Beiträge von Susina Alpina

    Es war herzzerreißend den innerlichen Kampf des erfahrenen Kriegers zu sehen. Dieses Mal hatte er es mit einem Feind zu tun, gegen den er keine Waffen hatte. Der Feind war unsichtbar und heimtückisch. Und er hatte die Macht über Leben und Tod der kleinen Esquilina. Licinus musste ebeso wie Alpina, die sich alle Mühe gab, machtlos zusehen, wie Dea Febris ihre Krallenhände um den Brustkorb des kleinen Mädchens geschlossen hatte.
    In seinem verzweifelten Kampf ergriff er zunächst schmerzhaft fest mit seiner Kriegerfaust die Hände der Hebamme, die diejenige der kleinen Esquilina zum Puls messen hielt. Dann als ihm bewusst wurde, dass Alpina mit ihrem Wissen und ihrem Können an eine Grenze stieß, spürte sie auch seine Hilflosigkeit. Erst kam ein sehr liebenswürdige Versuch die entmutigte Heilerin zu trösten, dann ein verzweifelter Hilferuf. Licinus herrschte erst die Hebamme, dann das im Fiberdelir liegende Kind an, nicht aufzugeben.


    Und tatsächlich, Alpinas Agonie und Verzweiflung wich einem letzten Aufbäumen der Willenskraft.
    "Du hast recht. So einfach machen wir es der dunklen Proserpina nicht. Noch muss sie auf Esquilina verzichten, noch ist nicht aller Tage Abend. Ich werde die Umschläge erneuern, die Dosis der Heilmittel im Trank erhöhen und wir werden gemeinsam mit Abklopfen und Umlagern veruchen, die Lunge besser zu belüften. Ich will und werde nicht aufgeben. Wenn du mir hilfst und an unserer Seite bleibst, wird Esquilina die Cirsis meistern und den Kampf gewinnen. Es kann und darf nicht anders sein!"

    Alpina stand auf und sah dem Praefecus entschlossen in die Augen.
    "Frisch ans Werk, Licinus! Du übernimmst das Abklopfen und dann lagere sie fast sitzend! Ich mache die Umschläge und den Trank fertig."
    Es war kein Vorschlag sondern ein Befehl.

    Die einfühlsame, liebevolle Art mit der Curio versuchte, Alpina zu trösten, war einfach umwerfend. "Er kommt zurück", sagte ihr Schwager im Brustton der Überzeugung und Alpina wollte es ihm glauben. Er, der er den Willen der Götter enträtselte und die Gebete der Menschen zu den Überirdischen und Unterirdischen trug, wer wenn nicht er musste es wissen, konnte die Zuversicht haben. Die raetische Hebamme zwang sich zu einem Lächeln.
    "Ja, ganz sicher. So wird es sein." Sprach sie sich Mut zu, auch wenn darin deutlich mehr Unsicherheit mitschwang als in Curios Sätzen, wenngleich sie die selben Worte benützte.


    Er kam auf Kaeso zu sprechen. Alpina sah die besorgte Miene des Schwagers und konnte es ihm durchaus nachempfinden. Sie aber glaubte daran, dass in dem Jungen Potential stecke, wenn er erst sein Selbstbewusstsein entwickelt haben würde. Noch war er sehr unsicher.
    "Kaseo macht sich gut. Er geht mir zu Hand, ist hilfsbereit und wissbegierig. Das Lesen und Schreiben bereitet ihm noch Schwierigkeiten. Runa bringt es ihm bei und ich gebe ihm Gelegenheit, sich zu üben. Einzig seine traurige Vergangenheit bringt ihn immer wieder an unsichtbare Grenzen. Dann traut er sich weniger zu als er kann. Manchmal verzweifelt er förmlich. Er muss schreckliche Dinge erlebt haben und braucht noch viel Fürsorge und Sanftmut. Wenn man ihm aber zeigt, dass er geschätzt wird und ihm keine Gefahr droht, dann wird er sich sicherlich noch entwickeln können. Es steckt Potential in ihm. Aber er wird noch Zeit brauchen um zu sich zu finden, seine Fähigkeiten einzuschätzen und genug Selbstvertrauen zu entwickeln."


    Schließlich kam Curio auf seine Gesundheit zu sprechen. "Was soll das heißen, es spielt keine Rolle?!" Alpina war sichtlich empört. "Du willst doch diese Welt nicht vorzeitig verlassen und Frau und Kind im Stich lassen, oder? Dann musst du schon ein wenig auf dich Acht geben. Schlaf ist eine wichtig Voraussetzung." Dass er ein eigenes Cubiculum zum Schlafen nutzte, quittierte sie mit einem Nicken. Diese Entscheidung war weise.
    "Du siehts aber, mit Verlaub, wenn ich das sagen darf, lieber Schwager, alles andere als erholt aus. Findest du in dem Cubiculum keinen Schlaf? Grübelst du sehr viel nach über die Erwartungen, die Runas Familie hat, haben könnte? Ist es das oder die Bürde des Amtes, das dich so gedankenumwölkt und kraftlos aussehen lässt? Die Entscheidung nach der Amtszeit eine Weile auf eurem Landgut zu verbringen ist sehr gut und ich kann dich nur darin bestärken. Aber gibt es sonst noch etwas vorher, womit ich dir helfen kann oder dich und Runa entlasten kann?"

    Die Stimmen vor der Tür hatten Alpina bereits den nahenden Praefectus Castrorum angekündigt. Als er nun mit besorgter Miene eintrat, hob sie den Blick.
    "Gut dass du kommen konntest, Iulius Licinus. Die Crisis ist da! Genau wie es die alten Lehrmeister geschrieben haben. Am siebten Tag einer fieberhaften Erkrankung kommt es zur Crisis. Dann entscheidet sich ob der Kranke gesundet oder...."


    Sie beendete den Satz nicht. Ihr trauriger Blick würde dem Iulier sagen, was es zu bedeuten hatte.
    "Ihr Zustand hat sich ganz plötzlich wieder verschlechtert. Das Fieber ist wieder gestiegen, dazu das Knistern in der Lunge und das pfeifende Ausatmen. Sie hat starke Schmerzen in den Flanken. Ich befürchte es ist eine Rippenfellentzündung."


    Alpina nahm die Hand der Kleinen und fühlte den Puls, er war zart aber unglaublich schnell. Wie ein galoppierendes Pferd jagte er dahin. Tränen traten in Alpinas Augen als sie den Mann ansah, der sich so sehr um das kleine Mädchen sorgte und, wie sie inzwischen wusste, sie aufrichtig liebte.
    "Licinus" ihre Stimme wurde ganz leise und brüchig. "Ich bin mit meinem Heilerlatein am Ende. Ich fürchte, ich habe versagt. Es war wohl keine gute Idee, sie zu mir zu bringen. Es tut mir so leid...."

    Überrascht über den unerwarteten und späten Besuch ihres Schwagers, sah Alpina auf.
    "Curio, wie schön dich zu sehen!"


    Tatsächlich hatten sie sich in den letzten Wochen nicht oft persönlich gesehen und gesprochen. Selbst gemeinsame Cenae waren eher die Ausnahme gewesen. Erst der Wahlkampf und nun die neue Aufgabe als Aedil forderten Curio. Und so sah er auch aus. Müde und mitgenommen. Tiefe dunkle Ringe ließen seine Augen unnatürlich groß wirken. Die Reste der Schminke, mit der er die Übermüdung tagsüber kaschierte, waren noch zu sehen, auch wenn er sonst bereits in der Freizeitkleidung erschien.


    Er umarmte Alpina und setzte sich zu ihr und Ursi auf den Boden. Seine rhetorische Frage ob bei ihnen alles in Ordung wäre, kommentierte Alpina mit einem Achselzucken. "Sicher ist alles in Ordnung. Ich habe sehr viel Arbeit, Kaeso entlastet mich zusehends und Ursicina..." Sie hielt inne und sah auf das kleine Mädchen, das gerade wütend einen Holzklotz auf den Boden pfefferte. ".... ist mein Augenstern. Wann immer mir mein Beruf Zeit lässt, spiele ich mit ihr oder sehe ihr beim Schlafen zu. Dann sehe ich Corvinus in ihren Gesichtszügen."


    Alpina verstummte. Sie wollte nicht sentimental werden. Ihr Blick traf erneut Curio. Er tastete sein Gesicht ab und suchte nach Anzeichen dafür, dass nicht nur die körperliche Müdigkeit die Ursache für die Augenringe war, doch wenn ihn etwas bedrückte, so trug er es zumindest nicht offen vor sich her.
    "Du siehst müde und mitgenommen aus, Curio. Deine neue Aufgabe fordert dich... vielleicht mehr als dir gut tut. Was meinst du? Wie lange wirst du das durchhalten ohne an Körper und Seele zu erkranken, Schwager? Auch du hast nicht unbegrenzt Reserven. Schläfst du wenigstens ausreichend? Lässt euch der kleine Decimus nachts ein wenig Ruhe?"

    Mit Freude bemerkte Alpina, dass Kaeso sich nach anfänglicher Unsicherheit nun entspannte. Dann aber fuhr er hoch. Er hatte Angst, dass sie ihn für undankbar hielt. Sein Versprechen, das Büchlein in Ehren zu halten und zu füllen rührte sie.
    Sie hob die Hand ein wenig und wuschelte ihm durch seinen Lockenkopf. "Das klingt gut. Wollen wir morgen dein Köpfchen mit neuem Wissen füllen? Auf dem Weg zur Villa Duccia werden wir uns einigen wichtigen Kräutern für die Schwangerschaft widmen. Ich würde mich freuen, wenn ich dich in deiner neuen Tunika bewundern dürfte."


    Alpina nahm den Arm von der Schulter des Jungen und stand auf. "Schlaf gut, Kaeso und bis morgen."
    Lächelnd verabschiedete sie sich von ihm und verließ die kleine Kammer.

    Alpina konnte die Überraschung und Freude in Kaesos Gesicht sehen, als er das verschnürte Paket sah. Während ihn die Tunika wirklich zu freuen schien, führte das Erkennen des Büchleins und die damit verbundene Herausforderung zu einem weiteren Zusammenbruch des Jungen. Am liebsten hätte sie die Hände in die Seiten gestützt und ihn ärgerlich gefragt, ob er nicht einfach "Danke" sagen könne. Aber nach seiner niedergeschlagenen Reaktion und den Tränen in den Augen, war der raetischen Hebamme bewusst, dass Kaeso etwas anderes brauchte als Schelte.


    Sie schob die Tunika und das Büchlein beiseite und setzte sich neben Kaeso. Ganz selbstverständlich legte sie ihm den Arm um die Schulter und drückte ihn an sich.
    "Was soll das heißen "ich kann es nicht"? Kaeso, niemand erwartet, dass du von heute auf morgen dieses Büchlein in Schönschrift füllen kannst. Lass dir Zeit. Übe auf deiner Tabula und wenn du Sicherheit gewonnen hast, übertrage die Rezepte in dieses Büchlein. Glaubst du denn, ich hätte Lesen und Schreiben an einem Tag gelernt? Ich war zwar ein wenig jünger als du aber auch ich habe geflucht und geweint und meiner Mutter ins Gesicht geschrien dass ich es nie lernen werde und nie wieder einen Stilus in die Finger nehmen werde."


    Ihre Hand, die eben noch auf der Schulter geruht hatte, streichelte vorsichtig über seinen Kopf und legte diesen sanft auf ihre Schulter. "Und was das andere angeht. Das mache ich gerne. Es ist mir ein Bedürfnis, Kaeso. Ich freue mich, wenn ich dir etwas geben kann, was du so vielleich nicht gehabt hast bisher. Mein Lebensgefährte ist seit beinahe einem Jahr nicht bei mir gewesen. Er kennt seine Tochter nur als Winzling und ich bin auf mich selbst angewiesen. Wenn ich Curio und Runa nicht hätte und vor allem meine kleine Ursicina wäre mein Leben grau und trostlos. Wir brauchen einfach das Gefühl ein Heim zu haben und die Zuneigung anderer, denen wir wichtig sind. Ich brauche das genauso wie du. Wenn wir uns gegenseitig Halt geben, sind all die Widrigkeiten des Lebens besser zu ertragen. Du und ich haben viel erlebt und die Erinnerung an unsere Vergangenheit kommt immer mal wieder hoch und macht uns unsicher. Aber eines steht fest: ich bin froh, dass du da bist und du darfst all das, was ich dir anbiete annehmen ohne dich schlecht zu fühlen. Du verdienst es."

    Mit dem Schwager rechnete Alpina zwar nicht, als es an der Tür ihres Cubiculums klopfte, sondern eher mit Neman oder Kaeso oder einem der anderen Bediensteten, doch wurde das Klopfen mit einem freundlich-aufmunternden "Tritt nur ein!" beantwortet.


    Die Hebamme saß auf dem Boden und spielte mit ihrer Tochter. Sie stapelte verschiedene Holzklötze aufeinander und Ursicina hatte großen Spaß daran, die mehr oder weniger kunstvollen Bauten gleich wieder einzureißen. Dabei lachte sie und quietschte vor Vergnügen. Alpina war das Spiel langsam leid und deshalb nicht undankbar um eine Unterbrechen. Vermutlich hoffte sie insgeheim, dass Neman sie erlösen würde.

    Alpina hörte die Aufforderung einzutreten und den mitschwingenden Ärger. Sie war sich unsicher, ob sie Kaeso in dieser Stimmung stören sollte. Doch dann entschied sie sich doch einzutreten. Als sie die Tür aufschob sah sie die Tabula in Kaesos Hand, bereit geworfen zu werden. Mit gerunzelter Stirn beobachtete sie die Szene.
    "Salve, Kaeso. Was geht hier vor?" Sie legte das Päckchen aus dem in die graue Tunika gewickelte Büchlein auf das Bett und nahm dem verärgerten Jungen die Schreibtafel aus der Hand. Sie sah die in ungelenker Hand geschriebenen Worte. Als sie erkannte, was er geschrieben hatte lächelte sie.
    "Sehr gut, Kaeso! Sehr gut. Du wolltest den lateinischen Namen der römischen Kamille schreiben. Glaub mir, es ist nicht relevant wie sie genau geschrieben wird. Ich bin sicher, wenn du 10 verschiedene Kräuterbücher aufschlägst wirst du mindestens 5 verschiedene Schreibweisen finden. Solange du erkennst um welche Pflanze es sich handelt...."


    Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. "Das sieht doch schon sehr gut aus so."
    Und tatsächlich konnte man an ihrer Stimme hören, dass es sich nicht um eine Beschwichtigung sondern um eine ehrliche Einschätzung handelte.
    "Ich weiß deine Bemühungen zu schätzen und wie sehr ich deine Hilfe und dein Engagement zu würdigen weiß... möchte ich dir hiermit beweisen."


    Alpina deutete auf das Geschenk auf dem Bett. Die graue, einfache Tunika, die das Büchlein umhüllte war mit einer geflochtenen Lederkordel umwickelt. Wenn er beides entfernte würde er sein eigenes Büchlein finden, in das er alle gelernten Rezepte schreiben konnte. Seine eigene Materia Medica.
    Sie lächelte ihm aufmunternd zu. "Was ist? Willst du es nicht auspacken?"


    Die ersten Wochen mit ihrem neuen Gehilfen waren vorüber. Von Runa hatte Alpina erfahren, dass sich der Junge zwar noch immer mit dem Schreiben schwer tat, aber zumindest bemüht war, sich die notwendigen Kenntnisse anzueigen. Sie selbst hatte Kaseo mittlerweile als sehr wissbegierigen und hilfsbereiten, wenn auch sehr unsicheren Jungen kennengelernt. Seine traurige Vergangenheit beschäftigte ihn noch immer sehr und lastete auf seinen Schultern.
    Sehr eigennützig hatte Alpina beschlossen, Kaeso ein Geschenk zu machen, das beiden gerecht wurde. Er würde das Schreiben üben können und müssen und sie würde sicher sein können, dass er die wichtigsten Rezepte schriftlich hatte und jederzeit nachschlagen konnte, wenn er sie benötigte. Nicht selten war er alleine in der Taberna Medica und musste auf die Wünsche der Kunden bald selbsttägig die passende Arznei mischen können oder die dafür notwendigen Kräuter verkaufen. Also hatte Alpina ihrem Gehilfen ein Büchlein gebastelt, in das er seine Rezepte schreiben konnte - seine eigene Materia Medica.


    Das Büchlein hatte sie in einen Stoff gewickelt, der sich bei genauerem Hinsehen als einfache, aber nagelneue, graue Tunika entpuppen würde. Zusammengebunden hatte sie das "Paket" mit einer geflochtenen Lederkordel, die er zum Gürten der Tunika verwenden konnte. So bepackt klopfte Alpina an Kaesos Cubiculumtür.


    Klopf, Klopf!!

    Die Hebamme freute sich sichtlich über das Interesse des Jungen an ihrem Berufsstand.
    "Nun, auch hier ruft nicht jede Frau eine Hebamme und gerade auf dem Land helfen sich die Frauen in der Regel auch gegenseitig. Aber im Laufe der Zeit habe ich mir einen gewissen Ruf erarbeitet und selbst die Frauen in den Cabanae wissen, dass meine Dienste nicht unerschwinglich sind. Sie können mich in Naturalien bezahlen, wenn sie nicht über das nötige Geld verfügen und ich würde niemals eine Gebärende abweisen, wenn sie um Hilfe bittet. Auch wenn mein Lohn nur ihr Lächeln und das Schreien eines gesunden Säuglings ist. Das wissen die Frauen mittlerweile und rufen mich gerne. Jeder gibt, was er geben kann. Und so ist es richtig."

    Alpina musste zunächst lachen als sich Kaeso sorgen über den überfüllten Götterhimmel machte. Sie war zwar eine fromme Frau, die fest an das Wirken der Götter glaubte, konnte aber verstehen, dass der Junge mit den vielen verschiedenen Göttinnen aus den unterschiedlichen Völkern seine Probleme hatte. Nach dem ersten Lachen wurde sie jedoch schnell wieder erst und erwiderte ihm.
    "Sei dir sicher, dass jeder Gott und jede Göttin ihr Auskommen hat und vergiss dabei nicht, dass es für eine Gebärende sehr wichtig sein kann, dass du man ihr das Vertrauen gibt, dass sie nicht allein in ihrer Not ist und vor allem dann, wenn die Geburt kein gutes Ende nimmt und das Kind stirbt, dass es nicht ihre Schuld oder gar meine Schuld als Hebamme ist, sondern die Entscheidung der Götter, ob sie und das Kind überleben."


    Die Hebamme sagte das mit Bestimmtheit. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken, was es für sie bedeuten würde, wenn man nicht mehr die Götter für den Tod der Gebärenden und ihres Kindes verantwortlich machen würde, sondern sie als Helferin. Was dann?

    Wie die Kräuterfrau schon vermutet hatte, bekam Kaeso ein wenig kalte Füße als sie das Mitschreiben der Rezepte ansprach. Seine promte Ausrede, Alpina bei ihrer Arbeit nicht stören zu wollen, entlockte der Hebamme ein Grinsen. So einfach kam er ihr nicht davon.
    "Ich denke wir werden eine Lösung finden. Vielleicht kannst du dir zunächst nur Stichpunkte auf einer Wachstafel notieren und später dann alles in Ruhe und in ganzen Sätzen ins Reine schreiben. Du wirst noch viel Leerlauf haben, wenn gerade keine Kunden in der Taberna Medica sind oder ich deine Hilfe nicht benötige. Es ist jedenfalls eine gute Möglichkeit, deine neuen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und zu üben. Und nun komm! Wir gehen den Trank bereiten."


    Sie drückte Kaeso den abgeschnittenen Thymian in die Hand und schob die Sichel in den Gürtel zurück. Dann ging sie voraus in Richtung der Taberna Medica.

    Alpina saß in ihrem Cubiculum. Ursicina spielte vor ihren Augen mit einigen Holzstücken, Nüssen und Steinchen, die sie immer wieder in kleine und größere Schachteln räumte und erneut hervorholte. Sie selbst hatte mehrere Blätter nicht allzu teuren Papyrus auf ein handliches Format geschnitten und gefaltet. Nun vernähte sie die Seiten mit einer Mittelnaht, so dass am Ende ein Heftchen entstand, das beschritet werden konnte. Als sie damit fertig war, setzte sie sich an den Schreibtisch und nahm die Feder und das Tintenfass. Mit geübter Hand schrieb sie in möglichst schöner Schrift eitwas ins obere Drittel des Titelblattes. Darunter malte sie, so akurat es ihr gelang, eine Salbeipflanze.



    Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Sie konnte es kaum erwarten, Kaeso das Geschenk zu übergeben.

    Sichtlich erschrocken über Kaesos geflüsterte Worte, verstärkte Alpina den Druck der Hand. Sie wollte dem Jungen das Gefühl von Sicherheit vermitteln.
    "Sei dir versichert, in diesem Haus wird dir keine Gewalt widerfahren und sowohl die beiden helvetischen Brüder, als auch ihre Frauen und selbstverständlich auch ihre Sklaven und Hausangestellten werden weder Gewalt ausüben noch Gewalt erfahren. Zumindest musste ich noch nicht miterleben, dass hier im Hause jemand geschlagen wurde."


    Die raetische Hebamme bemerkte sehr wohl, dass ihrem Schützling das Thema unangenehm war. Sie bechloss also nicht weiter darauf einzugehen und stattdessen auf seine Frage zu antworten.
    "Es gibt eine ganze Reihe Geburtsgötter. Am häufigsten rufen Schwangere und Gebärende Iuno, die Göttin der Ehe und Familie an. Speziell Iuno Lucina, die Lichtbringerin. Sie trägt die Fackel mit dem Lebenslicht und entscheidet bei der Geburt ob sie die Fackel hochhält oder das Licht löscht - du verstehst?"
    Sie sah Kaeso ein wenig traurig an. Dann fuhr sie fort. "Hier nördlich der Alpes ruft man auch gerne Diana als Patronin der Gebärenden an. Dann nennt man sie ebenfalls Diana Lucina. In Griechenland nennt man die Geburtsgöttin Eileithyia. Die Germanen verehren sehr häufig ihre eigenen Götter. Da sind zum einen die drei Matronen, die man im Zusammenhang mit Fruchtbarkeit, Ehe und Kinderreichtum um Beistand bittet als auch Frigg und die Mutter Erde - Nerthus. Dazu kommen jeweils die lokalen Göttinnen wie zum Beispiel Abnoba oder Rosmerta, in Raetien auch Raetia. Wichtig ist, zu welcher Gottheit die Schwangere Vertrauen hat. Am besten man fragt sie selbst."

    Wieder freute sich Alpina über ihren wissbegierigen Schüler. Sie hörte Kaeso genau zu, dann antwortete sie.
    "So ist es. Nicht alle Kräuter sind einheimische Pflanzen. Manche sind erst hier angesiedelt worden und viele - sehr viele - wachsen eben wegen der kalten Winter überhaupt nicht hier. Diese muss ich bei einem Fernhändler kaufen. Das verteuert die Arznei, macht sie wertvoll. Dann kann sie sich nicht jeder leisten. Ich möchte aber gerne, dass möglichst viele derjenigen, die meinen Rat und Beistand suchen, sich eine wirkungsvolle Arznei kaufen können. Deshalb versuche ich diejenigen Kräuter hier selbst anzubauen, die in unserem Klima gedeihen. Manche kann man in den Schutz einer Mauer stellen..." Sie zeigte auf ein Kräuterbeet nahe der Hauswand. "Die Wärme des durch den Sonnenschein tagsüber aufgewärmten Mauerwerks wird nachts an die Pflanzen davor wieder abgegeben. Manche schütze ich durch Reisig vor den Frösten im Winter. Aber leider geht das nicht mit allen Pflanzen."


    Alpina griff in ihren Gürtel und löste eine kleine Sichel vom Leder. "Wir schneiden gleich ein wenig Thymian und verarbeiten ihn zu einem Hustentrank für Esquilina. Wenn du möchtest, zeige ich dir wie man diesen Trank herstellt. Welche Fortschritte macht das Schreiben, Kaeso? Ich hätte nämlich gerne, dass du dir das Rezept und die Herstellungsweise notierst. Wenn das noch zu schwierig für dich ist, mache ich es für dich, aber du musst zusehen und so viel wie möglich selbst schreiben."


    Herausfordernd sah die Hebamme den Jungen an. Sie war gespannt, wie sich die Unterrichtsstunden bei Runa auswirkten.

    Alpina lauschte den Worten des jungen Kaeso. Alles in ihr krampfte sich zusammen als er berichtete, wie sein Vater die Mutter misshandelt hatte. Sie musste schlucken und suchte nach den richtigen Worten. Ihre Stimme klang belegt als sie antwortete.
    "Im Grunde ist eine normal verlaufende Schwangerschaft nichts vor dem man sich fürchten muss. Grundsätzlich aber kann jede Frau bei jeder Entbindung sterben und mit ihr das Kind. Davor haben viele Frauen Angst. Fast täglich erlebe ich wie nah das Geben von Leben mit dem Nehmen verknüpft ist. Eine kleine Komplikation und die Schwangerschaft endet vorzeitig und nicht selten eben dann tödlich. Und natürlich tut es weh ein Kind zu bekommen - sehr sogar! Es schmerzt unbeschreiblich, doch meist vergisst man den Schmerz schon sehr schnell wieder, wenn alles gut gegangen ist. Dann überwiegen die Glücksgefühle."


    Die Hebamme holt tief Luft. Sie bemerkte die Aufregung Kaesos und sah seinen feindseligen Blick. Vorsichtig streckte Alpina die Hand aus und ergriff die des Jungen. "Was du miterlebt hast, hat nichts mit einer normalen Beziehung zwischen Mann und Frau zu tun. Diese Beziehung war von Verachtung und Missbrauch geprägt. Wir Hebammen empfehlen, dass ein Mann und eine Frau während der Schwangerschaft nur vorsichtig miteinander umgehen, um eine Früh- oder Fehlgeburt zu vermeiden. Vermutlich hat deine Mutter genau das schon erlebt und ihn deshalb angebettelt sie zu verschonen. Ganz abgesehen davon, dass das Risiko mit jeder Schwangerschaft steigt, irgendwann von der Unerbittlichen gerufen zu werden. Das ist einer der Gründe warum sie zu mir kommen, sich den Beistand einer erfahrenen Hebamme versichern wollen und mit Heilkräutern eine möglichst optimale Geburt vorbereiten wollen. Die Gefahr ist immer da. Doch der Zustand der Schwangerschaft ist an sich noch nicht krankhaft."

    Alpina führte Kaeso in den Kräutergarten. Die verschiedenen Kräuter waren in kleinen rechteckigen Beeten angeordnet, die durch schmale Wege voneinander getrennt waren. Sie zeigte auf ein Beet im Schatten der Hauswand.
    "Siehst du, diese hier lieben es schattig und eher feucht. Dort ist die Minze und der Baldrian. Auch das Mädesüß mag es so. Dort drüben sind die Kräuter, die aus dem Süden jenseits der Alpen kommen. Manche sogar aus Regionen jenseits des Mare Nostrum. Dort ist der Boden eher trocken und sandig, die Sonne stärker. Dort wachsen Salbei, Thymian, Rosmarin und Ysop. Deshalb hab ich den Boden hier mit Sand angereichert. Die Sonne scheint hier den ganzen Tag."


    Die Raeterin ging zu jeder Pflanze hin und ließ Kaeso riechen und schmecken. "Meine Kenntnisse habe ich zum einen aus der Familientradion. Meine Mutter und sogar die Großmutter waren bereits kräuterkundige Hebammen. Zum Teil habe ich aber auch andere Heiler und Kräuterkundige um ihr Wissen gefragt und nachdem ich lesen gelernt hatte, habe ich die Bücher des Medicu Celsus gelesen. Sie enthalen viele wichtige Informationen. Nicht nur deshalb musst du unbedingt lesen lernen."


    Sie klopfte Kaeso aufmunternd auf die Schulter. "Und vergiss nie. Man lernt nie aus. Auch ich lerne täglich dazu. Das Leben ist ein einziges Lernen und das ist gar nichts Schlimmes, im Gegenteil. Es macht Spaß!"

    Alpina lächelte als sie von Kaeso mit immer neuen Fragen überschüttet wurde. So war ihr das lieb. Es zeigte sein Interesse und das war ein gutes Zeichen.


    "Jede Landschaft und jede Klimazone hat ihre eigenen Heilpflanzen. Vor einiger Zeit habe ich eine längere Zeit in Germania magna verbracht und dort einiges von einer germanischen Kräuterfrau über die Verwendung der dort wachsenden Pflanzen erfahren. In meiner Heimat Raetia und besonders in den Alpes, dem Gebirge zwischen Rom und den transalpinischen Provinzen, wachsen wieder andrere Heilpflanzen. In den kalten Regionen der Berge, in denen die Bedingungen hart sind, sind manche besondere Pflanzen heimisch und haben manchmal mehr Kraft als im Flachland."


    Sie dachte kurz nach. Dann nahm die Kräuterfrau den Jungen mit sich in den Kräutergarten des Hauses.

    Der Junge machte Fortschritte und Alpina freute sich. "Sehr gut, Kaeso, so ist es. Jede Pflanze hat eine bestimmte Lieblingsumgebung. Wir halten uns ja auch am Liebsten da auf, wo wir uns wohl fühlen. Der eine von uns liebt die Sonne, der andere den Schutz der Bäume. Einer mag es warm, ein anderer liebt es kühler. Und bei Pflanzen ist es auch so. Wenn du gelernt hast, was die Pflanze für eine Umgebung und für Böden bevorzugt, wirst du sie überall finden. Lungenkraut mag schattige Laubwälder und Gebüsche. Es blüht im März oder April. Man nimmt die blühende Pflanze und trocknet sie oder verwendet sie frisch", erklärte die Kräuterfrau.


    Sie pflückte einige Stängel und ging dann weiter zum nächsten Vorkommen.
    "Wie du schon so richtig gesagt hast, nimmt man Lungenkraut bei Lungenerkrankungen und Husten aber auch bei Heiserkeit und Halsweh. Man hat aber auch festgestellt, dass es gut bei entzündetem Magen und Darm wirkt und gegen Durchfall und Blasenleiden hilft. Doch vorsicht!" Sie hob den Zeigefinger. "Es darf nicht über einen langen Zeitraum verwendet werden, da es im Übermaß schwarze Galle erzeugt."


    Nach einiger Zeit war Alpina zufrieden. "So, wir haben genug Kräuter und du hast für heute genug gelernt. Du wirst bald die Gelegenheit bekommen, das Gelernte anzuwenden und zu vertiefen. Und nun komm, wir müssen Esquilina den Trank machen!"