Beiträge von Caius Iunius Agricola

    Kira aus Thyrus machte zunächst keine Anstalten zu verschwinden, glotze vielmehr auf Agricola hinab, als habe der einen kolossal witzigen Scherz gemacht, dessen Sinn sich ihr noch nicht recht erschloss. Es war interessant, zu beobachten, welche Vielfalt an Gemütsregungen in kürzester Zeit an ihrer Mimik zerrte. Erst gespielte Überraschung, dann echte Verblüffung, dann Erkenntnis, gefolgt von Zorn, Abscheu und Hass. In nur wenigen Augenblicken hatte sich das ebenmäßige dunkle Antlitz in eine zerfurchte Fratze verwandelt.


    Mit einer Stimme, die nun gar nichts Verheißungsvolles mehr hatte, begann sie heiser herumzukrähen.
    "lotiolentus! Cacator! Prodigium!"
    Dabei präsentierte sie dem Iunier ihren zwischen die Finger geklemmten Daumen.
    "Pathicus! Cinaedus! Spado!"


    Agricola ließ sie toben. So lange sich keiner der anderen Gäste einmischte, und danach sah es nicht aus, hatte er mit dieser Coa kein Problem. Er wollte seine Ruhe haben, sonst nichts. Irgendwann würde der Schlampe die Puste ausgehen, und wenn sie erst realisiert hatte, dass es hier nichts für sie zu holen gab, würde er sich wieder in Ruhe mit seinen noch nicht sonderlich weit gediehenen Zukunftsplänen befassen können.


    So kam es denn auch. Nach einem guten Dutzend weiterer Schmähungen hatte sich der Wortschatz der rasant gealterten Schönheit offenbar erschöpft und sie trat schließlich schnaufend den Rückzug an. Allerdings nicht, ohne Agricola zuvor noch ihr Hinterteil entgegen zu recken und eine gedehnten Flatus zurückzulassen. Ihr Hintern, das musste er zugeben, konnte sich wirklich sehen lassen. Wenngleich er natürlich nur eine weiche Ahnung von Wonne war, verglichen mit dem göttlich straffen Gesäß der iunischen Coqua Aesara, das auch in Misenum regelmäßig durch seine Träume gegeistert war. Agricola seufzte tief und guckte dann versonnen in seinen Becher. Mit der Erinnerung an Aesara waren seine Gedanken wieder dort angekommen, wohin er sich selbst noch zu begeben hatte. Die Domus der Iunii auf dem Quirinal.


    Fast vier Jahre waren vergangen, seit er die Domus Iunia verlassen hatte, um sich mit den diversen Betrieben und Gütern seiner Gens vertraut zu machen. Jahre, in denen viel passiert- und in denen er ein anderer geworden war. Vor allem die Zeit in Misenum, bei seiner Großmutter Helia, hatte ihn verändert. Dort hatte er die Toga Virilis angelegt, sich versuchsweise den ersten Bart stehen lassen, erstmals ungehemmt seinen Begierden gefrönt und, wie ihm anfangs schien, einen wahren Freund gefunden. Der alte Sparsus hatte ihm Lektionen im Umgang mit dem Gladius erteilt und ihn Tag für Tag körperlich herausgefordert. Alles hätte gerne so bleiben dürfen, wie es war. Doch aus der Mündigkeit erwuchsen ihm Verpflichtungen. Niemand musste ihn darauf hinweisen, niemand ihn daran erinnern. Er fühlte es. Täglich deutlicher. Nicht nur seiner Gens war er verpflichtet sondern darüber hinaus auch Kaiser und Reich und ebenso sich selbst. Bücher zu prüfen, Berichte zu verfassen und Bibliotheken zu aktualisieren war keine Lebensaufgabe und Müßiggang keine Option.
    In den vergangenen drei Tagen hatte er versucht, Zeit zu gewinnen, das Gefühl der wachsenden Verantwortung mit Wein zu betäuben. Vergeblich, wie er nun einsah. Zeit konnte man nicht gewinnen, nur verlieren. Er war Iuno zutiefst dankbar dafür, dass sie seiner Lethargie Einhalt geboten hatte. Ein Zeichen hatte er gebraucht und bekommen. Was er jetzt brauchte, war Salbe.

    Es war nicht viel los in der Wirtsstube. Gerade mal ein langer Tisch im Halbdunkel der rückwärtigen Mauer war dicht besetzt mit redseligen Kerlen und ein paar kichernden Weibern. Unnützes Gesindel, befand Agricola. Wer zu dieser Tageszeit, es ging gegen die neunte Stunde, im Dämmerlicht einer Caupona herumhing, hatte nichts Vernünftigeres zu tun. Für ihn galt dies selbstredend nicht, er hatte nachzudenken, seine Gedanken zu sortieren, nichts Geringeres als das.
    Um sich diesem Prozess ungestört widmen zu können, wählte er einen Ecktisch im vorderen Bereich. Hell war die Ecke auch nicht, aber das kam ihm nicht ungelegen. Mit einem verdrießlichen Seufzer ließ er sich nieder und wäre am liebsten gleich wieder aufgesprungen. Verzehrende Flammen schienen an seinem Hintern empor zu schlagen, kaum, dass dieser den Stuhl auch nur berührt hatte. Agricola biss leise stöhnend die Zähne aufeinander. Genau deswegen bevorzugte er es, draußen seine Getränke und Imbisse zu sich zu nehmen. Im Stehen.


    Behutsam und möglichst unauffällig versuchte er, eine angenehmere Sitzhaltung einzunehmen, rutschte vorsichtig auf dem knarrenden Stuhl herum und stieß gemurmelte Verwünschungen aus. Dieser von allen Göttern verfluchte Gaul! Nur drei Tage hatte er das Mistvieh geritten, von Cumae bis Tarracina, weit genug, um sich das Hinterteil und die Innenseiten der Oberschenkel wund zu scheuern. Dass die lindernde Salbe, die er in Tarracina erworben hatte, inzwischen aufgebraucht war, machte die Sache nicht gerade besser. 'Du musst es fühlen' hatte sein Begleiter ihm geraten, 'du musst seine Bewegungen aufnehmen'. Das fehlte noch. Der Gaul war nun Agricolas’ Eigentum, der hatte gefälligst die Bewegungen seines Besitzers aufzunehmen, nicht umgekehrt.


    Endlich schlurfte die Küchenhilfe herbei und bedachte ihn mit einem kleinen Krug Zitronenwasser, einem Becher und einem zahnlückenhaften Lächeln.
    "Bittesehr, Herr. Wenn du etwas essen möchtest, muss ich dich leider um Geduld bitten. Die Speisen für die Cena werden noch vorbereitet und der Vorfall draußen hat den Betrieb ein wenig durcheinander gebracht."
    Dabei wies sie auf die breite Durchreiche zur Gasse hinaus, wo sich zwei verschwitzte Köchinnen redlich mühten, den ramponierten Schanktisch wieder zum Stehen zu bringen. Vom Wirt war weit und breit nichts zu sehen. Je nach Kondition der Sau und ihrer Verfolger würde seine Rückkehr wohl noch eine Weile auf sich warten lassen.


    "Kein Essen."
    Agricola winkte ab, klatschte seine noch immer gut gefüllte Crumina auf den Tisch, wühlte darin und fingerte schließlich ein paar Asse für das Zitronenwasser heraus. Im gleichen Moment erstarb der Lärm am hinteren Tisch. Er hätte sich ohrfeigen können. Lernte er es denn nie? Wieder einmal hatte er den Beutel auf den Tisch gelegt, anstatt sich das Geld vorher abzuzählen oder zumindest nur eine Handvoll Münzen herauszufischen. Er war einfach nicht recht bei der Sache, und daran war letztlich nur dieser verdammte Gaul schuld. Der und die von Iuno gesandte Sau.


    Kaum war die Küchenhilfe davongeschlurft, kam auch schon eines der eben noch kichernden Weiber an seinen Tisch stolziert. Eine bemerkenswerte Erscheinung, durchaus. Langes glattes blauschwarze Haar, die Haut dunkel wie poliertes Nussbaumholz. Ihre rostrote Tunica war an der Hüfte eng geschnürt und verbarg nicht das geringste. Die Brüste klein und rund, die Knospen reif und spitz. Die Taille schmal, das Becken breit, ein Traum aus Verheißung schien sich da aus dem Schummerlicht zu lösen.


    "Einsam stirbt, wer alleine trinkt." hauchte sich rau. "Chaire Fremder. Ich bin Kira aus Thyrus."


    Agricola nahm eine tiefen Schluck aus dem Becher. Das Zitronenwasser war kühl und erfrischend. Am liebsten hätte er sich den ganzen Krug über den Hintern gegossen. Nach ausgedehntem Rülpsen schenkte er der dunklen Schönheit ein gelangweiltes Lächeln.


    "Verschwinde."

    Am vierten Tag nach seiner Rückkehr in die Urbs Aeterna erhielt Agricola endlich das Zeichen, um das er Iuno unter Aufwendung einiger Perlhühner so eindringlich gebeten hatte. Das Zeichen hatte die Gestalt einer stattlichem Sau, die mit großem Getöse direkt neben ihm in den Schanktisch krachte, just in dem Moment, als er sich aus dem eben erst kredenzten Weinkrug, dem dritten an diesem Tag, hatte nachschenken wollen.


    Er hatte das Vieh nicht kommen sehn. Das aufbrandende Geschrei aus der Menge der rückströmenden Marktbesucher war ihm zwar in’s Bewusstsein gedrungen, Bedeutung hatte er ihm allerdings nicht zugemessen. Um diese Tageszeit war Radau in der Gasse völlig normal. Irgendwas war immer. So war ihm auch nicht genügend Zeit geblieben, sich Krug und Becher zu schnappen, bevor die breite Anrichte unter der Wucht des Einschlags knirschend wegsackte und Krüge, Becher und Schüsseln mit Gegartem und Gebratenem mit sich in die Tiefe riss.


    Der grölende Pulk vor der Caupona wurde schnell dichter. Drinnen in der Gaststube schrie der Wirt nach einem langen Messer. Durch die eng gedrängten Schaulustigen versuchten sich zwei mit Ruten bewaffnete Männer zu quetschen, schnaufend, verschwitzt "Da ist sie! Haltet sie auf!" brüllend.


    Die Sau selbst schien sich unterdessen von der Kollision erholt zu haben, und wühlte mit noch unsicherem Gang aber augenscheinlicher Lust in den am Boden verstreuten Speisen. Agricola blickte sinnend auf sie hinab. Sollte er nun der Sau danken oder nur Iuno? Am besten beiden, beschloss er, jeder auf ihre Art.
    Beseelt von dieser Erkenntnis bedachte er die schmausende Sau mit einen kraftvollen Fußtritt. Die quietsche auf und hastete mit wütendem Grunzen davon. Gefolgt von den keuchenden Häschern mit den Ruten, diese wiederum verfolgt vom lauthals fluchenden Wirt. Nach nur wenigen Augenblicken verschwanden Jäger und Gejagte in der wogenden Menschenmenge.


    Agricola blickte noch eine Weile gedankenverloren die Gasse hinunter, dann trat er aus dem Trubel in den friedlivollen Innenraum der Caupona, um bei einer der Küchenhilfen eine weitere Bestellung aufzugeben. Zitronenwasser diesmal. Er war ja nicht blöd.

    Salvete, ihr Lieben. :wink:


    Mir flimmert ein wenig der Schädel vom Querlesen, also frag ich einfach mal.
    Hat es schon mal jemand geschafft, durchgezogen, ausgehalten, sich durch die dafür übliche militärische Laufbahn vom Peregrinus zum Civis hochzudienen?
    Braucht wohl einen sehr, sehr langen Atem ...

    Zitat

    Original von Aulus Iunius Avianus
    Also bei mir steht, dass du noch ein wenig Platz für ein Briefchen haben müsstest. ;)



    Das Briefchen von Maro hat wohl noch reingepasst. :) Meines aber nimmer. Nichtmal mit dem Hammer.

    Mit ostentativ zerknirschter Miene schüttelte Agricola den Kopf. „Leider nein, Axilla. Das habe ich bislang versäumt. Mea culpa. Entschuldige bitte, Pollio.“ Dass er es durchaus nicht versäumt, sondern bewusst hinausgezögert hatte, ließ er sich nicht anmerken, nickte stattdessen schuldbewusst zu Araros hinüber. „Wenn du das in die Wege leiten könntest, Araros .. und lass noch einen Becher für die Domina bringen.“ Der Obersklave entschwand. Agricola lehnte sich wieder zurück und hüllte sich in Schweigen.


    Natürlich hätte er Pollio im Lauf ihres Gespräches eines der Gästezimmer angeboten, wie es sich gehörte. Nur eben nicht sofort. Nicht, bevor er nicht sicher sein konnte, tatsächlich einen Iunius vor sich zu haben. Einen Gast hereinzubitten und ihn zu bewirten war eine Sache, ihn in der Domus einzuquartieren, eine ganz andere. Nicht, dass er Pollio etwa misstraute, es gab für Agricola keinen Grund, dem jungen Mann nicht zu glauben. Trotzdem empfand er es als seine Pflicht, Pollio’s Angaben zu prüfen. Das allerdings brauchte er jetzt nicht mehr, denn Axilla war glücklicherweise auf den gleichen Gedanken gekommen wie er selbst. Die Briefe, die Pollio mit sich führte, würden gewiss Klarheit bringen.

    Mater Matuta, nicht noch einer! war der erste Gedanke, der Agricola durch den Kopf schoss, als Araros durch ein neuerliches Klopfen alarmiert, zur Porta marschierte. Ein einzelner Besucher ging ja noch in Ordnung, zumal ein solch angenehmer wie Pollio, aber mehrere Besucher gleichzeitig zu empfangen, stellte Ansprüche an Agricola's Gastgeberqualitäten, denen er sich keinesfalls gewachsen fühlte. Er konnte nur hoffen, dass der weise alte Ianitor das ebenfalls so sah, und weitere unangemeldete Besucher abwimmelte.
    Mit gespitzten Ohren lauschend bedachte er Pollio mit einem unsicheren und etwas schiefen Lächeln, das sich erst wieder zurecht rückte, als die Stimme des vermeintlichen Besuchers deutlich zu erkennen war. Es war Axilla. Den Göttern sei gedankt. Und da kam sie auch schon in’s Atrium geschritten, selbstbewusst und würdevoll wie immer.


    Agricola erhob sich strahlend. „Salve Axilla! Wie schön, dich zu sehen.“ Und das war ehrlich gemeint, wie er sich leicht verwundert eingestehen musste. Axilla war eine vielbeschäftigte Frau, und obwohl Agricola ebenso wie sie zu den ständigen Bewohnern der Domus gehörte, bekam er sie nur sehr selten zu Gesicht, was er insgeheim bedauerte. Dass sie nun ausgerechnet in dieser Situation erschienen war, bot daher gleich in mehrfacher Hinsicht einen Anlass zur Freude.


    „In der Tat, wir haben Besuch.“, beeilte er sich zu erklären, „Und wie mir scheint, sogar iunischen Besuch. Wenn ich vorstellen darf.“ Mit einer Geste, die er selbst durchaus als elegant hätte durchgehen lassen, wies er auf den Gast.
    „Das ist Tiberius Iunius Pollio. Der Sohn von Lucius Iunius Corona. Pollio ist hier, um Näheres über den Verbleib seines Vaters zu erfahren.“ Hier setzte er eine kurze Kunstpause. „Pollio, diese anmutige Dame ist Iunia Axilla, Seele und Hausherrin der Domus Iunia.“


    Gleichsam entspannt, erfreut und neugierig, nahm Agricola die Arme hinter den Rücken und überlies für’s erste den Erwachsenen das Wort.

    Froh darüber, sich eine Weile zurücknehmen zu können, schlug Agricola die Beine übereinander, faltete die Hände im Schoß und lauschte andächtig, wobei sein Blick immer wieder an Pollio’s lederner Tasche haften blieb.


    Araros blickte zunächst in’s Leere, auf irgendeinen imaginären Punkt, an dem er wohl die Stränge seiner Erinnerungen zusammenlaufen sah. Als er genug gesehen hatte, räusperte er sich kurz und begann dann mit seiner angenehm sonoren Stimme zu erzählen.


    „Ganz genau kann ich es nicht mehr sagen, Herr .. aber um die zehn Jahre mögen schon vergangen sein, seit ich deinen Vater Iunius Corona das letzte Mal gesehen habe, vielleicht auch mehr. Er hat hier eine Weile gewohnt. Allerdings nicht lange. Soweit ich mich entsinne, ist er damals hergekommen, um sich bei den Cohortes Urbanae zu melden, und das hat er wohl auch getan.
    Danach ist er nie wieder in der Domus aufgetaucht, was aber nicht ungewöhnlich ist. Es kommt nicht selten vor, dass sich Gensmitglieder hier nur vorübergehend einquartieren, um die verwandtschaftlichen Beziehungen zu pflegen, Geschäfte in der Urbs abzuwickeln oder eben bei den Cohortes anzumustern. Manche besuchen die Domus nach Ende der Grundausbildung, manche nicht. Dein Vater ist jedenfalls bis heute nicht wiedergekommen und einen Briefverkehr hat es meines Wissens auch nicht gegeben. Nicht unwahrscheinlich, dass er noch in der Castra Praetoria zu finden ist.
    Zu deiner zweiten Frage. Nun, der Hausherr der Domus ist .. momentan .. besser gesagt, schon seit einiger Zeit .. de facto .. also, wenn man es genau nimmt ..“


    Araros stockte. Agricola musste grinsen. Das war tatsächlich nicht immer so zweifelsfrei zu sagen, da musste der alte Ianitor schon aufpassen, um sich nicht in die Nesseln zu setzen. „Der Hausherr ist quasi die Hausherrin.“, half er amüsiert aus.


    „Äh ja .. richtig. so ist es wohl. Domina Iunia Axilla.“ nahm Araros den Wink dankbar auf, nur um gleich wieder in’s Zweifeln zu geraten. „Wobei .. es ist ja eigentlich so, dass sie sich die Zuständigkeiten .. die meisten jedenfalls .. mit Tribunus Iunius Avianus teilt. Wie auch immer, deine Frage war, in welcher Beziehung deine Familie zu den Hausherren steht, also der Großvater von Domina Axilla und Tribunus Avianus war ein Bruder deines Urgroßvaters Iunius Gracchus und somit dein propatruus. Das heißt, du bist der pronepos ex fratre von .. nein, falsch .. der nepos ex filio .. moment .. nein, das müsste ...“


    Schweißperlen begannen an Araros’ grauen Schläfen zu funkeln. Agricola's Grinsen wurde zu einem leisen Kichern. Das geschah ihm recht, dem alten Klugscheißer.


    „Wenn ich das alles richtig verstanden habe, bist du ein Großneffe des Großvaters der Hausherren und somit .. eben ein Vetter. Mal ehrlich, Pollio – spielt das wirklich eine so große Rolle? Wenn du ein Iunier bist, egal welchen Grades, bist du hier willkommen. Weder Avianus noch Axilla werden jemals einen Iunier abweisen.“

    Die Familie? Agricola hatte Mühe, das Zitronenwasser, an dem er sich soeben verschluckt hatte, bei sich zu behalten. Etwas über die Familie sollte er erzählen? Ausgerechnet er? Na wunderbar. Mit ihm als Gesprächspartner hatte Pollio wirklich das große Los gezogen. Seit Monaten lauerte er nun schon auf einen passenden Augenblick, um seinem Onkel detailliertere Informationen über die Iunii zu entlocken. Bislang vergeblich. Avianus war selten zuhause und wenn er es war, hätschelte er Lucius. Der kleine Stinker wusste vermutlich mehr über die näheren Familienverhältnisse als sein vernachlässigter Patruelis.


    Natürlich konnte er etwas von der langen Geschichte der Iunier erzählen, vom glorreichen Iunius Brutus zum Beispiel oder vom geschmähten Brutus Caepio, von Consules, Praetores und Tribuni, bloß hatte das mit Pollio’s Familie ebenso viel – oder besser gesagt so wenig – zu tun wie mit seiner eigenen.


    „Oha. Da fragst du genau den Richtigen.“, bekannte er mit einem ironischen Lächeln, „Ich bin nicht hier aufgewachsen, musst du wissen. Es ist noch keine zwei Jahre her, da bin ich ebenso ahnungslos hier angekommen wie du jetzt. Wie die Familien innerhalb der Gens miteinander verwoben sind, und wie sich unsere Gens in die Geschichte der Iunii einfügt, konnte ich selbst noch nicht so ganz entwirren.“


    Das stimmte zwar, war aber nur die halbe Wahrheit. Er hätte schon gekonnt, wäre er nicht zu verbohrt gewesen, jemand anderen danach zu fragen als seinen Patruus. Da musste er jetzt wohl über seinen Schatten springen. Pollio sollte nicht auch noch zum Opfer von Agricola’s Sturheit werden. „Araros!“


    Mit einem feinen Lächeln trat der altgediente Obersklave, der sich bisher in einigen Schritten Abstand postiert hatte, aus dem Halbdunkel.
    „Junger Herr?“
    „Du stehst schon dein Lebtag lang in den Diensten der Iunier und dürftest Bescheid wissen. Sind Iunius Pollio und ich nahe Verwandte?“
    „Nein. Das kann man nicht gerade sagen.“


    Agricola wartete. Pollio gewiss auch. Araros aber schien der Ansicht zu sein, mit der knappen Auskunft seiner Pflicht bereits genüge getan zu haben.
    „So? Was kann man denn sagen? Jetzt komm schon, Araros .. ich hab doch keine Ahnung.“
    Auf dieses Eingeständnis hatte der Inaitor offenbar gewartet, wie sein breiter werdendes Lächeln erkennen ließ.


    „Nun, Iunius Pollio und du habt denselben Ur-Urgroßvater. Lucius Iunius Silanus Torquatus. Dessen Vater wiederum, Lucius Iunius Ursus, gilt als Stammvater eurer Gens. Von einer wirklich nahen Verwandtschaft kann man also nicht sprechen. Die Iunia ist eine alte Soldatengens. Soweit ich weiß haben fast alle eure Ahnen entweder in der Legio oder den CU gedient. Wo sie stationiert waren und welchen Einheiten sie jeweils angehört haben, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis. Da kann euch wirklich nur der Tribunus oder Domina Axilla weiterhelfen.
    Was ich weiß, ist, dass der Vater von Iunius Corona ein gewisser Lucius Iunius Zissou und der wieder der Sohn von Marcus Iunius Cracchus gewesen ist. Es müsste eigentlich Unterlagen geben, nur kann ich beim besten Willen nicht sagen, wo. Das Sichten und Ablegen von Familiendokumenten fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich – wie du weißt, junger Herr.“


    Agricola zog einen Flunsch. Das hatte gesessen. Da räumte er von morgens bis abends Notizen, Verzeichnisse, Nachschlagewerke, Prosa und Biografien hin und her, und bekam trotzdem keine rechte Ordnung in den Laden. Der Punkt ging an Araros. „Verstehe.“, näselte er kleinlaut, „Danke Araros.“


    Nach einem wohltuenden Schluck Zitronenwasser wandte er sich – schon deutlich sortierter – wieder an den älteren Iunius. „Nun, Pollio? Ich hoffe, das hilft dir zumindest für den Anfang weiter. Wenn du sonst noch Fragen hast, frag am besten gleich Araros.“

    Bei der Erwähnung der Cohortes schäumte eine altvertraute Wut in Agricola hoch. Natürlich. Die Urbaner. Irgendwie schienen die Iunier von den Stadtkohorten angezogen zu werden wie die Schmeißfliegen von der Latrine. Ein nachträgliches Argument mehr für seinen längst gefassten Entschluss, wenn die Zeit reif dafür war, der Legio beizutreten.


    Zunehmend zornig lauschte er den weiteren Ausführungen Pollio’s und fühlte sich jäh beschämt, als der davon sprach, dass Iunius Corona jahrelang nicht nur Briefe sondern auch einen Teil seines Soldes nachhause geschickt hatte. Das war weit mehr Zuwendung als Regulus, sein eigener Vater, für angebracht gehalten hatte. Das Leben war wohl doch nicht so simpel wie er es sich im Dämmerlicht der Bibliotheca zusammen zu spinnen pflegte – gute Väter hier – schlechte Väter dort. Sein Vater war ein verantwortungsloser Mistkerl gewesen, soviel stand für Agricola nach wie vor fest. Dasselbe aber Pollio’s Vater zu unterstellen, wenn auch nur andeutungsweise und unbeabsichtigt, war ein Fehler gewesen, den er nun bereute.


    „Bis der Kontakt irgendwann endgültig abgebrochen ist .. stimmt’s?“, vervollständigte er Pollio’s Satz mit belegter Stimme. „Das tut mir leid, Pollio. Ich kann mir vorstellen, wie das für dich gewesen sein muss. Besser als du vielleicht denkst.“


    Eines war klar: Er musste Pollio helfen, und er wollte ihm auch helfen. Bloß wie? Möglicherweise ließ sich in der Bibliotheca etwas über Corona finden. Aber das würde dauern. Zumal Agricola noch immer nicht damit fertig war, alle Schriftrollen einigermaßen übersichtlich zu sortieren. Dass es so etwas wie eine durchgehende Familienchronik gab, durfte ohnehin bezweifelt werden. Die Arbeit musste sich erstmal jemand machen. Knifflig, das Ganze.


    Plötzlich ging ihm auf, dass es im Grunde alles andere als knifflig war. Was war er doch für ein Rindvieh! Da hätte er auch gleich drauf kommen können.
    „Wart mal, Pollio ..“, strahlte er den sichtlich angefasst wirkenden Iunier an, „.. wenn er bei den Cohortes Urbanae dient, haben die auch Unterlagen über ihn. Denen rutscht keiner durch den Rost. Sogar wenn er inzwischen seinen Abschied genommen hat, wird er sicher noch in irgend einem Verzeichnis geführt. Mein Onkel Avianus ist Tribunus der Urbaniciani. Der kommt garantiert an die Unterlagen. Wer, wenn nicht er?“


    Restlos begeistert und gänzlich befreit von jeglichem Groll schnappte sich Agricola seinen Becher, kippte einen kleinen Schwall des Zitronenwassers auf den Boden und erhob ihn dann mit freudigem Grinsen. „Auf die Macht der göttlichen Eingebung. Auf Iuno und die Zukunft.“

    Während Pollio erzählte kehrte Araros leise in’s Atrium zurück. Gefolgt von Aesara, die fast lautlos einen Krug mit zwei Bechern auf das Tischlein stellte, einschenkte und wieder verschwand. Agricola nahm es nur am Rande wahr. Unter anderen Umständen hätte ihr Erscheinen umgehend einen veritablen Blutstau in seinen Lenden verursacht, diesmal aber nicht. Was Pollio da berichtete, riss auch in Agricola eine kaum verheilte Wunde auf. Wie zum Orcus kam es nur, dass die Iunier immer wieder ihren Nachwuchs im Stich zu ließen? Egoismus? Ignoranz? Wahrlich, er hielt große Stücke auf seinen Onkel Avianus, sollte der aber mit Lucius dereinst ähnlich verfahren, würde er mit seinem Neffen ein Problem bekommen. Ein gewaltiges Problem.


    „Verstehe.“, sagte er schließlich mit aufrichtigem Mitgefühl in der Stimme. „Schöner Mist. Du weißt also nicht einmal, ob dein Vater noch am Leben ist? Und deine Mutter? Ich meine .. hat er sie einfach sitzen gelassen oder die Ehe offiziell annulliert?“ Für einen zurückgelassenen Sohn machte das freilich keinen Unterschied, aber eine förmlich überreichte Scheidungsformel hätte vielleicht Rückschlüsse auf den Verbleib des Vaters erlaubt.

    Zitronenwasser also. Weise Entscheidung bei dem Wetter. Agricola nickte Araros kurz zu, worauf dieser auf leisen Sohlen entschwand. So. Das wäre das. Sich erneut nervös in die Hände klatschend suchte Agricola nach irgendeinem Faden, den er aufnehmen und an dem er sich notfalls festkrallen konnte. Die gemeinsamen Ahnen und ihre Geschichte würden sicher genügend Gesprächsfäden hergeben, sollte man meinen. Blöd nur, dass er sich da auch nicht übertrieben gut auskannte. Aber immer eines nach dem anderen. Zunächst mal galt es herauszufinden, wer genau dieser Iunius Pollio war, wo er herkam und vor allem, welchem Zweck sein Besuch diente. Und derlei besprach man üblicherweise nicht im Stehen. „Sehr schön. Nun stehen wir hier rum wie die Deppen.“ Agricola stieg ein gutmütiges Grinsen in’s Gesicht. „Komm Pollio, setzen wir uns.“


    Mit einer einladenden Geste wies er auf die kleine Sitzecke aus Korbsesseln und Marmortischlein in der südwestlichen Ecke des Atriums, stapfte voraus und ließ sich wohlig stöhnend in eines der extrem bequemen Sitzmöbel plumpsen.


    „Zuallererst möchte ich mich entschuldigen, Pollio. Mir ist schon bewusst, dass du lieber mit einem .. sagen wir mal .. etwas älteren Gensmitglied gesprochen hättest. Und was meine Erfahrung im Umgang mit Gästen betrifft ... hmja, was soll ich sagen .. du merkst es ja selbst. Vielleicht solltest erst einmal du ein wenig erzählen. Immerhin scheinst du weniger nervös zu sein als ich.“

    In einem vitalisierenden Gemütsgemisch aus Neugier und Verdrießlichkeit kam Agricola hinter Araros in’s Atrium marschiert. Tiberius Iunius Pullo, den Namen hatte er noch nie gehört, was allerdings nicht das Geringste zu bedeuten hatte. Es gab gewiss noch weit mehr Iunier, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Da stand er also, der iunische Besucher. Und ihm, Agricola, fiel es nun zu, Avianus und Axilla auf möglichst würdige Weise zu vertreten. Wenn das mal nicht in’s Subligaculum ging.


    Immerhin, der erste Eindruck, den der Fremde auf Agricola machte, war eigentlich recht positiv. Abgerissener als dieser Pullo war er selbst auch nicht hier angekommen. Athletisch war der Bursche, groß war er auch – der klassische Durchschnittsrömer.


    „Salve, Tiberius Iunius Pullo.“, lächelte Agricola durchaus freundlich, „Es ist mir eine Freude, dich ... “
    „Pollio.“ kam es räuspernd von Araros.
    „Was?“
    „Tiberius Iunius Pollio, junger Herr.“


    Agricola schluckte einen Fluch hinunter, Araros ein Grinsen.
    „Äh .. natürlich .. Iunius Pollio. Es ist mir eine Freude, dich kennenzulernen. Mein Name ist Agricola. Ich bin der Neffe von Tribunus Avianus. Tja ....“ Merklich verlegen klatschte Agricola in die Hände. „Dann also .. willkommen in der Domus Iunia. Das wenige, was ich persönlich für dich tun kann, bin ich gerne bereit, zu tun. Ähm ... darf ich dir etwas anbieten? Verdünnten Rotwein vielleicht? Oder kaltes Zitronenwasser?“

    [Blockierte Grafik: https://s12.directupload.net/images/201024/pih3vaoa.jpgAraros




    Es war nicht zu übersehen, dass die Erwartungen des jungen Mannes einen leichten Dämpfer erfahren hatten. Offenbar hielt er den Neffen des Tribunus lediglich für zweite Wahl, womit er natürlich recht hatte. Aber daran ließ sich momentan nun mal nichts ändern. Der Rest der Herrschaft würde ja nicht ewig ausbleiben. Araros nickte verbindlich.


    „Nun, dann darf ich dich bitten, mir in’s Atrium zu folgen, Tiberius Iunius Pollio.“


    Sprach’s und schritt voraus in’s angenehme Halbdunkel der Domus.

    [Blockierte Grafik: https://s12.directupload.net/images/201024/pih3vaoa.jpgAraros


    Im Atrium angelangt wurde Araros einen Moment lang unsicher. Sollte er dem Iunier zuerst etwas servieren lassen und dann erst Agricola holen oder umgekehrt? Wäre es nicht sogar passender, ihn im Tablinum warten zu lassen? Nein. Lieber nicht. Nicht aus einer eigenmächtigen Entscheidung heraus. Das sollte Agricola lieber selbst entscheiden. Der würde so oder so nicht begeistert sein, bei seinen Tagträumen gestört zu werden.


    Mit einem entschuldigenden Lächeln wandte sich Araros an den Besucher.


    „Wenn du mich für einen Augenblick entschuldigen würdest, Herr. Ich werde Iunius Agricola sofort Bescheid geben.“

    [Blockierte Grafik: https://s12.directupload.net/images/201024/pih3vaoa.jpgAraros



    Reserviert, aber keineswegs unhöflich, taxierte Araros den jungen Burschen, der vorgab, ein Iunius zu sein. Etwas derangiert sah er schon aus. Nicht unbedingt die Sorte von Gast, die man ohne vorherige Ankündigung in die Domus lassen würde, zumal zu einer Tageszeit, an der sich üblicherweise fast alle Iunii außer Hauses befanden. Nicht mal einer der Männer des Tribunus käme ohne weiteres hier rein. Bei einem Iunius allerdings, war das etwas völlig anderes.


    Araros konnte sich gut an Iunius Corona erinnern. Auch er hatte hier einst angeklopft und danach einige Zeit in der Domus gelebt, und wenn dieser verstaubte Jüngling Coronas’ Sohn war, hatte er alles Recht der Welt, einzutreten.


    Nach einem flüchtigen Blick auf die Zeichnung – den Araros lediglich aus reiner Höflichkeit getätigt hatte, denn er wusste ja, wo er sich befand – nickte er dem jungen Mann freundlich zu.



    „In der Tat, Herr. Wie ich schon sagte .. dies ist die Domus der Gens Iunia. Mein Name ist Araros. Leider ist momentan weder Tribunus Iunius Avianus zugegen, noch Domina Iunia Axilla. Wenn du für’s Erste mit Iunius Agricola, dem Neffen des Tribunus, vorlieb nehmen möchtest?“

    [Blockierte Grafik: https://s12.directupload.net/images/201024/pih3vaoa.jpgAraros


    Araros war sich seiner Sache nicht ganz sicher. Es hatte doch geklopft, oder? In jüngster Zeit kam es immer öfter vor, dass sein Gehör ihn narrte. Besonders wenn er – wie eben geschehen – darauf konzentriert war, eine der schusseligen Haussklavinnen zurecht zu weisen.


    Stirnrunzelnd marschierte er zur Porta und lauschte. Nichts. Nur, um sich hernach nichts vorwerfen zu müssen, zog er dennoch den Riegel zurück und lugte hinaus. Doch, es hatte geklopft. Da stand einer, also hatte es geklopft.


    "Salve Herr. Dies ist die Domus der ehrenwerten Iunii. Was kann ich für dich tun?"