Sibel ließ das letzte Stückchen Brot sinken. Ihr war nun wirklich nicht mehr nach frühstücken zumute. Nicht etwa das Avianus sie mit seinen Fragen gekränkt hätte. Eigentlich sprach sie nicht gerne über dieses schmerzhafte Kapitel in ihrem Leben. Immer wenn sie an früher dachte und ihr wieder bewusst wurde, was sie alles verloren hatte und was man ihr alles genommen hatte, kam diese unendliche Trauer über sie. Diese Wunden würden wohl nie wirklich ganz verheilen.
Dennoch war ihre Trauer inzwischen einer regen Neugier gewichen. Avianus‘ Gesichtsausdruck und seine seltsamen Bemerkungen waren mehr als kurios. Doch endlich hörte er damit auf, sie weiter auf die Folter zu spannen. Er erzählte ihr von dem seltsamen Brief, den er erhalten hatte, von einem gewissen Tychon und dessen Nichte Cibele. All diese Namen schwirrten plötzlich in ihrem Kopf herum. Zwar klangen sie vertraut und doch irgendwie fremd. Schon vor langer Zeit waren die Gesichter ihrer Eltern und ihrer Verwandten allmählich verblasst. Ebenso der Klang ihrer Stimmen. Nur einige wenige Erlebnisse waren haften geblieben und hatten die Zeit überdauert.„Was…? Einen Brief?“, fragte sie verstört. Das war ja äußerst seltsam! „Ich … ich weiß es nicht…“ stammelte sie und zermarterte dich krampfhaft den Kopf, wie ihre Mutter ihren Vater immer genannt hatte. War es Philipos? Oder vielleicht doch ein anderer Name? Und was war mit dem Namen Cibele? Das klang wie Kybele oder aber auch wie Sibel… Plötzlich fiel ihr wieder ein, wie wichtig die Göttin Kybele für ihre Mutter gewesen war. Das hatte ihr Vater ihr immer wieder erzählt. Regelmäßig hatte sie ihr geopfert und sie um ein Kind gebeten und als sie – Sibel geboren war, opferte sie aus lauter Dankbarkeit bis zu ihrem Tod.
„Mein Onkel hieß… ich weiß es nicht mehr, wie er hieß.… Ne … Nerie…, nein Nereos… so hieß mein jüngster Neffe. Daran kann ich mich noch erinnern. Er war in meinem Alter und wir spielten oft als Kinder zusammen…Aber mehr weiß ich nicht…“ Betrübt sah sie an sich herab. Wie hatte sie nur alles vergessen können? Sibel war damals gerade mal acht Jahre alt gewesen, als das Unglück über sie gekommen war und aus dem wohlbehüteten Mädchen erst eine Schiffbrüchige und wenig später eine Sklavin wurde.