Wenn man durch ein Tal wanderte, hieß es nicht zu vergessen, dass man bald einen Berg besteigen musste. Verus erinnerte sich an die Weisheit, die ihm einst sein Ausbilder mitgegeben hatte. Es war dieses Gefühl, dass er immer weiter wanderte, auf und ab in seinem Leben, ohne wirklich zu verstehen, warum er es tat. Er wanderte auf dem Pfad des Rechtes, obwohl er sich selbst im Unrecht sah. Der Berg war bereits in Sicht. Ein Berg, der so hoch war, dass Verus seinen Anstieg fürchtete. Die Prätorianer waren nicht nur eine Bürde, eine Verpflichtung, sondern auch ein Fluch. Luna verstand es nicht. Wie sollte sie auch? Sie sah die Tätigkeiten als gleichwertig an. Verus suchte Feinde des Imperiums, fand sie und tötete sie. Doch es war ein ehrlicher Kampf. Mann gegen Mann. Linie gegen Linie und was blieb ihm bei den Prätorianern? Heimtücke und Meuchelmord. Es war ein Berg der Furcht, den er nicht erklimmen konnte. Es wäre einfach für den Mann, sich freistellen zu lassen, sich auf seine Taten zu berufen und zu gehen. Doch wohin sollte er gehen? Sollte er im Tal bleiben oder weitergehen? Immer weiter gehen. Bis kein Ort und keine Erfahrung ihm unbekannt war?
Verus verbrachte viel Zeit an Deck, mied die Gespräche der Anwesenden soweit möglich und versuchte zu verstehen, was er geworden war. Diese grausigen Dämonen, die seinen Verstand überfluteten, wie die Gewässer des Rheins trennten sie Welten. Er konnte nicht mehr zwischen Vergangenheit und Gegenwart trennen. Die Zeit schien ineinander zu fließen. Seit diesem Tag, wo er das erste mal ein Schwert in den Leib eines unbeholfenen Gegners gestoßen hatte. Es war dieses Gefühl, dass Leben stets zerfloss und nicht einmal ein Wunsch dieses ändern konnte. Dieses Leben zerlief zwischen seinen Händen, wie Wüstensand. Seine Augen suchten oft die Fluten heim, wollten sich im Gewässer verlieren und fortschwimmen, an einen fernen Ort, damit diese Erinnerung verblasste. Diese gefühlte Schuld. Nicht nur am Tod, sondern an seiner Unfähigkeit, diese Gewalt zu ertragen. Er hatte Luna grausame Dinge antun müssen. Noch immer hörte er die Peitsche knallen. Immer wieder zog dieses Geräusch durch seinen Schädel, mit ihm die Asche der niedergebrannten Dörfer in Dakien oder die niedergemachten Bewohner des germanischen Dorfes. Immer-da war diese Präsenz, dass dieses Leben wertlos war, wie die Leben, die vergangen waren. Es gab keine Bedeutung, keinen Zweck und keine wahre Aufgabe, für einen Soldaten, dessen Hand mit meisterlicher Zauberei morden konnte. Er war zu gut darin, zu erfahren und zu vergeben an dieses eine Handwerk, so dass Verus sich vor sich selbst fürchtete. Die Legion hatte ihn in allen Belangen gut geformt, damit er Dakien, Germanien und verschiedene Brandherde des Reiches überstehen konnte. Verus war gut darin, ein Legionär zu sein. Er war gut darin, Befehle zu befolgen und der Zweifel wurde ertränkt, wie seine Sehnsucht in diesen Fluten, die das Schiff unweigerlich zum Ziel brachten. In der Nacht suchte er heimlich seine Luna auf, um ihre Hand zu halten, ihre Wangen und Lippen zu spüren, damit etwas Echtes existierte. Etwas, was sein Murren und leidvolles Dahinleben brechen konnte. Seine Sklavin, die niemals wirklich unfrei war, gab ihm alles in den Nächten, was er suchte und gab ihm Leben, wenn auch noch für einen Moment. Gelegentlich beteiligte sich Verus an den eloquenten Gesprächen seines Bruders mit dem Flavius. Beide schienen von einer Welt zu sein, konnten gemeinsam sprechen und teilten die eleganten Wörter, die Verus längst aufgegeben hatte. Sofern er konnte, gab er einen sachlichen Kommentar ab oder sprach offen über seine Gedanken, wurde dann aber wieder gemieden oder zog sich viel mehr aus Unfähigkeit eines normalen Gespräches zurück. Merula, sein Bruder, war begabter, geschickter und sicherlich begieriger als Verus, der keinerlei Ambition an irgendeinem ehrgeizigen Streben hatte. In seiner Welt war Streben stets mit einem Blutpreis verbunden. Seine Titel und Ehrungen hatte Verus stets mit Blut erworben und am Ende mit seiner Seele bezahlt.
Ja, er war auf seinem Weg und sein verbohrter Selbsthass, ließ keinen Ausweg zu. Er hasste sich selbst für all das, was er nicht war. Es fiel ihm zu leicht, einen Gegner abzustechen und verzweifelte schlicht daran, dass es ihm leicht fiel. Töten verlangte nicht mehr viel von ihm. Es war eine Handlung. Befehl und Ausführung. Eine schlichte Handlung, wie eine Maschine, die über einen Hebel gesteuert wurde. Verus verließ Germanien mit wenig Träumen, überwiegend plagten ihn Albträume und verschlossene Panikgedanken. Seine Realität war nicht mehr kompatibel mit einem freundlichen Sujet, einem freudigen Tanz oder einem übermäßigem Lachen. Zwar bewegte seinen Geist bei Zeiten Kunst und Philosophie, doch verstarb im Angesicht der schlichten Grausamkeit seines Alltages. Wenn er nicht von Monotonie, ständiger Wiederholung, passiver Duldung und aktiver Gewalt geprägt war, so durchzug seine Tage ein Leben in geordneten Bahnen von Regularien und vorgegebenen Pfaden.
Als Soldat fiel es ihm auch noch schwer, von diesen Pfaden zu lassen. Selbst auf dem Schiff, übte er sich in seinen Routinen. Zwar war an eine Kampfübung nicht zu denken, da es an Platz mangelte, aber seine Liegestützen, seine Gewichte und auch seine Sprungbewegungen, konnte er machen. Er überzog auch im Angesicht der Anwesenden, da er sich bis zum blutigen Schweiße trieb. Verus musste und wollte die Schmerzen seines Muskeln und Gelenke spüren, damit er nicht vergaß, dass er noch irgendwie lebte. Es half ihm, im Alltag zu bleiben. Ein Soldat war stets bereit, so auch Verus. In dieser ständigen Erwartung eines tödlichen Kampfes stand Verus in fester Absicht, sich selbst und seinen letzten Rest Idealismus zu schützen. Luna unterbrach seine Handlungen stets mit einer sehnsüchtigen Anwesendheit, mit geheimen Blicken sorgte sie sich aber konnte aus sichtbarer Position nicht handeln. Der Wolf, welchen sie anbinden mussten, befand sich auch an Deck und oft setzte sich Verus einfach neben Fenrir, welcher seinen großen Kopf auf seinen Schoß legte. Beide waren sie einsame Bestien, die auf einem Pfad wandelten, den sie eigentlich niemals wollten.
Verus war nicht wirklich abwesend aber nicht wirklich beteiligt am Leben der anderen. Er war schlicht da. Sein Tal war längst noch nicht durchschritten. Interessanterweise konnte der Tiberius zwei intensive Gespräche mit dem Flavius führen. Eines über die Flucht des jungen Flavius im Knabenalter, im Zuge der vermeintlichen Verschwörung seines vergangen Verwandten Tiberius Durus und dies auch inkludiert mit den Gedanken zum Bürgerkrieg gegen den Usurpator. Verus hatte die Position der Tiberier dargelegt und schien doch sehr vom soldatischen Blickwinkel zu argumentieren. Er ließ wenig Platz für Emotionalität und versachlichte die Entwicklung stark, was ihn mitunter kaltherzig auch im Umgang mit seinem eigenen Hause erschienen ließ. Ein weiteres intensives Gespräch führten die Männer von Stand über die eigenen Werdegänge, wo sich Verus nicht bedeckt hielt. Harmlos begann er mit seiner eigenen Vorgeschichte in Achaia, bis er von seiner Vertreibung durch Salinators Schergen berichtete. Aus Belastung griff er zum Wein. Im Suff, den er sich leistete, um seine Grenzen zu brechen, offenbarte Verus, wie viele Feinde er getötet hatte. Wie viele Leben er grausam niedergemetzelt hatte und er ließ kein Detail aus, auch nicht wie seine Klinge den Unterleib und die Kehlen vieler durchtrennt hatte. Er beschrieb das Blut, welches warm über seine Hände gequollen war und berichtete auch über die eigenen Schlachtentode, denen er nur knapp entrungen war. Schließlich berichtete er auch über Luna, verschwieg aber die Zeit in der Hütte und berichtete nur von der öffentlichen Versklavung. Wo Flavius Gracchus Minor seine horriblen Details aussparte, war Verus sehr großzügig, sogar unhöflich deutlich in seinen Geschichten. Am Ende schloss Verus stets mit den zynischen Worten: Alles für Rom. Alles für die Ehre. Dieser Tiberius war mit Sicherheit kein illustrer Reisebegleiter auf dem sprichtwörtlichen Heimweg der Römer.