Gebannt verfolgte Phryne das Geschehen und fragte sich, wie es Kaeso in der Dunkelheit unter dem Stieropfer wohl gehen mochte. Hatte er Angst oder empfand er ein Hochgefühl?
Sie selbst hatte fürchterliche Angst gehabt, damals in Rom, als man sie zum Taurobolium führte.
Es tat einen dumpfen Schlag als der Stier tötlich getroffen niedersank. Opferdiener kümmerten sich um alles weitere. Später würden alle von dem zubereiteten Fleisch zu essen bekommen. Die angehende Priesterin, deren Weihe erst in einigen Tagen anstand und der Gallus standen neben dem Gestell und sahen zu wie sich das Blut seinen Weg ins Innere suchte. Sie mussten Kaeso noch eine Weile sich selbst überlassen. Die Dunkelheit, die Einsamkeit und Angst sowie das Ausgeliefert-sein gehörten zum Leben-Tod-Leben-Ritual. Kaeso musste im Inneren der Erde, unter dem Fruchtbarkeit spendenden Regen des Stierblutes seinen persönlichen Tod erleiden, bevor sie als Verkörperung der Kybele ihn wieder erwecken durfte.
Düstere Melodien und monotone Trommelschläge versetzten die Kultgemeinde in die mysthische Stimmung, die den Reiz der Initiation ausmachte. Klagende Singstimmen weinten um Kaeso, der wie einst Attis den blutigen Tod gestorben war. Eine kleine Ewigkeit dauerte die Trauerzeremonie. Dann folgte wieder Stille. Phryne glaubte Kaesos Herz schlagen zu hören und seine Angst zu spüren.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, gab der Gallus Phryne das Zeichen, den Kranz und den Becher mit Milch aufzunehmen.
Der Priester ging an das Gestell und öffnete die Pforte, damit der blutbesudelte Myste als neuer Fanaticus aus der Unterwelt steigen konnte.
Als Kaeso blass und zittrig erschien, atmete Phryne auf. Ein befreites Lächeln zauberte sich auf ihre Lippen. Im langen, bunten Gewand mit dem Schleier und der Mauerkrone sollte sie ihm die Große Mutter sein.
Claudius Atticus wartete bis Kaeso vor ihm stand. Dann gab er ihm den Kernos in die Hand.
Sprich nun die Einweihungsformel, Kaeso! Dann nehmen wir dich auf in den Kreis der Fanatici!