwann Legionen anführen!“ platzte es aus ihm heraus. „So wie mein Großvater, so wie du! Ich will zum Ruhm Roms beitragen, ich will ein Teil von dem sein, was das Reich zu dem macht, was es ist!“ Bei diesen Worten war ihm anzusehen, wie ernst er sie meinte, wie sehr er für dieses Ziel brannte. „Und ich will meinen Großvater stolz machen.“

    Er begriff es nicht. Aquila begriff es nicht, wie sein Onkel nach seinen so überzeugend vorgetragenen Argumenten trotzdem noch dagegen sein konnte. Warum waren alte Männer immer so... so zögerlich? So vorsichtig? Und er saß da und musste irgendwie dagegen argumentieren, musste aufzeigen, warum es um so vieles besser war, dass Livianus nicht alleine ging... obwohl das in seinen Augen doch ziemlich offensichtlich war.


    „Uns wird keiner festnehmen“, behauptete er im Brustton der Überzeugung, um die Zweifel seines Onkels zu zerstreuen. „Warum auch? Von uns hier in Hispania hat keiner was getan, und du warst ja immer gegen Vescularius. Warum sollte ein neuer Kaiser da dann gegen Decimi aktiv vorgehen, die sich gar nichts haben zuschulden kommen lassen? Unsere Familie wird es nicht leicht haben, das ist klar, aber genau deswegen ist es ja besser, wenn mehrere nach Rom kommen, die unbeteiligt sind.“ Sippenhaft hieß ja nicht, dass sie deswegen alle mit Serapio in den Carcer wandern würden; es hieß nur, dass die Familie wohl erst mal geschnitten werden, an Ruf und Ansehen verlieren würde, weil eines ihrer prominentesten Mitglieder Mist gebaut hatte, oder jedenfalls das was als Mist definiert wurde vom neuen Kaiser – also erst mal per se alles, was seinem Kontrahenten geholfen hatte.
    Genau deswegen aber, das glaubte Aquila tatsächlich, mussten sie einfach Kante zeigen, mussten zeigen, dass die in Rom lebenden Decimi nicht für die Gens als Ganzes standen. Ihm war dabei ziemlich egal, dass das vielleicht sogar den Eindruck machen könnte, die Decimi in Rom hätten ohne oder gar gegen den Willen der Familienoberen in Hispania gehandelt, und Livianus würde jetzt nach Rom zurückkehren, um für Ordnung in der Familie zu sorgen, dafür, dass sie auf Linie blieben und nicht mehr so schmählich aus der Reihe tanzten wie in den vergangenen Jahren. Wenn das hieß dass die Leute glaubten, dass da eigentlich nur wenige Decimi ein bisschen arg verwirrt gewesen waren, und dass der Rest der Familie nun dafür zu sorgen gedachte, dass sie sich wieder angemessen verhielten – und sie schneller wieder angesehen waren dadurch, umso besser. Aber das gelang eben nur, wenn sein Onkel nicht allein in Rom auftauchte, sondern Unterstützung mitbrachte. Livianus würde in seinem Alter und bei seiner Stellung wohl auch kaum mehr Klinken putzen gehen – er würde seine alten Kontakte auffrischen und da Überzeugungsarbeit leisten, aber sich mühsam an den Familien abarbeiten, die ihn vielleicht gar nicht mehr kannten, Männer zu überzeugen, die weit unter ihm standen im Rang, um den Ruf der Decimi aufzupolieren, das war unter seiner Würde. Und daher etwas, was am besten junge Decimi übernahmen, zumal sie das ja sowieso tun mussten, für sich selbst, die eigene Karriere. Warum dann nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen?


    „Wir dürfen halt erst dann in Rom ankommen, wenn der Krieg wirklich vorbei ist, wenn da die Verhältnisse klar sind.“ Genauer gesagt: wenn da keine wildgewordenen Soldaten mehr rumliefen, die von ihren Legati von der Leine gelassen worden waren, um ein bisschen plündern zu dürfen oder so. „Aber dann gibt es keinen Grund, warum du alleine reisen solltest. Du und die Decimi in Rom brauchen jede Unterstützung, die ihr kriegen könnt, um unsere Gens wieder nach vorne zu bringen. Da solltest du nicht auf die der eigenen Familie verzichten.“

    Zwei bis drei Wochen also. Aquila grübelte darüber, aber bevor er zu einer Einschätzung kommen konnte, was das wohl heißen mochte für die Lage in Rom, schob sein Onkel die seinige bereits hinterher. Cornelius also vor den Toren Roms, oder die Stadt vielleicht sogar schon eingenommen. Und das hieß, es tat sich was... und die nächsten Worte seines Onkels bestätigten das auch. Natürlich tat sich was. Wenn Livianus sich mit dem Gedanken trug, nach Rom zu reisen, um die Familie zu unterstützen – dann hieß das, dass er die Lage so einschätzte, auch etwas tun zu können. Sein Onkel hatte die letzten Jahre ja nur deshalb so still in der Provinz verbracht, weil es nichts gegeben hätte, was er hätte tun können, außer durch seine Anwesenheit in Rom den Kaiser zu reizen, mit dem er es sich ja schon zu dessen Zeiten als Praefectus Urbi übel verscherzt hatte, und damit auch den dortigen Decimern das Leben schwer zu machen. Aber das änderte sich freilich mit einem Kaiserwechsel... vielleicht. Hoffentlich. So wie sich die mittlerweile in Rom ansässigen Decimer auf Seiten von Vescularius positioniert hatten, würde auch ein erwiesener Gegner dieses Kaisers da wohl nicht viel dagegen tun können erst mal, dass sie in Ungnade fielen, schon gar nicht wenn man bedachte, dass er sich in die Provinz zurückgezogen hatte – aber nicht viel war immer noch mehr als gar nichts, und Aquila war fest überzeugt, dass da mit der Zeit auch wieder mehr ging. Die Decimer waren zu wichtig, zu weit oben in der Gesellschaft, als dass sie für alle Ewigkeiten geschasst sein würden... man musste einfach nur dran bleiben.
    Daher hellte sich Aquilas Gesicht zunächst auf, als sein Onkel davon sprach nach Rom zu reisen. Natürlich ging er davon aus, dass er mitkommen würde – genauso wie Flavus und Albus wohl. Genau darauf waren sie doch in den letzten Jahren schließlich vorbereitet worden, keinen anderen Zweck hatte das gehabt, der Unterricht, die Übungen, der Drill. Einzig und allein dafür, dass sie irgendwann ihrer Bestimmung nachkamen, in die Fußstapfen ihrer Verwandten traten, der Familie Ehre machten. Und zumindest in Aquilas Fall wollte er das auch unbedingt. Vor allem sein Großvater war sein Held, sein großes Vorbild... und er brannte darauf, ihm endlich nachfolgen zu können. Schon als kleiner Junge hatte er davon geträumt, hatte nicht einfach nur Soldat gespielt, sondern ganze Heerscharen an Legionen kommandiert, die stolz den römischen Adler trugen, und gegen zig verschiedene Gegner in die Schlacht geführt. Und darin war er auch immer bestärkt worden von seiner Familie... immerhin wurde das auch von ihm erwartet.


    Wenig verwunderlich also entgleisten seine Gesichtszüge ziemlich, als sein Onkel nur Augenblicke später davon sprach, dass er hier bleiben sollte. „Wie... Was? NEIN!“ brauste er nach einem Moment der Fassungslosigkeit auf. „Das... Onkel, das ist nicht dein Ernst! Du kannst nicht... das...“ Aquila unterbrach sich kurz und versuchte mühsam, sich selbst einzubremsen, während seine Gedanken rasten. Wie konnte er seinen Onkel am besten davon überzeugen, dass es das einzig Richtige war, ihn mitzunehmen? Ganz sicher nicht, in dem er schimpfte, tobte oder gar bettelte. Damit disqualifizierte er sich nur selbst, das wusste er, damit zeigte er, dass er eben noch nicht so weit war, sich der römischen Politik zu stellen und dort seinen Weg zu suchen. Wenn er eine Chance haben wollte, seinen Onkel umzustimmen, dann musste er ihm auf die Art kommen, die er auch in Rom brauchen würde, um dort seine Ziele zu erreichen. Aquila räusperte sich und setzte neu an, diesmal ruhiger, überlegter. „Ich glaube es wäre besser, wenn wir jetzt schon mitkommen. Denk doch nur, wie dein Auftritt in Rom sein wird, wenn du nicht allein kommst, sondern eine Reihe junger Decimi bei dir hast, alle gut ausgebildet, ehrgeizig und bereit, sich für dich und die Familie einzusetzen. Das wär ein Knaller, dann könnten die Leute dich nicht ignorieren, weil das sagt, dass wir Decimi nicht weg vom Fenster sind, dass wir uns nicht zurückziehen, auch wenn das manche gerade jetzt von uns erwarten. Wenn du mit uns ankommst, dann zeigen wir Rom damit: jetzt erst recht!“ Aquila machte eine kurze Pause und hängte dann noch etwas an: „Außerdem kann das nur von Vorteil sein, wenn in Rom gleich mehrere Decimi aufschlagen, die nichts mit den Verbindungen zu Vescularius zu tun haben. Das... das könnte die Sippenhaft etwas mindern, denke ich. Und es zeigt, dass wir bereit sind, uns unserer Verantwortung zu stellen, für, äh, für Rom, auch wenn... Fehler gemacht wurden. Von manchen.“ Der Schluss war ein bisschen holprig geworden... Aber davon mal abgesehen: dafür, dass er die Rede gerade aus dem Stegreif gehalten hatte, war die ziemlich gut geraten, fand er.

    Aquila bemerkte nichts von dem leichten Tadel, der sich bei seinem Onkel abzeichnete, und er machte sich auch wenig Gedanken darüber, wie sein Verhalten wohl wirken könnte. Er hatte generell ein eher loseres Mundwerk, und ihm war auch eine gewisse Leichtfertigkeit zueigen – Gedankenlosigkeit konnte man es wohl auch nennen –, die die Lehrer nicht ganz aus ihm herausgebracht hatten, auch wenn es schon besser geworden war... und davon abgesehen tat ihm gerade einfach zu viel weh. War schon anstrengend genug, sich davon nichts anmerken zu lassen.


    Er beugte sich vor, als sein Onkel ihm statt einer ausführlichen Antwort einen Brief seiner Base in Rom reichte, nahm ihn entgegen und ließ sich langsam wieder zurücksinken, während er die Papyrusrolle mit beiden Händen offen hielt und den Inhalt überflog. Was sie schrieb, klang nicht wirklich gut... im Gegenteil. In ihrem Unterricht hatte es in den vergangenen Jahren regelmäßig auch Stunden darüber gegeben, in denen ihr Hauslehrer ihnen nicht nur dargelegt hatte, wie die aktuelle politische Lage war, sondern auch wo die Decimer politisch standen und wie sie sich bei neuen Entwicklungen positionierten, sowohl in der Provinz als auch in Rom. Und natürlich war das in den vergangenen Jahren noch mal um einiges spannender geworden, mit Onkel Livianus' Rückkehr nach Hispania, weil er in Rom in Ungnade gefallen war, mit dem Tod des alten Kaisers, den Ausrichtungen der Decimer in Rom unter dem neuen – trotz der Geschehnisse um Livianus –, dem Bürgerkrieg, der sich in den vergangenen Monaten entwickelt hatte... was hatten sie nicht alles diskutiert, warumwiesoweshalb wer was wo gemacht hatte und sich wie positionierte, und das hatte Spaß gemacht. Es war einfach etwas anderes, über ein so brandaktuelles Thema zu diskutieren, in das die Familie darüber hinaus auch noch so eingebunden war, als über irgendwelche zwar politisch unruhige Zeiten, die aber hundert Jahre oder mehr in der Vergangenheit lagen, und viel mehr noch als über solche, die ruhig und damit todlangweilig waren, oder, noch schlimmer, einfach stur die aktuellen Einflussträger des Reichs durchzugehen und was es so, äh, Interessantes über sie zu wissen gab – natürlich rein politisch gesehen; über die wirklich interessanten Dinge (wer die Sau raus ließ auf irgendwelchen Orgien, beispielsweise) sprachen sie nicht. Über die langweiligen Dinge diskutierten sie natürlich trotzdem auch weiterhin... aber die Brisanz der momentanen Situation führte freilich dazu, dass sie weit mehr Zeit darauf verwendeten.


    Und das, ja, das hatte Spaß gemacht. Aber der Punkt war: bisher war es trotz allem immer noch... naja, theoretisch gewesen. Die Familie in Rom steckte da mitten drin, trotzdem hatte für ihn der praktische Bezug gefehlt – er war nah genug am Geschehen, damit es spannend für ihn war das zu verfolgen, aber er war nicht direkt davon betroffen gewesen. Mit dem Brief hier änderte sich das... zum ersten Mal bekam er die Infos aus Rom so direkt, hörte davon nicht von seinem Lehrer, der so was immer unter dem Aspekt des Unterrichts diskutierte, sondern von seiner Base, in ihren eigenen Worten. Und dann war da der Fakt, dass der Krieg nun ausgebrochen war, mehr noch: verloren, jedenfalls was die Truppen im Norden anging. Und der Verbleib seines berühmten Vetters unklar. Das war... heftig. Aquila war erst mal sprachlos, als er den Brief sinken ließ und zu seinem Onkel hochsah, was eher selten vorkam. „Das...“ Er wollte irgendetwas Schlaues sagen, aber ihm fiel im Moment einfach nichts ein. „Wie alt ist der Brief?“ Kein kluger Kommentar, aber wenigstens eine ziemlich kluge Frage, fand er. Immerhin war eine ungefähre zeitliche Einschätzung nicht ganz unwichtig bei dem Thema.


    „Wenns denn Reitunterricht gewesen wär...“ murrte Aquila halblaut. Reitunterricht brauchte er keinen mehr, er war so sicher auf dem Pferderücken wie jemand nun mal war, der in seiner Kindheit und Jugend fast mehr Zeit dort zugebracht hatte als auf zwei Beinen... aber das war halt was anderes, als einen widerspenstigen Junghengst, der noch nie einen Sattel gespürt hatte und das letzte Jahr mit den anderen Jungtieren auf der Weide in halbwildem Zustand zugebracht hatte, irgendwie dazu zu kriegen, zahm zu sein... und das ohne jedes Hilfsmittel.
    Kaum hatte er allerdings das Officium seines Onkels betreten, hatte er sich zusammengerissen und ließ sich nichts mehr von den Schmerzen anmerken, nicht einmal von denen in seinem Arm, wo das Biest ihn gebissen hatte. Mit langen Schritten ging er zu dem Stuhl hinüber und setzte sich wie aufgefordert, warf dem Sklaven ein kurzes „Ich nehm Wein“ hin – Alkohol war gut, wenn es darum ging Schmerzen zu betäuben –, und wandte sich dann wieder an seinen Onkel. „Flavus ist von Arbiscar mitgesch...“ ...leppt worden, lag ihm eigentlich auf der Zunge, aber er entschied sich dann doch noch rechtzeitig für eine andere Variante: „..nommen worden.“ Der Sklave reichte ihm in dem Moment einen Becher voll Wein, und Aquila trank einen Schluck, bevor er neugierig seinen Onkel ansah. „Was gibt’s?“ Vielleicht hätte er warten sollen, bis der Senator zuerst das Wort ergriff... aber Geduld war nicht unbedingt seine Stärke, und er redete öfter mal schneller als er nachdachte.

    Natürlich stand Arbiscar doch noch in der Nähe... und zusätzlich zu den Schmerzen, die er ohnehin schon hatte, bekam er jetzt eine Kopfnuss verpasst, die es in sich hatte. Aber immerhin gab es keine Standpauke oder sonst was – stattdessen knöpfte Arbiscar sich Flavus vor, oder besser: verschwand mit diesem. Mutmaßlich, weil nun der dran war, sich irgendeine Lektion einzusacken. Diesmal ging Aquila wirklich auf Nummer sicher... aber als die beiden tatsächlich verschwunden waren, sackte er erst mal mit etwas gequälten Seufzen gegen den Zaun. Ihm tat alles weh. Aber auch wirklich alles. Er spürte jeden einzelnen Knochen in seinem Leib, so kam es ihm vor, vornehmlich seinen Rücken, auf den er nun ein paar Mal gekracht war. Und dann war da noch sein Arm, der mittlerweile in den schillerndsten Farben angelaufen sein und mitten drin in diesem Farbenparadies wohl einen prächtigen Pferdegebissabdruck haben dürfte. Nein... war eindeutig nicht lustig, das. Jetzt ein Bad... eine Massage... irgendwas gegen die Schmerzen... aber dafür müsste er sich erst mal rühren, und Aquila hatte gerade so gar keine Lust, sich zu bewegen. Also: wirklich gar keine. War zwar nicht allzu bequem, hier draußen rumzuhängen, aber sich bewegen strengte sicherlich noch mehr an, und tat ganz sicher auch mehr weh...
    Während er so in Gedanken versunken halb am Zaun lehnte, halb irgendwie daran hing, tauchte auf einmal ein Sklave auf. Allein bei seinem Anblick schwante Aquila schon Übles – nämlich dass es irgendwas sein würde, was ihn dazu zwang sich zu bewegen –, und tatsächlich hatte er damit Recht. Er musste sich bewegen. Ganz dringend sogar, weil Onkel Livianus – den er der Einfachheit halber Onkel nannte, auch wenn er gar nicht sein Onkel war – ihn sprechen wollte. Flavus auch, aber Aquila erklärte dem Sklaven in knappen Worten, dass der mit Arbiscar abgedampft war, bevor er sich dann schließlich mühsam und mit einem leisen Stöhnen aufrappelte, um ins Haus zu gehen... zu humpeln... zu gehen. Humpeln nur dann, wenn er glaubte keiner sah ihn.


    Kurze Zeit später stand er vor der Tür seines Onkels und klopfte an, bevor er eintrat. „Du hast mich rufen lassen, Onkel?“

    „Nee, du... bei meinem Triumphzug wird's nur einen Kerl auf nem Esel geben – und der bist du“, grinste Aquila flüchtig zurück, bevor es dann, nun ja, ans Eingemachte ging. Das Pferd. Flavus. Der Apfel. Arbiscars Frotzelei, oder jedenfalls kam es ihm wie eine vor. Und dann das, was so kommen musste, natürlich: sein Sturz.


    Ein paar Momente blieb Aquila, wie er war, halb liegend, halb sitzend, und wartete, bis er wieder vernünftig Luft bekam, sich seine Sicht wieder geklärt hatte, und seine Gedanken auch wieder einigermaßen zu funktionieren schienen. Was die zwei am Zaun in der Zwischenzeit miteinander zu reden hatten, das rauschte irgendwie an ihm vorbei, davon verstand er herzlich wenig, und er bemühte sich auch gar nicht sich darauf zu konzentrieren. Stattdessen begann er zu realisieren, was passiert war... und begann mit schillernder Inbrunst zu fluchen, als er sich dann mühsam aufrappelte – nach einer halben Ewigkeit, wie ihm selbst vorkam, auch wenn diese ersten, flüchtigen Momente nach dem Sturz in Wirklichkeit nicht viel Zeit in Anspruch genommen hatten. Runtergefallen. Runtergefallen! Er! Er konnte sich auf nem Gaul halten wie sonst wenige, und dieses Vieh hier ruinierte seinen Ruf in kürzester Zeit! Aquila wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, verteilte dabei den Schmutz in seinem Gesicht nur noch mehr, anstatt ihn wie beabsichtigt wegzuwischen, und spuckte anschließend eine Mischung aus Dreck und Blut auf den Boden. Das Sand-Erde-sonstige-Pampe-Gemisch, das den Boden bedeckte, knirschte frustrierenderweise trotzdem weiter zwischen seinen Zähnen – und fing so langsam an, auf seiner Unterlippe zu brennen, dort, wo er sie sich aufgebissen hatte. Seltsamerweise war es auch das, was ihn gerade am meisten störte, obwohl sein Körper gerade an allen möglichen Stellen irgendwie weh tat.


    Er schoss einen finsteren Blick in Richtung Arbiscar, der sich davon herzlich ungerührt zeigte, sondern nur wieder zu dem Gaul nickte – und obwohl Aquila sich am liebsten wenig freundlich darüber ausgelassen hätte, was er von dem Ganzen hier hielt, und wohin genau der Iberer sich sein irres Vorhaben schieben konnte, und dass er, Aquila, da ganz sicher nicht mehr mitspielen würde, machte er letztlich nur eines: er gehorchte. Was zum Teil daran lag, dass sein Stolz und sein Ehrgeiz ihn trieben – er ließ sich doch von keinem Pferd unterkriegen! –, zu einem guten Teil aber auch daran, dass er schon mehr als einmal Arbiscars Hand zu spüren bekommen hatte. Die letzte richtige Tracht Prügel war freilich schon deutlich länger hier... mittlerweile waren sie einfach in einem Alter, in dem Lehrer eigentlich keine Hand mehr anlegten, aber Arbiscar scherte sich um so was wenig. Wer ihm frech kam – selbst wenn es nur seine Definition von frech war –, bekam die Konsequenzen zu spüren, und Aquila war sich ziemlich sicher, dass der Iberer auch jetzt noch richtig zulangen würde, wenn er es für angebracht hielt. Und der Decimus war nicht scharf darauf, so etwas zu provozieren. Also riss er sich gerade bei Arbiscar in der Regel zusammen. Und da sollte mal noch wer behaupten, er könne sich nicht beherrschen...
    Frustriert wischte er sich erneut mit dem Handrücken über den Mund, spuckte erneut aus und wandte sich wieder diesem unmöglichen Vieh zu. Dass ihn auslachte, darauf hätte er Stein und Bein schwören können! Wieder ging es ein bisschen hin und her, Aquila versuchte auf unterschiedlichste Art, sich dem Tier zu nähern, das Pferd wiederum wich aus... meistens auf eine einzige Art: indem es schlicht wegrannte, wahlweise einfach so, oder, je nachdem wie wenig Platz es noch hatte, indem es ihn dabei anrempelte. Und Aquila fluchte. Jetzt, wo sein ganzer Körper irgendwie weh tat, hatte er doch noch weniger Chancen als sowieso schon... was irgendwann auch Arbiscar einzusehen schien. Oder vielleicht hatte der auch einfach nur genug von der Vorstellung. Nachdem er sich das Spektaktel noch ein bisschen angesehen hatte, winkte der Iberer ab. „Das war's für heute. Morgen wieder um dieselbe Zeit – und bis dahin erwarte ich von dir, dass du dir was einfallen lässt, Decimus.“
    „Was? Wie man diesen Gaul dazu bringt, ruhig zu sein, ohne Seil, ohne Futter, ohne sonst was?“
    „Nur mit dem, was du am Leib trägst, ja.“ Arbiscar grinste wieder sein süffisantes Grinsen, das Aquila in Momenten wie diesen tierisch auf den Geist ging. „Entweder das, oder du legst mir glaubwürdig dar, was du dabei gelernt hast. Meine Herren.“ Mit einem leichten Neigen seines Kopfes verabschiedete sich der Iberer – und Aquila konnte endlich, endlich aus diesem verdammten Paddock raus. „Boah...“ stöhnte er, als er Flavus erreicht hatte. Eigentlich wäre er ja gerne über den Zaun geklettert, aber er war sich nicht ganz sicher, ob er das fertig bringen würde im Augenblick... also löste er den Haken am Gatter und verließ den Paddock auf konventionelle Weise. „Ganz ehrlich, ich hab keine Ahnung warum der sich immer wieder so nen Schmarrn einfallen lässt.“ Kaum hatte er das gesagt, sah Aquila sich sicherheitshalber noch mal um, nicht dass Arbiscar doch noch irgendwo in der Nähe stand und hören konnte...

    Er zuckte leicht zusammen, als er Flavus' Stimme plötzlich hörte. Großartig. Als wäre es nicht genug, dass er ständig im Dreck landete, jetzt musste er auch noch Publikum haben. Noch dazu Flavus, der in dem ewigen brüderlichen Wettstreit damit EINDEUTIG vorne lag. Aquila warf eine Hand in die Luft um zu winken, ohne dabei den Gaul aus den Augen zu lassen, und der Iberer neigte leicht den Kopf.
    „Ja, unglaublich viel Spaß, siehste doch...“
    „Sei gegrüßt, Decimus. Senatoren haben dem Vernehmen nach eine eindeutige Tendenz zu Bissigkeit.“ Arbiscars Grinsen wurde süffisant.
    Aquila schnaubte. „Ha, ha. Macht euch nur lustig...“ Missmutig – und mehr als nur ein wenig frustriert – tastete er vorsichtig über seinen schmerzenden Oberarm, aber er kam kaum in die Nähe der Stelle, wo die Pferdezähne ihr Ziel gefunden hatten, da loderte der Schmerz schon grell auf. Aquila unterdrückte heldenhaft einen Schmerzlaut und zog die Hand wieder weg. „Esel, ja... schön wär's. Esel ist nix dagegen.“ Er warf Flavus nun doch einen Blick zu – kombiniert mit einer obszönen Geste, die von einem Grinsen flankiert war. „Ich bin dir meilenweit überlegen...“, blödelte er zurück und streckte beide Arme breit aus. „So sehr, dass du das selbst offenbar noch gar nicht mitgekriegt hast.“ Im nächsten Moment musste er sich wieder unter einem Holzstück wegducken. „Wir sind noch nicht fertig hier“, kam es von Arbiscar, und Aquila machte eine Geste, die eine halb entschuldigend wirkte und halb als wolle er sagen: na was denn? , auch wenn er wohlweislich die Klappe hielt und sich lieber wieder dem Tier zuwandte.


    Ein weiterer Versuch nahm seinen Lauf – wurde dann aber unterbrochen. Reichlich unerwartet. Flavus hielt etwas in den Paddock hinein, und nur wenige Augenblicke später musste Aquila mitansehen, wie der Gaul plötzlich tatsächlich handzahm wurde. Wegen einem Apfel. Bloß weil er was zu fressen kriegte! Mit offenem Mund sah er zu Arbiscar hinüber, der ihn mit hochgezogener Braue ansah. „Eine Variante.“
    „Bitte was?“ machte Aquila. [b]„Das.. der... hallo? Ich hab hier überhaupt keine Hilfsmittel, noch nicht mal nen Seil, aber DAS ist in Ordnung?“
    „Das Leben ist hart, aber gemein.“
    Arbiscars Standardspruch. Jedes Mal wieder: ungemein witzig. Gerade in solchen Situationen. Haha. „Das war Bestechung!“
    „Ja. Und?“
    „Hätt ich das auch gehabt...“
    Arbiscar unterbrach ihn. „Hast du aber nicht. Wird dir nicht zum letzten Mal passiert sein. Und was machst du, wenn ein Kontrahent einen Vorteil hat? Ein Mann im Kampf, der einen Dolch besitzt, während du unbewaffnet bist? Ein Politiker, der reicher ist und mehr Schmiergelder verteilen kann? Jammerst du dann auch in der Gegend rum, wie unfair das Leben doch ist?“
    Aquila knirschte mit den Zähnen. Das hier war doch was völlig anderes... Frustriert starrte er zu dem Gaul hinüber, der immer noch am Zaun stand, die Kiefer noch mahlend, während er Flavus schon anstupste, in der Hoffnung auf noch einen Apfel. „Na warte...“ murrte er leise. Sein Ego drängte ihn dazu, dass er endlich beweisen musste, dass er auch in dieser Situation bestehen konnte. Gerade vor Flavus. Sie waren keine zwei Jahre auseinander, und in ihrem Alter war Flavus' Vorteil als der Ältere nicht mehr ganz so ausgeprägt wie früher, aber als sie kleiner waren, war der andere häufig auch der Bessere gewesen... und Aquila hatte sich immer bemüht, aufzuholen. Tat er heute noch. Flavus war immer Ansporn gewesen, hatte seinen Ehrgeiz angestachelt, wie das eben so war bei Brüdern, oder Vettern, die wie Brüder aufwuchsen. Es war eine Mischung aus besser sein wollen als der andere, und – zumindest in seinem Fall, als der Jüngere – Eindruck schinden wollen vor dem Älteren.


    Was Aquila jetzt zu einer selten dämlichen Idee verleitete. Er näherte sich dem Gaul ein weiteres Mal, beschleunigte plötzlich und legte die letzte Distanz mit wenigen, großen Sprüngen zurück, federte sich ab und zog sich mit einem Satz auf den Pferderücken. Für den Bruchteil eines Augenblicks war alles still... im nächsten dann explodierte der Körper unter ihm in einem Wirbel aus Bewegung. Der Hengst sprang bockend durch den Paddock, sein Rücken krümmte sich und bog sich flexibel auf und ab, alles in dem einzigen Bestreben, die Last auf ihm loszuwerden. Aquila schaffte es, sich für ein paar Momente noch festzuklammern, nachdem der Reigen losging, dann segelte er in hohem Bogen durch die Luft und landete krachend erneut im Dreck, so wuchtig, dass ihm erst mal der Atem wegblieb. Momente lang sah er Sterne vor den Augen, trotzdem quälte er sich in eine halb sitzende Position und blinzelte nach dem Gaul, nicht dass der noch auf ihn drauf trampelte – aber der hatte sich schon wieder ans andere Ende des Paddocks verzogen, offensichtlich schon zufrieden damit, ihn einfach abgesetzt zu haben, und schnaubte ungnädig.
    Während sich Aquilas Mund mit dem metallischen Geschmack von Blut füllte – musste sich wohl auf die Zunge gebissen haben –, setzte Arbiscar zu einem Kommentar an, die Stimme triefend vor Sarkasmus. „Bravo. So nimmst du natürlich jeden für dich ein.“

    Auf dem Gestüt der Decimi


    „Lass das!“ zischte Aquila wütend und machte einen Satz zur Seite, als Zähne in seine Richtung schnappten.
    „Beherrschung, Decimus“, dozierte eine ruhige, sonore Stimme irgendwo hinter ihm. Aquila verdrehte die Augen. „Beherrschung, Decimus“ äffte er in höherer Tonlage die Stimme nach, wohlweislich allerdings so leise, dass er nicht gehört werden würde. Beherrschung war leichter gesagt als getan, wenn man mit einem wildgewordenen Gaul in einem Paddock eingesperrt war und das Vieh einsetzte was es so im Arsenal hatte – Hufe, Zähne, sechs- bis siebenmal so viel Gewicht wie er...
    Mit einer Mischung aus alarmierter Aufmerksamkeit und mehr als nur einem Anflug von Nervosität behielt er den Gaul im Blick, der nicht weit von ihm entfernt auf- und abtrabte und dabei, das hätte Aquila schwören können, ihn auslachte. Er wusste gar nicht so genau, was das hier eigentlich sollte. Abgesehen davon, dass er mit jedem weiteren Mal, dass er im Dreck landete, schmutziger wurde und er gerade Blessuren sammelte wie bunte Steine als Kind, hatte er einfach nichts davon zu versuchen, ein Miststück von Pferd zu bändigen, das sich einfach nicht bändigen ließ. Wenn das nicht gerade mal wieder eine Lektion in Demut sein sollte... aber das war eigentlich eher Tarasios. Der griechische Hauslehrer, der war groß darin, Demut und Bescheidenheit zu predigen. Und sich irgendwelchen Kram auszudenken, wie er diese... Tugenden seinen Schülern auch beibringen konnte. Also so richtig beibringen, nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis – was das ein oder andere Mal im Dreck liegen durchaus miteinschloss.
    Nur: es war halt nicht Tarasios, der da hinter ihm stand und im Kern von ihm wollte, dass er den widerspenstigen Gaul im Handumdrehen in ein zahmes Lamm verwandelte. Es war Arbiscar, und der Iberer hatte mit Demut nicht viel im Sinn.


    „Beherrschung gehört zu den Dingen, die du dein Leben lang wirst brauchen können. Beherrsche dich selbst, und du beherrschst andere.“ Fantastisch. Eine Lektion über Selbstbeherrschung vom Meister der Choleriker, der so schnell in die Luft gehen konnte wie kein anderer. Noch dazu eine, die – zumindest in seinen Augen – ziemlich sinnbefreit war. Ganz großes Theater. Aquila verdrehte wieder die Augen und linste dann zu seinem Lehrer hinüber. „Vielleicht solltest du das dem Vieh erzählen“, maulte er zurück, beide Arme anklagend in Richtung Gaul gestreckt, und duckte sich dann unter dem Stück Holz hindurch, mit dem Arbiscar ihn als Reaktion auf den Widerspruch bewarf. „Ist doch wahr! Den Gaul kratzt das wenig, ob ich mich beherrsch, der will einfach nicht!“ Was wohl kein Wunder war. Die Herde der Anderthalbjährigen war erst vor kurzem von den Weiden zurückgetrieben worden, wo sie den ganzen Sommer mehr oder weniger verwildert hatten zubringen dürfen, bevor sie jetzt zugeritten wurden. Und so wie der hier sich gerade aufführte, hatte Arbiscar die Order gegeben, einfach den wildesten herzuschaffen. Nun war es ja nicht so, dass Aquila nicht auch schon beim Zureiten geholfen hätte. Aber er machte das nicht täglich. Und an die widerspenstigsten Viecher hatten sie ihn in der Regel nicht rangelassen. Und überhaupt war das was ganz anderes, weil man nicht einfach so mit dem Gaul im Paddock herumlief und irgendwie versuchte, sich dem zu nähern – da wurde dem Vieh überhaupt gar nicht erst so viel Freiheit gelassen, wenn es ans Zureiten ging. Hier allerdings... Aquila blieb nichts anderes, als sich dem Gaul zu nähern, auszuweichen aus wenn der sich auf Attacke verlegte – ein Manöver, das ihm nicht immer gelang –, wieder zu nähern, hin und her, her und hin, ohne dass er einen nennenswerten Schritt vorwärts gekommen wäre. Er hatte ja noch nicht mal ein Seil, womit er das Vieh zumindest mal hätte festbinden können, wenn er nah genug dran war und schnell genug. Und der Gaul hatte das mittlerweile kapiert, der spielte doch nur mit ihm... kam ihm jedenfalls so vor. Natürlich gab es auch so Griffe, um ein Pferd einzufangen und zu halten, aber die funktionierten halt nicht, wenn es partout nicht wollte, dafür waren die Viecher zu stark, wenn sie es drauf anlegten.


    Arbiscar wiederum kratzte es herzlich wenig, was oder was nicht einer seiner Schützlinge vorzubringen hatte über die Sinnhaft- oder Sinnlosigkeit seines Unterrichts. Er warf noch ein Stück Holz – diesmal traf es, weil er das Ausweichen Aquilas einkalkulierte –, ignorierte den Aufschrei und fuhr trocken fort: „Du wirst den Gaul nicht dazu bringen zu tun was du willst, wenn du weiter so rumhampelst.“
    Diesmal zerbiss Aquila sich eine Erwiderung auf der Lippe. Hatte ja eh keinen Sinn. Mit einem frustrierten Grunzen wandte er sich wieder dem Gaul zu, und noch während er mit einem Ohr dem Iberer lauschte, der irgendwas weiter palaverte, ging das Vieh wieder auf ihn los – und diesmal erwischte es mit den Zähnen seinen linken Oberarm. Aquila brüllte auf vor Schmerz, und kurzerhand ballte er die Rechte zur Faust und ließ sie auf die Schnauze des Gauls krachen, direkt zwischen die empfindlichen Nüstern. Mit einem Aufwiehern stob das Tier davon, während Aquila in die andere Richtung davon sprang. Und hinter sich ein tadelndes „Tztztz“ hörte, gefolgt von: „Und du glaubst, damit kommst du weiter, wenn dir in deiner späteren Laufbahn wer krumm kommt?“
    Aquilas Gesicht war eine halb gequälte, halb finstere Grimasse. „Ja. Bei Legionären funktioniert das ganz sicher. Bei Sklaven erst recht.“
    Der Iberer grinste maliziös. „Und was ist mit Senatoren?“
    Für einen Moment war Aquila still, verlegen um Worte, während es gleichzeitig in seinem Hirn hämmerte, dass das ganze hier doch einfach Schwachsinn war. Nur eine etwas kreativere Art, Schmerzen zuzufügen. Dann platzte aus ihm heraus: „Die werden ja wohl nicht beißen!“