Beiträge von Iunia Sibel

    Sibel ließ das letzte Stückchen Brot sinken. Ihr war nun wirklich nicht mehr nach frühstücken zumute. Nicht etwa das Avianus sie mit seinen Fragen gekränkt hätte. Eigentlich sprach sie nicht gerne über dieses schmerzhafte Kapitel in ihrem Leben. Immer wenn sie an früher dachte und ihr wieder bewusst wurde, was sie alles verloren hatte und was man ihr alles genommen hatte, kam diese unendliche Trauer über sie. Diese Wunden würden wohl nie wirklich ganz verheilen.


    Dennoch war ihre Trauer inzwischen einer regen Neugier gewichen. Avianus‘ Gesichtsausdruck und seine seltsamen Bemerkungen waren mehr als kurios. Doch endlich hörte er damit auf, sie weiter auf die Folter zu spannen. Er erzählte ihr von dem seltsamen Brief, den er erhalten hatte, von einem gewissen Tychon und dessen Nichte Cibele. All diese Namen schwirrten plötzlich in ihrem Kopf herum. Zwar klangen sie vertraut und doch irgendwie fremd. Schon vor langer Zeit waren die Gesichter ihrer Eltern und ihrer Verwandten allmählich verblasst. Ebenso der Klang ihrer Stimmen. Nur einige wenige Erlebnisse waren haften geblieben und hatten die Zeit überdauert.„Was…? Einen Brief?“, fragte sie verstört. Das war ja äußerst seltsam! „Ich … ich weiß es nicht…“ stammelte sie und zermarterte dich krampfhaft den Kopf, wie ihre Mutter ihren Vater immer genannt hatte. War es Philipos? Oder vielleicht doch ein anderer Name? Und was war mit dem Namen Cibele? Das klang wie Kybele oder aber auch wie Sibel… Plötzlich fiel ihr wieder ein, wie wichtig die Göttin Kybele für ihre Mutter gewesen war. Das hatte ihr Vater ihr immer wieder erzählt. Regelmäßig hatte sie ihr geopfert und sie um ein Kind gebeten und als sie – Sibel geboren war, opferte sie aus lauter Dankbarkeit bis zu ihrem Tod.
    „Mein Onkel hieß… ich weiß es nicht mehr, wie er hieß.… Ne … Nerie…, nein Nereos… so hieß mein jüngster Neffe. Daran kann ich mich noch erinnern. Er war in meinem Alter und wir spielten oft als Kinder zusammen…Aber mehr weiß ich nicht…“ Betrübt sah sie an sich herab. Wie hatte sie nur alles vergessen können? Sibel war damals gerade mal acht Jahre alt gewesen, als das Unglück über sie gekommen war und aus dem wohlbehüteten Mädchen erst eine Schiffbrüchige und wenig später eine Sklavin wurde.

    Wie herrlich das frische Brot schmeckte! Erst recht wenn man es in solch gemütlicher Zweisamkeit zu sich nahm. Noch einmal biss sie herzhaft zu grinste ihm zufrieden entgegen. Ja, sie musste für zwei essen. Bei dem Gedanken, dass sie bald schon zu dritt waren legte sich ein warmes Lächeln auf ihre Lippen und ihre Gedanken schweiften ab, hinüber zu dem, was sie als kleine Familie alles erwarten würde. Dabei bemerkte sie zunächst nicht, wie sich das Lächeln aus Avianus Gesicht allmählich verflüchtigte und jenem nachdenklichen Ausdruck, den sie nur zu gut kannte, Platz machte.
    Erst als er sie erneut ansprach, kehrte auch sie ins Hier und Jetzt zurück. Zunächst verstand sie nicht recht. Die Frage nach ihrer Familie war wohl das Letzte, womit sie gerechnet hätte.
    Das sorglose Lächeln verschwand mit einem Mal. „Meine Familie?“ fragte sie zögernd. „Wieso? Ich meine wieso fragst du mich danach? Du weißt doch… meine Eltern sind tot“ Sie hatte es ihm doch erzählt, was damals vor so langer Zeit geschehen war und wie ihr Unheil seinen Anfang genommen hatte. Doch offenbar gab es einen triftigen Grund, weshalb er sie gerade jetzt so genau danach fragte. „Natürlich erinnere ich mich an meine Eltern. Mein Vater war der gütigste Mensch, den du dir vorstellen kannst. Er hätte alles für mich getan. Er und meine Mutter…“ Sie zögerte. Ihre Augen begannen, bei der Erinnerung an sie langsam feucht zu werden. „Ich habe noch Verwandte in Rhodus… glaube ich. Von dort stammte meine Mutter. Und nach ihrem Tod wollte mein Vater mich dort hinbringen. Allerdings kenne ich davon niemanden. Außerdem gab es noch einen Onkel in Myra. Der Bruder meines Vaters... aber warum fragst du das alles?“Schon lange hatte sie nicht mehr an ihren Onkel und ihre Vettern gedacht. Im Laufe der Zeit waren sie unerreichbar für sie geworden, wenn sie denn überhaupt noch lebten.

    Zitat

    Original von Aulus Iunius Avianus
    Vom Dessert brachte Avianus kaum noch etwas hinunter. Bei den Göttern, wenn das so weiter ging, würde man ihn nach Hause tragen müssen. Er ließ vom Essen ab, nippte stattdessen weiter am Wein und betrachtete die Mädchen, die der Bordellbesitzer, dieser Tolmides, mitgebracht hatte. Gar keine blöde Idee … bessere Werbung gabs vermutlich nicht. Und zu verachten waren sie auch nicht, nein, auf gar keinen Fall, dachte er sich, als er sie weiterhin über den Rand des Bechers hinweg musterte. Dabei blieb es dann aber auch, er hatte ja seine noch um einiges hübschere Ehefrau.
    Zweifellos hatten die Decimer ein berauschendes Fest organisiert, welches er sich glücklicherweise nicht entgehen ließ. Hier und da hatte er schon die Möglichkeit genutzt, ein paar interessante Gespräche zu führen, und mit Sicherheit würden sich noch mehr Gelegenheiten bieten, die Speisen waren köstlich und der Wein ebenso - von dem er eventuell schon ein kleines bisschen zu viel getrunken hatte. Kurz gesagt: Er amüsierte sich prächtig.



    Die ersten Saturnalien in Freiheit! Sibel hatte diese Zeit des Jahres schon immer gemocht. Doch in diesem Jahr war sie etwas ganz Besonderes. Auch wenn sich inzwischen ihre Schwangerschaft kaum mehr verbergen ließ und es nur noch wenige Wochen bis zur Niederkunft waren, ließ sie es sich nicht nehmen, ihren Gatten zu der Festivität der Decimer zu begleiten.
    Dort erwartete sie eine illustre Gesellschaft. Doch heute waren alle gleich und so schob sie schnell die eventuell vorhandenen Bedenken beiseite und gab sich dem Glanz der Feierlichkeiten hin. Sibel musste sich nicht mehr verstecken. Erst recht nicht mehr seitdem sie verheiratet war.

    Soweit es ihr Zustand zuließ, erfreute sie sich an den Annehmlichkeiten die ihr auf dem Fest zuteilwurden, schließlich war sie nicht jeden Tag zu Gast im Hause des Vorgesetzten ihres Mannes. Und auch Avianus schien sich richtig gut zu amüsieren. Dennoch musste sie sich keine Sorgen machen, als der sich für einen kurzen Augenblick jenen leichten Mädchen zugewandt hatte, die keinerlei Zweifel offen ließen, welchem Gewerbe sie angehörten. Schauen war schließlich erlaubt, solange es nur beim Schauen blieb. Doch ihr Ehemann wusste ihre Anmut zu schätzen und ließ die Lupae Lupae sein.
    Zu gerne hätte sie auch ein wenig Wein getrunken, doch die Vernunft gebot es, dies zu unterlassen. Schließlich gab es auch andere Möglichkeiten, sich zu vergnügen.

    Noch immer bewegte sie sich mit einer gewissen Vorsicht durch das Haus, welches nun ihr neues Zuhause geworden war. Es gab noch Vieles, an das sie sich erst noch gewöhnen musste. So zum Beispiel auch den Umgang mit den Sklaven des Hauses. Wer wenn nicht sie wusste am besten, wie es war, wenn man unfrei war. Auch wenn es ihr bewusst war, dass die Sklaven in diesem Haus eine gute und anständige Behandlung erfuhren, vermied sie es anfangs nur allzu gerne, deren Dienste in Anspruch zu nehmen. Doch bald schon merkte sie, dass dies nicht immer zu vermeiden war. So war auch an diesem Morgen ihr erster Gang in die Küche, bevor sie sich zu ihrem Ehemann gesellte. Glücklicherweise hatte Sibel inzwischen die Morgenübelkeit überwunden. Wenn sie jedoch am Morgen das Ientaculum vernachlässigte, konnte sich dieses lästige Unwohlsein recht schnell wieder zurückmelden.


    Kaum hatte man sie in der Culina gesichtet, watschelte ihr eine alte Sklavin, die schon seit Jahren in der Küche tätig war entgegen, um ihr zur Hand zu gehen. Letztendlich verließ sie die Culina mit einem Tablett in der Hand, auf dem sich ein Becher mit verdünntem Fruchtsaft, ein Schälchen mit Honig gesüßten Puls, Obst, ein Stück frischgebackenen Brotes sowie etwas Moretum befand. Damit gesellte sie sich zu Avianus, der sich bereits im kleinen Triclinum eingefunden hatte, um ebenfalls etwas zu sich zu nehmen.
    Mit einem freundlichen „guten Morgen“ begrüßte sie ihn, stellte das Tablett ab und nahm neben ihm Platz. „Kaum zu glauben, nach der üppigen Cena habe ich heute Morgen Hunger wie ein Bär… oder besser gesagt, wie eine Bärin,“ scherzte sie grinsend und biss genüsslich in das knusprige Brot, welches sie zuvor mit etwas Moretum bestrichen hatte.

    Waren es die ersten winterlichen Sonnenstrahlen, die sie weckten oder der allmähliche Verlust an Wärme neben ihr, da ihr frischgebackener Ehemann längst schon das Bett verlassen hatte? Ihre Finger versuchten vorsichtig nach ihm zu tasten, doch erwartungsgemäß fanden sie nichts mehr vor außer dem zerknitterten Laken. Schließlich öffneten sich ihre verschlafenen Augen, die sofort von dem warmen Licht, welches langsam aber sicher den ganzen Raum zu durchfluten begann, geblendet wurden. Noch einmal räkelte sich Sibel gemütlich. Selten hatte sie so gut und so fest geschlafen, wie in dieser – ihrer Hochzeitsnacht. Der gestrige Tag war mit Abstand einer der schönsten in ihrem Leben gewesen. Doch angesichts ihrer Schwangerschaft war er in gewissem Maße auch recht beschwerlich gewesen.


    Beim Unterzeichnen des Ehevertrages schien es für sie noch etwas ungewohnt zu sein, was nicht nur mit ihrem neuen Namen zu tun hatte. Iunia Sibel. In ihrer Freilassungsurkunde hatte Avianus bewusst darauf verzichtet, ihrem neuen Gentilnamen die Endung –na beizufügen, was wohl jedem offenbaren sollte, dass sie für ihn spätestens nach der Hochzeit ein vollwertiges Mitglied seiner Gens sein sollte. Auch hatte er ihren richtigen Namen gewählt und nicht jenen Namen, den ihr ihre frühere Domina vor langer Zeit gegeben hatte.


    Ganz unbeschwert und unsagbar glücklich war sie gewesen und hatte sie einfache und schlichte Feier sehr genossen, auch wenn sie es immer noch kaum glauben konnte, dass Avianus und sie nun endlich vereint waren. Noch unmittelbar bevor sie den Ehevertrag unterzeichnet hatte, quälten sie einige Skrupel, da ihr Liebster extra für sie auf eine standesgemäße Hochzeit nach römischen Ritus verzichtete und sich nur mit ihr und einer sehr deutlich abgespeckten Feier zufrieden gab. Das einzig Üppige des Tages sollte die darauffolgende Cena werden, die sie gemeinsam mit ihren Gästen einnahmen. Doch letztendlich hatten sich diese Gedanken recht schnell wieder verflüchtigt, als sie sah, wie glücklich er doch war und sie im Kreise ihrer Freunde und ihrer neuen Familie endlich beisammen sein konnten, um mit ihnen bis in die Nacht hineinzufeiern.


    Endlich erhob sie sich, streckte sich noch einmal und begann, mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht, nach ihren Kleidern Ausschau zu halten. Sie kleidete sich zügig an und verließ daraufhin ebenso das Zimmer, um hinunter zu gehen.

    Nicht zum ersten Mal in ihrem Leben war sie zu einem Lararium getreten, um den Laren des Hauses, in dem sie von nun an wohnen würde, zu opfern. Damals in Misenum hatte sie den Ritualen beiwohnen müssen, weil man es von ihr verlangt hatte, obwohl sie ihr rein gar nichts bedeutet hatten. Doch dieses Mal war sie der Grund, weshalb man den Schutzgeistern opferte, auf das auch sie von nun an unter deren Schutz stand.


    Neben ihrem Verlobten und dessen Cousine Axilla hatten sich auch die Sklaven des Hauses eingefunden. Alles war für das kleine blutige Opfer vorbereitet. Natürlich war das weiße Kaninchen, welches nun gleich ganz unfreiwillig zum Protagonisten werden sollte, nicht zu übersehen. Sibel hatte ein wenig Mitleid mit dem kleinen Geschöpf. Doch sicher war es hilfreich, diese Emotion für den Moment auszublenden, zumal das Kaninchen anschließend auch noch als Braten herhalten sollte.
    Aufmerksam verfolgte sie jedes Wort und jeden Handgriff ihres Verlobten. Als sie unweigerlich den Rauch des Weihrauchs einatmete, glaubte sie, die Übelkeit käme wieder über sie. Doch glücklicherweise gelang es ihr, jenes blümerante Gefühl so gut zu unterdrücken, dass kein Malheur geschah. Als schließlich das Kaninchen seinen letzten Atemzug tat, zuckte sie kurz zusammen und verzog ihr Gesicht, als das Blut hervortrat. Wieder verstärkte sich das flaue Gefühl in ihrer Magengegend, als Avianus damit fortfuhr, nun das Tier aufzuschneiden und es von seinen Eingeweiden zu befreien. Wer sie beobachtete, konnte nun ihr bleiches Gesicht beobachten, in dem sich ihr Ekel, den sie empfand, widerspiegelte. Doch sie blieb im wahrsten Sinne des Wortes standhaft.

    Wieder einmal waren die Emotionen über sie gekommen, wie schon so oft zuvor. Noch immer war sie zu überwältigt, über das Glück, welches über sie gekommen war. Langsam löste sie sich von ihm und wischte sich die Tränen aus den Augen. Nickend lächelte sie ihm zu. „Ich werde mir Mühe geben,“ meinte sie scherzhaft und folgte ihrem Verlobten nach unten.

    Sibels Lächeln hielt weiter an. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben spürte sie echte Sicherheit, Harmonie, eine innere Ruhe und wahre Zufriedenheit. Nichts und niemand konnte ihr nun noch etwas anhaben. Die Zeit, da sie sich verstecken oder davonlaufen musste, gehörte endlich der Vergangenheit nun. Nun lagen, so glaubte Sibel zumindest, nur noch die hellen strahlenden Tage vor ihr, denn all die grauen und dunklen hatte sie endlich hinter sich gelassen. In ein paar Tagen, wenn sie sich endlich an den Gedanken gewöhnt haben würde, von nun an als freie Frau in diesem Haus zu leben und in absehbarer Zeit auch noch verheiratet zu sein, würde endlich auch noch die letzte Anspannung von ihr abfallen.
    Zunächst jedoch erschien ein überraschter Ausdruck auf ihrem Gesicht, als ihr Verlobter ihr eine Schriftrolle in ihre Hand legte und dabei bedeutungsvoll lächelte. Ein fragender Blick fiel kurz auf Avianus, bevor sie sich anschickte, das Dokument zu öffnen. Gebannt starrten ihre Augen auf die Lettern, die dort geschrieben standen. Schließlich begann sie langsam und behutsam jedes einzelne Wort, welches dort geschrieben stand, vorzulesen. „Manumissio der Sklavin Sibel aus dem Besitz des A. Iunius Avianus…“ Kurz sah sie noch einmal zu ihm auf, ehe sie dann weiter las. „Hiermit soll meine Sklavin Sibel ANTE DIEM V ID SEP DCCCLXV A.U.C. die Freiheit erhalten. Ich erkläre sie damit, gemäß der geltenden Gesetze, zur Libertina und zur unter meinem Schutz stehenden Klientin. Als Zeichen für ihre verdiente Freiheit trägt sie von heute an… .“ Wieder stockte sie und sah zu ihm auf. Doch diesmal waren ihre Augen feucht. „… den Namen Iunia Sibel… Aulus Iunius Avianus Centurio Cohortium Urbanarum COHORS XII • CENTURIA III.” Ganz vorsichtig, als handele es sich bei der Schriftrolle um eine seltene Kostbarkeit, rollte sie sie wieder zusammen und legte sie dann auf einem Möbelstück ab. Nun, da sie ihre Freiheit sozusagen in eigenen Händen gehalten hatte, sie plötzlich richtig greifbar geworden war und diese Erkenntnis sie geradezu erschütterte, konnte sie ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Schließlich umarmte sie ihn und hielt ihn ganz fest, um sicher zu gehen, dass sie sich niemals wieder verlieren würden. So verharrte so eine ganze Weile. „Danke!“, kam es ihr schluchzend über die Lippen. „Tausendmal danke…“

    Unglaublich, wie viel sich in den letzten Wochen und Monaten angesammelt hatte, was ihr gehörte! Da waren Kleider und Schuhe, wunderschöner Schmuck (wozu sie ohne Frage auch die Bernsteinkette zählte, die sie von Avianus geschenkt bekommen hatte, als sie noch im „Aedes iste Laetitia“ gewohnt hatte) und ein inzwischen ansehnliche Sammlung von Büchern, die sie nun lesen konnte. Ihr war nicht viel Zeit zum Packen geblieben. Deshalb musste alles ganz schnell gehen, was nicht das Schlechteste war. Denn dadurch kam sie nicht so sehr ins Grübeln, denn sie wusste genauso wie ihr Verlobter, dass sie sich von nun an nicht mehr täglich sehen konnten.
    Den Löwenteil ihrer Habseligkeiten wurden schließlich von einem Sklaven zur Domus getragen, während sie sich nur einiger wenigen Sachen annahm, die nicht zu schwer für sie waren.
    Sibel war zunächst nach oben in „ihr“ neues Zimmer gegangen und hatte sich dann auf dem Bett niedergelassen, welches bereits von fleißigen Händen frisch bezogen worden war. Ihr Blick ging langsam durch den Raum und ließ alles auf sich wirken. Eine ganze Weile saß sie so da und ließ ganz außer Acht, wie die Zeit dabei verging. Alles war nach ihrem gestrigen Besuch so schnell gegangen, so dass sie kaum Zeit zum Nachdenken gehabt hatte. Nicht nur dass sie von nun an wirklich frei sein würde, war sie nun plötzlich auch die Verlobte ihres Liebsten. Eine Entwicklung, mit der sie nie gerechnet hatte und die sie auch nie für möglich gehalten hatte. Doch es war kein Traum, aus dem sie gleich verstört aufwachen würde. Nein, es war die Realität!
    Als sich plötzlich die Tür hinter ihr öffnete und sie Avianus‘ Stimme hörte, fuhr sie angenehm überrascht um und nickte ihm lächelnd zu. „Ja, bereit!“ Er hatte sie Iunia genannt. Sicher würde es einige Zeit brauchen, sich an diesen neuen Namen zu gewöhnen, so wie an alles, was sich seit gestern für sie verändert hatte. Sie erhob sich und ging ihm entgegen, bis sie sich schließlich gegenüberstanden.

    Vieles schwirrte nun in Sibels Kopf herum. Die scheinbar größte Hürde, die Akzeptanz seiner Familie, war genommen. Nun würden sehr viele Veränderungen auf sie zukommen. Und dabei war die Änderung ihres Namens sicher nur die kleinste Veränderung. Es würde noch Tage brauchen, bis sie endlich wirklich realisiert hatte, welche Bahn ihr Leben soeben eingeschlagen hatte. Jener Alptraum, der vor so vielen Jahren begonnen hatte, der ihr ihre Kindheit und Jugend geraubt hatte und aus ihr nichts weiter als einen Gegenstand gemacht hatte, würde nun endlich ein Ende nehmen. Und diesmal würde sie niemand aufs Kreuz legen, erpressen oder ausnutzen.


    Nein, die Götter schienen nun endlich auch einmal ihr Augenmerk auf sie geworfen zu haben, um sie mit ihrer Gunst zu beglücken. Ein Grund mehr, um ihnen zu danken. Dabei ging ihr auf, dass sie eigentlich noch nie selbst den Göttern in einem Tempel geopfert hatte. Doch auch dafür würde sie sicher tatkräftige Unterstützung finden. Sie konnte also ganz gelassen sein, so dass sie ihrem Verlobten lächelnd zunickte, als er ihr anbot, ihr das Haus und ihrer beider Zimmer zeigen wollte. „Ja, gerne.“ Dabei warf sie noch einmal einen Blick auf Axilla, der sie für ihre Aufgeschlossenheit in diesem Moment unglaublich dankbar war.
    Sibel erhob sich von ihrem Platz. Später noch war genug Zeit, noch gewisse Einzelheiten zu besprechen. Nun aber war sie zunächst einmal gespannt darauf, ihr neues Zuhause näher kennenzulernen.

    Hatte sie das eben wirklich gesagt? Sie wäre noch nie auf einer Hochzeit gewesen? Avianus‘ kurzes Räuspern war ein dezenter Hinweis darauf gewesen. Aber es lag wohl wahrscheinlich daran, dass sie sich im Vorfeld tausendmal eingeredet hatte, es tunlichst zu vermeiden, die Sprache auf ‚gewisse‘ Themen und Personen kommen zu lassen. Es war sicher besser so, ihre Aussage so erst einmal stehen zu lassen. Zum Glück ging Axilla auch gar nicht weiter darauf ein. Stattdessen stürzte sie sich förmlich auf das Thema Hochzeit und begann auch sofort laut darüber nachzudenken, was nötig und was unnötig war.
    Ein Ehevertrag sollte also her. Sibel sollte es recht sein. Auch Avianus sprach sich dafür aus. Sie wusste ja, wie sehr die Römer auf schriftliche Dokumente versessen waren. Ein Stück Papyrus, auf dem geschrieben stand, was oder wer wem gehörte oder wer mit wem eine Vereinbarung einging. Ein Wort oder ein Handschlag genügte da einfach nicht. Bisher hatte sie bei solchen Verträgen immer nur den Kürzeren gezogen. Doch damit sollte jetzt Schluss sein. Nicht nur weil sie jetzt lesen konnte. Nein, weil sie ihrem ‚Vertragspartner‘ diesmal ganz und gar vertrauen konnte.


    Alles klang wunderbar einfach aus Axillas Mund, bis sie ihnen dann doch einen kleinen Dämpfer versetzte und Avianus‘ Praefectus mit ins Spiel brachte, der dem Ganzen erst seine Zustimmung geben musste. An ihm hing es letztlich. Sie sah kurz zu ihrem Verlobten, da sie gar nicht einschätzen konnte, wie einfach oder eben wie schwierig es war, eine solche Zustimmung zu erhalten. Vielleicht aber war gerade dann ein Opfer an die Götter erst recht angebracht. Und den Laren des Hauses zu opfern, in welches sie einzog, konnte auf jeden Fall nicht schaden.
    „Daran hatte ich auch schon gedacht. An ein Opfer für Iuno.“ Wieder sah sie zu ihrem Verlobten und lächelte aber diesmal. Bisher hatte die Religion keine große Rolle in Sibels Leben gespielt, zumal die Götter ihr ziemlich übel mitgespielt hatten. Vielleicht war nun endlich die Zeit gekommen, sich mit ihnen zu versöhnen. Denn in der Tat hatten sie es in der letzten Zeit sehr gut mit ihnen gemeint. Hoffentlich hielt dieses Glück noch lange an. Im Augenblick jedoch fühlte es sich gut an, so dass nun wirklich all ihre Zweifel verschwunden waren. Axilla war ihr wohlgesonnen und akzeptierte sie. Und Sibel würde alles tun, dass es auch so blieb. Eine sinnvolle Beschäftigung war dabei sicher hilfreich. Aber Avianus hatte natürlich auch recht. Je weiter die Schwangerschaft voran schritt, umso beschwerlicher würde es für sie werden.


    Ad Centurio Aulus Iunius Avianus
    Cohortes Urbanae
    Castra Praetoria, Roma



    Salve Centurio Iunius Avianus!


    Mein Name ist Tychon. Ich bin Kaufmann aus Myra. Du wunderst dich sicher, von mir zu hören. Doch ich wende mich in einer sehr wichtigen Angelegenheit an dich. Durch meinen jüngsten Sohn, der bis vor kurzem noch in Rom weilte, ist mir zu Ohren gekommen, dass du im Besitz einer jungen Sklavin namens Sibel bist. Um dir zu verdeutlichen, warum dies von so großer Bedeutung für mich ist, möchte ich gerne etwas weiter ausholen.


    Vor nun fast schon sechzehn Jahren begab sich mein Bruder und Geschäftspartner Philipos zusammen mit seiner kleinen Tochter Cibele auf ein Schiff, welches sie nach Rhodus bringen sollte, um dort das Mädchen in die Obhut der Verwandten ihrer verstorbenen Mutter zu geben. Dieses Schiff jedoch kam nie im Hafen von Rhodus an, sondern geriet in Seenot und sank noch vor der lykischen Küste. Mich erreichte danach die Nachricht, dass es keine Überlebende gäbe. Man berichtete mir, man hätte nur noch leblose Körper bergen können. Da meine kleine Nichte nicht unter den Toten war, hoffte ich die ganze Zeit über, sie könnte vielleicht doch das Unglück überlebt haben. Als mir dann auch noch Gerüchte zu Ohren kamen, ein Kind habe die Havarie überlebt, nahm ich dies zum Anlass, nach ihr suchen zu lassen. Jedoch ohne Erfolg!


    Mit jedem Jahr was nun folgte, sank meine Hoffnung, bis mich schließlich ein Brief meines Sohnes erreichte, indem er mir mitteilte, er habe eine junge Frau auf dem Markt getroffen, die eine frappierende Ähnlichkeit mit meiner verstorbenen Schwägerin aufweise. Auch den Namen, den die junge Frau meinem Sohn nannte, ähnelt sehr dem Namen meiner Nichte. Außerdem teilte sie ihm mit, ihre Mutter stamme aus Rhodus, was ebenso zutreffen würde.
    Da ich der Meinung bin, dass so viele Gemeinsamkeiten kein Zufall sein können, wende ich mich nun an dich und bitte dich um deine Hilfe.
    Ich werde schon in der kommenden Woche zu meiner Reise nach Rom aufbrechen. Mein größter Wunsch wäre es, wenn ich deine Sklavin selbst einmal in Augenschein nehmen könnte und, sofern du es erlaubst, mit ihr zu sprechen. Falls es sich tatsächlich um meine Nichte Cibele handeln sollte, werde ich dir selbstverständlich eine großzügige Summe für sie bieten.


    Sobald ich in Rom eingetroffen bin, werde ich dir eine weitere Nachricht zukommen lassen, in der Hoffnung, mit dir ein Treffen vereinbaren zu können.


    Mögen die Götter dich beschützen!


    Vale,


    Tychon





    Sibel konnte es in seinem Gesicht lesen, dass es nun endlich Zeit war, nach Hause zu gehen. Sie selbst spürte bereits auch die Anstrengung, die ihr in den Knochen saß. Nicht zu vergessen, der lange Heimweg, der nun noch vor ihnen lag. Dennoch hielt dieses zufriedene Gefühl, einen schönen Tag erlebt zu haben, weiter an. Nur Avianus schien etwas nachdenklich zu sein. Schweigend waren sie zunächst nebeneinander hergelaufen, bis er schließlich das aussprach, was ihn beschäftigte.
    „Ach, das hab ich doch nicht ernst gemeint! Ich hab´s nur so daher gesagt,“ entgegnete sie ihm zwinkernd und stieß ihn dabei neckisch von der Seite an. „Nicht dass, jemand noch auf falsche Gedanken kommt und du am Ende deswegen Schwierigkeiten bekommst.“


    ~~~


    Ganz unauffällig und mit einigem Abstand war ihnen wieder der Alte gefolgt, nachdem sie den Marktstand verlassen hatten. Er sollte herausfinden, wo die beiden wohnten und wie der Name des Dominus der jungen Frau lautete. Unerkannt konnte er ihnen so bis zum Tor der Castra folgen. Unter dem Vorwand, die junge Frau habe auf dem Markt etwas vergessen, klopfte er am Tor an und wandte sich an den Wachsoldaten, der ihm schließlich nach kurzer Zeit die gewünschte Information lieferte. Daraufhin händigte er ihm einen kleinen Beutel mit Pfeffer aus, der zur Unterkunft des Centurios weitergeleitet werden sollte.
    Mit seinen neuen Erkenntnissen kehrte der Alte so schnell wie möglich wieder zum Markt zurück, um seinem Herrn davon zu berichten. Noch am selben Abend wurde eilig ein Brief verfasst, der am nächsten Morgen auf die Reise gehen sollte und dessen Bestimmungsort Myra war…

    Ihr war gar nicht richtig bewusst gewesen, wie sehr sie ihn auf die Folter gespannt hatte. Ihr anfängliches Nein hatte ihn wahnsinnig viele Nerven gekostet. Aber selbst als nun ihre eigentliche Antwort auf seine Frage gekommen war, löste dies bei ihm nicht sofort eine Erleichterung aus. Er sah sie nur mit großen Augen an, brachte aber kein Wort über seine Lippen. Sibel indes lächelte ihn immer noch an. Wahrscheinlich hatte sie es aber auch noch immer nicht richtig realisieren können.


    Endlich fand er wieder ein paar Worte, die sich daraufhin scheinbar in ihrem Kopf immer wieder und wieder wiederholten. Wir sind also … verlobt? – verlobt – verlobt. „Ja!,“ antwortete sie nickend und hatte mit den Tränen zu kämpfen, die sie wieder einmal zu übermannen drohten. „Verlobt!“ Nie im Leben hätte sie geglaubt, dies einmal behaupten zu können. So beschwerlich war ihr Weg bisher gewesen. So viele Hindernisse hatten in ihrem Weg gelegen, die erst beseitigt werden mussten. Oftmals waren sie auf die Probe gestellt worden. In den dunkelsten Stunden, wenn der Zweifel an ihnen genagt hatte und alle Hoffnung scheinbar geschwunden war. Aber ihre Liebe, an der sie niemals gezweifelt hatten, hatte sie stark gemacht. Ja, es war ein langer Weg gewesen, von dem Tag, an dem sie sich in Rom zum ersten Mal unter widrigen Umständen getroffen hatten. Vieles hätte damals anders verlaufen können. Doch nun saßen sie hier beieinander, Hand in Hand und trunken vor Glück.


    Erst nach einer Weile schienen sie sich daran zu erinnern, dass sie nicht allein waren, denn Axilla war noch immer zugegen und soeben auch noch Zeugin von Avianus´ Hochzeitsantrag geworden. Auch Sibel wandte sich etwas verlege zu ihr, als Avianus wieder die Hochzeitsfeier ansprach. Gerade zu diesem Thema hatte sie noch so viele Fragen. Da war die Frage nach dem Hochzeitskleid sicher noch die Geringste. „Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, wie eine solche Hochzeit gefeiert wird. Ich war noch nie auf einer. Darum würde ich mich sehr über deine Unterstützung freuen,“ meinte sie leicht verunsichert. Doch sie hoffte, Axilla würde sie dabei nicht im Regen stehen lassen, nachdem sie ihr gerade eben noch die Hochzeit mit ihrem Cousin schmackhaft gemacht hatte.


    Einen bitteren Nachgeschmack hatte jedoch all das, was sie gerade beschlossen hatten. Die Folgen für ihr zukünftiges Leben, die ihre Entscheidungen mit sich bringen würden, zeigten sich dann auch schon recht bald – schneller, als es Sibel vielleicht lieb sein mochte. Ihre Freilassung besiegelte zugleich das Ende ihrer Zeit in der Castra. Morgen oder besser gleich heute sollte sie in die Domus einziehen. Fort von ihm! Doch sie wollte ihm deshalb keine Szene machen. Und schon gar nicht vor seiner Cousine. So nickte sie schließlich, wenn auch etwas wehmütig. „Ich kann mich natürlich auch etwas nützlich machen, wenn ich hier wohne,“ meinte sie zu Iunia gewandt, da sie der festen Meinung war, etwas geben zu müssen, für das, was sie erhielt.

    Dies mussten wohl die schlimmsten Minuten in Avianus‘ Leben gewesen sein, denn mit ihrer Reaktion und dem Hinauszögern einer Antwort hatte er wohl kaum gerechnet. Aber auch für Sibel war dies nicht einfach. Zumal brauchte sie erst ein wenig Zeit, das Gehörte auch zu verdauen.
    Dass sich Avianus alles bereits gut überlegt hatte, bekräftigte er schließlich noch einmal und fegte damit ihre Einwände hinweg. Natürlich hatte Sibel all die Jahre über auf einen Tag wie diesen gehofft, an dem er sie bitten würde, mehr als nur seine Geliebte zu sein. Allerdings hatte sie sich niemals der Illusion hingegeben, dass dieser Tag auch tatsächlich kommen würde. Nun aber war er doch da. Statt sich aber nur der puren Freude hinzugeben und einfach nur „JA“ zu sagen, schien sie wie gelähmt zu sein.


    Während sie immer noch beinahe bewegungslos da saß und vor Überraschung die Hände vor ihren Mund geschlagen hatte, begann er nervös an seiner Tunika herumzunesteln. Um endlich diese unerträgliche Stille zu durchbrechen, bot er ihr an, sich nicht gleich entscheiden zu müssen. Oder aber sie solle jetzt und hier ja sagen, was dann zur Folge hatte, dass sich bereits morgen ihr ganzes Dasein verändern würde. Er verwies noch auf seine Cousine, mit deren Hilfe sie die Hochzeit vorbereiten konnte. Ihre Augen fielen dabei auf Iunia, die bis vor kurzem noch eine Fremde für sie gewesen war, vor der sie einen gehörigen Respekt hatte.
    Nun aber war es endgültig an ihr, sich dazu zu äußern. Fieberhaft suchte sie nach Worten, obwohl es doch so einfach war, da es doch nur ein schlichtes „JA“ gebraucht hätte. Für Sibel aber schien dies meilenweit entfernt zu sein. Als sie nun endlich ihre Hände hatte sinken lassen und bereit gewesen wäre, etwas zu sagen, stimmte auch Axilla noch mit ein, für die diese Situation sicherlich auch nicht alltäglich war. Doch sie schien sich davon nichts anmerken zu lassen. Im Gegenteil! Schließlich schien es sogar so, als wolle sie Avianus‘ Antrag noch einmal bekräftigen zu wollen und zeigte ihr alle Vorteile einer Ehe auf, um ihr damit die Verbindung mit ihrem Cousin noch etwas schmackhafter .zu machen. Doch all das hätte es nicht bedurft, denn Sibel wusste genau, was sie nun wollte.
    „Nein….,“ antwortete sie und schien sich über die Tragweite dieses kleinen Wörtchens gar nicht bewusst zu sein. „Also ich meine, nein, ich brauche keine Zeit mehr zum überlegen…,“ sagte sie schließlich zu Avianus. „…und nein, ich glaube, es muss keine große Hochzeit werden. Oder?“, meinte sie nun in Axillas Richtung. Denn im Augenblick fiel ihr außer Morrigan niemand ein, den sie von ihrer Seite aus hätte einladen können. Dann wandte sie sich wieder ihrem Geliebten zu, der wahrscheinlich inzwischen fertig mit den Nerven war und nahm seine Hände in ihre. „Und natürlich JA, denn ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als deine Frau zu werden.“ Endlich strahlte sie übers ganze Gesicht, denn nun schien ihr Glück perfekt zu sein.

    [Blockierte Grafik: http://s7.directupload.net/images/140909/jwwkw45z.gif] | Elias


    Niemals zuvor hatte Elias solch schwierige Zeiten erlebt. Ja, es hatte Zeiten gegeben, da hatte man regelrecht Jagd auf sie gemacht, doch dann hatte die Gemeinschaft immer eng zusammengestanden. Nun aber drohte sie von innen zu zerbersten. Sarahs Verschwinden hatte den radikalen Kräften in der Gemeinde ordentlich Aufwind beschert. Deren Instrument war die Angst, mit denen sie die Brüder und Schwestern auf ihre Seite locken wollten. Einige seiner Freunde hatten sich ihnen sogar angeschlossen. Sie sprachen von offenem Widerstand. Doch neben der Tatsache, dass Sarah wie vom Erdboden verschluckt war, kränkten ihn am meisten, die nicht enden wollenden Gerüchte, die man sich hinter vorgehaltener Hand zu wisperte: Sarah sei nur verschwunden, weil sie mit den Stadtkohorten gemeinsame Sache machen würde und sie verraten hätte.


    Elias war an diesem Abend mit dem Vorsatz zu der Versammlung erschienen, um all denen, die zur Gewalt aufriefen, noch einmal ins Gewissen zu reden. Es gab doch so viele Beispiele dafür, dass Gewalt nur im Untergang endete. Außerdem stand sie im völligen Gegensatz zu dem, was sie Jesus gelehrt hatte.
    Der Versammlungsort füllte sich zusehends. Immer mehr bekannte Gesichter trafen ein. Man begrüßte sich und umarmte sich. Sie alle bezeichneten sich doch als Geschwister im Glauben. Und dennoch glaubte Elias, eine gewisse Hemmung wahrzunehmen. Man begegnete ihm nicht mehr mit derselben Herzlichkeit wie früher. Früher oder später würden sie sich endgültig von ihm abwenden. Er spürte, wie ihm langsam alles entglitt. Doch Narseh allein dafür die Schuld zu geben, dazu war er nicht bereit.


    Er wandte sich um, als ihn das Gefühl ereilte, die Stimmen der Anwesenden würden ruhiger werden. Und tatsächlich taten sie das, als der Perser, gefolgt von seiner Anhängerschaft, eintraf. Elias beobachtete ihn, wie er sich seinen Weg zu ihm bahnte und dabei immer wieder Hände schüttelte oder dar Umarmungen austeilte. Schließlich stand er vor ihm und begrüßte ihn mit dem alten hebräischen Friedensgruß. „Schalom, Narseh!“ entgegnete er seinerseits zurückhaltend. Die Gräben, die sich zwischen ihnen aufgetan hatten, schienen inzwischen schier unüberwindbar zu sein.

    Sibel hatte natürlich nur nachgeplappert, was ihr einige Tage zuvor die Obsterix erzählt hatte. Was genau tatsächlich in ihr geschah wusste sie nicht. sie hätte es sich auch gar nicht vorstellen können. Sie wusste nur eins: Etwas wuchs in ihr heran – nämlich ihr Kind! „Ich dachte auch zuerst, ich hätte mir den Magen verdorben. Als es nicht besser wurde, meinte eine Freundin, es könne durchaus sein, dass ich schwanger bin. Zumal meine Blutung schon lange überfällig war und ich seitdem auch oft müde bin.“ Nur auf Avianus Drängen hin, hatte sie schließlich auch eine Hebamme aufgesucht, die sie untersucht hatte. Iunia machte ihr Hoffnungen, das Schlimmste wäre nun bald vorüber. „Die Übelkeit hält immer noch an. Besonders kurz nach dem Aufstehen am Morgen ist es am ärgsten. Nun ja, mit den Gerüchen ist es nicht so schlimm. Bloß… ich kann keinen Fisch mehr essen. Sobald ich ihn auch nur sehe, wird mir gleich übel.“ Das war wirklich ein Jammer! Da sie doch sehr gerne Fisch gegessen hatte. Sibel fühlte sich nun sichtlich wohl. Ganz vertraut hatte sie mit Iunia geplaudert, als ob sie sie schon ewig kannte.
    Doch schließlich wandte die sich wieder ihrem Neffen zu, als sei ihr soeben etwas Wichtiges eingefallen, was sie mit ihm unbedingt noch klären musste. Sie sprach von „noch einer anderen Frage“ und einer Entscheidung, die getroffen werden musste und noch von einigen anderen Dingen, die dann so schnell wie möglich erledigt werden mussten. Sibels Blick wanderte von der Iunia hin zu ihrem Liebsten und wieder zurück. Sie hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Spätestens nach dem letzten Besuch in der Domus Iunia hatte sie sich damit abgefunden, dass sie niemals Avianus`Frau sein konnte, höchstens vielleicht seine Konkubine. Sie wollte auch nicht der Grund dafür sein, dass er auf seine Karriere verzichtete. Doch langsam begann es bei ihr zu dämmern, als er meinte, er hätte nichts mehr zu entscheiden.
    Schließlich wandte er sich zu ihr und begann zu stammeln. Sibel versuchte, hinter jedem Wort den Sinn zu verstehen, was dazu führte, dass sie am Ende ganz fassungslos mit offenem Mund dasaß und ihr einfach nur die Worte fehlten. Schließlich schlug sie sich die Hände vors Gesicht und schüttelte nur den Kopf. Es bedurfte eine Weile, bis sie ihre Gedanken überhaupt in Worte fassen konnte. „Aber… du… deine Karriere! Ich würde dir immer nur im Weg stehen.“ Im Verborgenen sollte ihre Liebe doch bleiben, so hatte er es doch gemeint. Doch das, was er ihr nun vorschlug, bedeutete, dass sie wirklich seine Frau wurde, in aller Öffentlichkeit! Tränen bildeten sich in ihren Augen, als sie langsam begriff dass er es ernst meinen könnte und dies ein Heiratsantrag sein könnte. Sie hatte wohl mit allem gerechnet, nur damit nicht! „Du willst mich wirklich heiraten? Mich?!“ Nein, das war so unglaublich. Bestimmt hatte sie gerade etwas völlig falsch verstanden und blamierte nicht nur sich vor seiner Cousine, sondern ihn noch mit dazu.

    [wrapIMG=left]http://fs1.directupload.net/images/150902/tiahg94q.jpg[/wrapIMG]An dem Klang seiner Stimme hatte sie bereits gemerkt, wie sehr er sich darauf gefreut hatte, endlich den Heimweg anzutreten. Nur wegen ihr, weil sie es wollte, ließ er sich breitschlagen und trottete mit zum Gewürzstand. Der Alte lief einige Schritte voraus und bahnte ihnen so den Weg. Wenig später tauchte vor ihnen besagter Gewürzstand auf. Hinter etlichen mit Gewürzen und Kräutern gefüllten Säcken, Schütten und Kisten konnte man einen jungen Mann mit schwarzem lockigen Haar erkennen, der gerade noch eifrig damit beschäftigt war, sich den Wünschen einer Kundin zu widmen.
    Sibels Miene verzog sich bei dem Anblick der großen bunten Auswahl an Gewürzen, deren exotische Düfte man schon von weitem wahrnehmen konnte, zu einem Lächeln. Als sie nun endlich am Stand angekommen waren, wandte sich der junge Mann zu ihnen. „Sieh nur, wen ich auf den Markt getroffen habe!“, meinte der Alte zu ihm. Das Gesicht des jüngeren hellte sich auf und um nicht aufzufallen, gab er sich auch sogleich geschäftstüchtig. „Ah, eine unserer guten Kundinnen! Sibel, nicht wahr? Womit kann ich dir heute dienen?“ Sibel war geradezu überwältigt von so viel Auswahl und auch der Freundlichkeit des Händlers. Doch sie wusste genau, was sie wollte. „Meinen Namen hast du dir aber gut gemerkt! Ich bräuchte ein wenig Zimt und dein Gehilfe sagte, du hättest wieder Anis.“ Sofort zeigte der Händler auf einen Sack, in dem sich bräunliche Zimtstangen befanden. „Wie hättest du gerne den Zimt? Als Stangen oder lieber schon gemahlen?“ Sibel musste nicht lange überlgen. Lieber nahm sie den gemahlenen Zimt, denn dann musste sie das nicht tun. „Den Gemahlenen, bitte!“ Der Händler griff nach einem anderen Sack, indem sich gemahlener Zimt befand. „Möchtest du auch etwas Thymian? Thymian und Zimt verfeinern jedes deftige Fleischgericht!“ Die Lykierin nickte und stellte sich bereits im Geiste vor, was sie heute Abend noch kochen wollte. „Da wird sich dein Mann aber freuen!“, meinte er und zwinkerte freundlich Avianus zu. „Oh, das ist nicht mein Mann. Das ist mein Dominus,“ stelle sie gedankenverloren klar und überlegte noch weiter, was sie noch brauchen konnte. Der Händler sah einen Moment sehr nachdenklich aus, widmete sich dann aber schnell wieder seiner Ware, um sich nichts anmerken zu lassen.
    Einige Zeit später, nachdem der Händler nun mehrere kleine Stoffsäckchen mit den verschiedensten Gewürzen gefüllt hatte, wandte er sich noch einmal an seine Kundin. „Du erinnerst mich an jemanden, den ich einmal gut kannte. Du stammst nicht zufällig aus Rhodus?“ Sibel schüttelte den Kopf. „Nein, da muss ich dich enttäuschen. Aber meine Mutter stammte von dort.“
    „Deine Mutter…,“ raunte er nachdenklich. „Da verwechsle ich dich wohl tatsächlich! Hast du noch einen Wunsch?“ Inzwischen hatte sie schon mehr Gewürze ausgewählt, als sie eigentlich kaufen wollte. „Ach nein, ich glaube, das reicht jetzt!“ In Anbetracht dessen, dass sie nun mehr als bepackt waren, wollte sie nicht noch mehr und mehr aussuchen. So wurde der Kauf abgeschlossen und sie konnten nun endlich gehen.