"Stärkung kann er nur erhalten, wenn er zu sich kommt." Sie wollte sich nicht verteidigen und tat es doch. Sie wollte aus diesem Alptraum aufwachen, aber es misslang, weil der Angsttraum der Wirklichkeit entsprach.
Was auch immer sie antrieb, sie setzte einen Fuß vor den anderen und funktionierte. Bei der Amme angekommen, sprach sie mit leiser Stimme. "Ich will den Medicus hier haben, sofort!"
Anschließend schlich, teils taumelte sie zurück zum Bett ihres Kindes, wählte die gegenüberliegende Seite und setzte sich an den Rand. Ihr Herz verriet, dass ihr Junge heute wohl nicht mehr zu sich kam. Ihre Hand umfasste seine, die gänzlich ohne Körperspannung war. Mit der zweiten Hand strich sie die kleinen Finger in jene Haltung, die sie einnehmen würden, wenn er zufassen würde. So verharrte sie, bis der Medicus kam.
Zufrieden stellte er fest, dass Serena ihren Fokus wieder auf den Jungen richtete. Das war in jedem Fall besser als das Grübeln über eigene Verfehlungen!
Er sah noch einmal besorgt auf den kleinen Jungen, dann wieder im Raum herum. Erst jetzt bemerkte er, dass die Augusta und die Amme beide furchtbar übernächtigt aussahen. "Die Amme und du sollten sich abwechseln. Ihr braucht auch Schlaf."
Er selbst konnte nichts tun, wie ihm bewusst wurde. Weder hatte er medizinisches Wissen, noch konnte er mit der mütterlichen Liebe der beiden Frauen konkurrieren, um den kleinen Caesar zu stärken. "Ruft mich, wenn es etwas Neues gibt!" stellte er daher fest und verließ den Raum, wobei er sich mit dem Medicus die Klinke in die Hand gab.
Der Medicus drängte sich zwischen die Augusta und das Kind, schob dabei die Mutter zur Seite, da sie ohnehin nichts mehr tun konnte, falls er mit seiner Vermutung was geschehen war richtig lag. Schnell, jedoch äusserst professionell suchte er nach einem Puls und dies nicht bloss an einer Stelle, sondern gleich an verschiedenen Orten. Ebenfalls versuchte er, jede noch so kleine Atembewegung zu erhaschen, doch es war nichts mehr zu spüren und zu sehen.
Tiberius Aquilius Iulianus weilt nicht mehr unter uns. Er ist auf dem Weg zu den Göttern, mögen diese seiner Seele gnädig sein.
Der Kaiser war noch nicht in seinem Officium angekommen, als ihm ein Sklave hinterherkam und die schreckliche Diagnose des Medicus verkündete. Als er in den Raum zurückkehrte, war Veturia Serena bereits zusammengeklappt. Ohnehin eilte Severus zunächst an das Totenbett, wo in diesem moment niemand Wache hielt.
Noch sah der Kleine recht lebendig aus, doch als sich der Kaiser hinabbeugte, bemerkte er sofort, dass der Brustkorb abgesackt und kein Atem zu spüren war. Seine Beziehung zu Iulianus war nicht sehr innig gewesen. Doch der Tod dieses kleinen Menschleins rührte den Herrn der Welt trotzdem an. Es war immerhin sein Sohn! Mit beiden Armen umfasste er das Köpfchen und drückte seine bärtige Wange an das zarte, leblose Gesicht. Tränen füllten seine Augen. Mit einem Kuss saugte er den letzten Atemzug aus dem leblosen Mund, wie es die Tradition verlangte.
Kurz war er versucht, aufzuschreien und sich der Agonie hinzugeben. Wie befreiend würde es sein, den Schmerz herauszubrüllen!
Dann aber gewann er die Fassung zurück. So wie damals in Dacia auf dem Schlachtfeld. Sicher, sein kleiner Sohn war tot. Aber herumzuschreien, zu weinen und zu klagen würde ihn nicht lebendig machen. Am Ende nützte es nichts. Und er war der Pater familias. Er musste für seine Frau, für seine Familie sorgen. Und nebenbei noch für ein ganzes Imperium!
Mit fahrigen Bewegungen rappelte der Kaiser sich auf. Mit Daumen und Zeigefinger wischte er sich die aufkommenden Tränen aus den Augen. Dann atmete er zweimal durch. Dann ein drittes Mal. Und dann hatte er sich wieder unter Kontrolle: "Ich brauche Geld für den Fährmann! Einen Aureus!" Etwas geringeres hatte sein Sohn nicht verdient.
Erst danach registrierte er, dass die Amme und mehrere Sklaven um die kollabierte Augusta knieten und standen und nervös auf sie einredeten. "Was ist mit ihr?" fragte er den Medicus, der ihre Vitalfunktionen untersuchte.
"Die Nerven. Sie braucht nur ein wenig Ruhe." stellte der Arzt fest. Severus nickte. Er brauchte auch Ruhe. Oder vielleicht viel Arbeit. Das würde vom Schmerz ablenken.