Über dem östlichen Himmel begann sich der Himmel rosarot zu färben. Das Fest der Freude wurde mit dem zarten Klingeln der Zimbel und den dann einsetzenden Trommelschlägen des Tympanon eingeleutet. Die Mysten sangen zunächst leise und sanft, dann immer lauter und fröhlicher. Sie begrüßten die Göttin und ihren wiedergeborenen Liebhaber.
Phryne schlug die Augen auf. Sie lag im Inneren des Tempels, vor der Statue der Kybele, die mit strengem Blick auf sie herabsah. Einen Augenblick überlegte die Libertina ob sie tot sei. Vorsichtig bewegte sie ihre Arme und Beine. Sie fühlten sich schmerzhaft an. Phryne erinnerte sich an wenig, doch wohl daran dass sie getanzt hatte und dass sie gestorben war. Zumindest hatte sie das Gefühl gehabt gestorben zu sein. Das Gesicht der Göttin in ihrem Aspekt als Tödin erschien vor ihrem inneren Auge. Offenbar war sie nicht tot. Sie hatte genau wie Attis den symbolischen Tod erlitten um neu geboren zu werden. Die Schmerzen waren ein deutliches Zeichen dafür dass sie lebte.
Eine der Fanatici wusch Phryne mit lauwarmem Wasser das Blut vom Leib. Die Frau wusch der frisch geweihten Priesterin auch die Haare, kämmte die verfilzten und mit Blut verklebten Strähnen und steckte sie zu einer aufwändigen Frisur hoch. Mit bunten Bändern durchwoben und mit glänzenden Haarnadeln aufgesteckt sahen Phrynes Haare besonders schön aus.
Der Gallus trat ein. Er warf einen bewundernden Blick auf seine neue Priesterin. Keine Frau verkörperte die Große Göttin so eindrücklich wie Phryne. Auch wenn Claudius Atticus sich körperlich nicht zu Frauen hingezogen fühlte, so bewunderte er doch die Schönheit dieser Frau.
Mit einem Lächeln begrüßte er die Schauspielerin und überreichte ihr ein neues, aufwändig besticktes und mit bunten Borten und Amuletten verziertes Gewand.
Die Große Mutter wusste, warum sie deinen Körper auswählte um in ihn einzutreten. Du warst großartig. Nun ist es an der Zeit, dass du dein Ritualgewand anziehst und zu uns kommst. Alle erwarten dich.
Phryne begrüßte den Gallus mit einer ehrerbietigen Verbeugung. Sie lächelte zufrieden. Zu deutlich spürte sie, dass sie ihren Körper der Göttin geliehen hatte. Auch wenn sie sich nicht mehr daran erinnerte, fühlte sich ihr Schoss doch wund an. Sie wusste von früheren Teilnahmen an den Feierlichkeiten der Hilaria, dass diejenige deren Körper sich die Göttin aussuchte, in ihrer Trance meist mit mehreren Mysten Verkehr hatte. Ihr ganzer Körper schmerzte, nicht nur der Schoss: alle Muskeln schienen zu brennen und zu ziehen. Phryne war ein einziger Schmerz. Um sich abzulenken, betrachtete sie das schöne Ritualgewand. Ihren Finger fuhren über die aufwändigen Stickereien und den seidigen Stoff. Sie ließ sich dabei helfen es anzulegen. Es fühlte sich wundervoll an.
Der Gallus trat aus dem Tempeltor und richtete sich an die Festgemeinde.
Begrüßt mit mir die neue Priesterin der Großen Mutter Kybele.
Unter Jubelrufen und tosendem Applaus erschien Phryne hoch erhobenen Hauptes im Tor. Der Gallus setzte ihr einen Blütenkranz auf das hübsch hergerichtete Haupthaar und reichte ihr einen Becher Milch. Phryne trank. Dann hob sie die Hände zum Himmel und betete laut zu Kybele.
Dea Magna, Dea magna Kybele, dea domina!
Löwenmutter! Große Mutter!
Erhöre mein Gebet!
Segne uns, die wir dir dienen, die wir dir unser Blut opfern.
Segne unsere Leiber und unsere Seelen!
Führe uns durch das Dunkel des Todes erneut ans Licht!
Ich, die ich vergangene Nacht starb und wiedergeboren wurde, rufe euch allen zu:
Cinis sum, cinis terra est,terra dea est, ergo mortua non sum.
Ich bin Asche, Asche ist Erde,
die Erde ist eine Göttin, also bin ich nicht tot.
Phrynes Augen glänzten. Die großen dunklen Pupillen strahlten in der Gewissheit des in der Nacht erlebten. Mit der Euphorie im Blick und in der Stimme sah sie auf die Mytengemeinde. Ihr Blick fing den Kaesos. Sie fixierte ihn um ihm die Wahrheit ihrer Worte ins Gedächtnis einzubrennen.