Beiträge von Caius Iunius Agricola

    „HA!“ Agricola sprang voll des Triumphes von seinem Stuhl hoch. „Na bitte! NA BITTE!“ Es war zwar außer ihm keine Menschenseele in der Bibliothek, aber das musste mal gesagt werden, und wenn auch nur vor schweigenden Spinden, Pulten und Schriftrollen. Weit befriedigender wäre es es freilich gewesen, seine Entdeckung jemandem mitzuteilen. Einem Zeugen sozusagen, einem Bürgen für das, was er in den vor ihm liegenden Texten gefunden hatte. Ein niederträchtiger kleiner Geschichtsverdreher war sein Hauslehrer in Cales gewesen, der Beweis war erbracht!


    Ein dumpfes Knarren ließ ihn aufhorchen. Die Porta. Wenn das sein Onkel war, kam der heute ungewöhnlich früh nachhause. Umso besser. Avianus würde gewiss begeistert sein über das, was Agricola bei seinen Studien zutage gefördert hatte. Es war aber nicht Avianus. Die leisen gemessenen Schritte, die sich nun durch’s Atrium näherten, waren ihm wohl vertraut, die konnte er mittlerweile von den Schritten aller anderen Hausbewohner unterscheiden. „AESARA!“ quäkte er hochgestimmt. Das kam ihm gerade recht. Die göttlich modellierte Coqua geisterte ihm sowieso ständig in Kopf und Gliedern herum, da konnte sie ihn auch ebensogut mit ihrer körperlichen Anwesenheit beglücken Schließlich gab es ja Atemberaubendes zu berichten. Einige Schritte später öffnete sich fast lautlos die Tür, und ein betörender Duft von frischen Eingeweiden und Gewürzkräutern schwängerte den Raum. „Junger Herr?“


    In mehrfacher Hinsicht freudig erregt griff Agricola nach einer der Schriftrollen und hielt sie der ansprechenden Germanin unter die Nase. „Hier! Schau dir das an! Titus Livius! Von wegen unbedeutende kleine Bauerngens!“ Aesara setzte irritiert ihre Körbe ab, nahm die Rolle vorsichtig entgegen, warf aber nur einen kurzen Blick darauf. „Verzeih bitte, Herr .. aber ich dachte, du weißt, dass ..“
    Agricola glotzte einen Moment, kapierte dann endlich und klatschte sich stöhnend die Hand auf die Stirn. „Natürlich. Entschuldige. Gut, gib her, ich les’ es dir vor. Moment ..“ Seine Finger wanderten hektisch über die Zeilen. Die Rolle wurde länger und länger. „Ich hab’s gleich.“ Faszinierend. Aesara war das einzige menschliche Wesen das ihn gleichzeitig beruhigen und nervös machen konnte. Schwierig, sich unter diesen Umständen zu konzentrieren, verdammt schwierig „Ah, da haben wir’s ja .. nun also, Aesara .. lausche und staune!“ Räuspern.


    „Titus und Aruns machten die Reise. Als Begleiter wurde ihnen Lucius Iunius Brutus mitgegeben, ein Schwestersohn des Königs, von der Tarquinia, ein junger Mann von einem ganz andern Geiste, als dessen Rolle zu spielen er sich auferlegt hatte. Weil er gehört hatte, die Häupter des Staates, und unter ihnen auch sein Bruder, seien von seinem Oheime ums Leben gebracht, so nahm er sich vor, in seinem Geiste nichts, was dem Könige furchtbar, in seinem Vermögen nichts zu behalten, was ihm wünschenswert sein konnte, und sich da durch Verachtung zu sichern, wo der Schutz der Gerechtigkeit zu schwach war. Vorsätzlich also spielte er den Blödsinnigen; gab sich und das Seine dem Könige zum Raube hin, und ließ sich auch den Beinamen Brutus gefallen, wenn nur jener Geist – demnächst des Römischen Volks Befreier – unter dem Deckmantel dieses Beinamens versteckt, seine Zeit abwarten könnte.“


    Ein verstohlener Blick auf die Coqua ließ erkennen, dass die nicht gerade überwältigt war. „Öhm, also .. es kommt noch viel besser ..“, versuchte er Aesara zu begeistern, erntete aber nur ein höfliches Nicken, das mit wahrem Interesse nicht viel zu tun hatte. „Nun gut ..“, begann er einigermaßen enttäuscht zusammenzufassen, „.. jedenfalls halten ihn alle für bescheuert oder so. Aber in Wirklichkeit hat er als Einziger den Durchblick. Der rächt sich nicht einfach bloß für die miesen Sauereien, die der König seiner Familie angetan hat, sondern bringt es sogar fertig, den Mistkerl vom Thron zu jagen. Und dann ..“ Seine Kehle wurde eng vor Ehrfurcht. „.. dann wird er der allererste Consul Roms. Ist dir klar, was das bedeutet?“
    „Äh .. ja, Herr.“, antwortete Aesara mit einem Gesichtsausdruck, der unschwer erkennen ließ, dass ihr kaum etwas unklarer hätte sein können. Gut, was das eben Vorgetragene für Agricola ganz persönlich bedeutete, konnte sie schwerlich wissen, aber ein klein wenig mehr Enthusiasmus hätte er sich schon gewünscht, ging es hier doch um die Familie, deren Haushalt sie angehörte. Frauen waren schwer zu durchschauen, das hatte er schon gemerkt, und Sklavinnen erst recht.
    „Hast du noch einen Wunsch, junger Herr?“ Ernüchtert ließ Agricola die Schriftrolle sinken. Ob er noch einen Wunsch hatte? Götter! Jedes Mal, wenn sie ihn das fragte, hatte er schwer zu tun, seine Körpermitte unter Kontrolle zu behalten. Noch einen Wunsch .. das fragte sie doch nicht einfach so, oder?
    „Prinzipiell schon.“, seufzte er kehlig, „.. aber das würde nur den Trieb .. äh . Betrieb aufhalten. Du hast sicher viel um die Lenden vor den Kalohren.“
    „Herr?“
    „Ohren mein ich .. viel um die Ohren .. vor den Kalenden. Ähem .. danke, das wär’ soweit alles.“
    Mit einem ergebenen Nicken nahm die Küchensklavin ihre Einkäufe auf und wandte sich zur Tür. Agricola schalt sich einen Idioten. Da hatte er sie einmal ein paar Momente für sich alleine, und dann sowas.


    „Ist Iunius Avianus noch nicht zurück?“, warf er ihr wider besseres Wissen hinterher.
    „Nein, Herr.“ Das war klar. Selbstverständlich nicht.
    „Hat Dominus Avianus denn schon Vorkehrungen für das Hausopfer treffen lassen?“
    „Davon ist mir nichts bekannt, Herr. Da kann dir sicher Araros weiterhelfen. Soll ich ihn rufen?“
    „Wie? Nein. Nicht nötig.“
    Bloß nicht, was sollte er jetzt mit dem? Aesara stand abwartend an der Tür. Agricola fiel nichts mehr ein. Nichts jedenfalls, was zwischen ihm und einer Serva als geziemend erachtet werden konnte. Letztlich waren sie wie Fisch und Vogel, musste er sich eingestehen. Sie mochten am selben Fluss leben, sich mitunter sogar sehr nahe kommen, waren aber beide an ihr Element gebunden. Bedauerlich. Aber das war eben ihre Natur. So war die Welt nun einmal geordnet


    „Gut, Danke.“, sagte er knapp und ging ohne sich noch einmal umzudrehen zurück an den Lesepult. Hinter ihm schloss sich die Tür. Vor ihm harrten noch unzählige Zeilen darauf, entdeckt zu werden. Sein Überschwang jedoch hatte deutlich nachgelassen. Irgendwie war dem Tag etwas von seinem Glanz abhanden gekommen.

    Tatsächlich. Was Agricola zunächst für eine Seitengasse gehalten hatte, erwies sich bei genauerer Betrachtung als schmaler Tordurchgang. Zur Straße hin war der Gang mit einem provisorischen Gatter begrenzt, und dahinter tappten fast zwei Dutzend Ziegen träge hin und her. „He, ihr zwei!“, rief er den Zwillingen strahlend zu, „Möchtet ihr euch vielleicht Ziegen angucken?“ Keine Antwort. Kein Wunder. Was kam er den beiden auch mit Ziegen? Crassus hegte nach eigenem Bekunden eine heiße Leidenschaft für Pferde, und für welches Getier Mara sich erwärmen ließ, konnte Agricola nur mutmaßen. Hundewelpen vermutlich. Alle Welt war verrückt nach Hundewelpen. Ziegen dagegen waren was für Kenner, und als solcher fühlte er sich geradezu verpflichtet, einen Blick auf die Tiere zu werfen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Aesaras’ weizenblondes Zopfgeflecht noch in Sicht war, nahm er sich Crassus zur Seite. „Hör mal, ich schau nur kurz nach den Ziegen, bin ich gleich wieder da. In Ordnung?


    Ehe ihn noch eine Antwort erreichen konnte, stand er schon neugierig am Gatter. Der Anblick, der sich ihm nun bot, machte ihn allerdings traurig und wütend zugleich. Die jungen Ziegen waren in einem erbärmlichen Zustand. Allesamt. Räudig, knochig, elend. Ganz im Gegensatz zu dem feisten schweinsäugigen Händler, der sich mit seinen teigigen Wurstfingern ununterbrochen über den eingeölten Bart strich und diese bemitleidenswerten Viecher vollmundig als gesegnete Tempelziegen anpries. Tempelziegen. Blödsinn. Agricola trat noch etwas näher an’s Gatter, beugte sich zu einer der Ziegen hinunter und lauschte. Wie er erwartet hatte. Zähneknirschen. Sie hatte Schmerzen. Ein Blick auf die Beine des Tieres erklärte auch sofort warum. Der Händler würdigte seine Ware keines Blickes, scharwenzelte stattdessen mit schmierigem Lächeln auf Agricola zu. „Nun, mein junger Freund? Hat eines meiner Schätzchen dein Interesse geweckt?“


    Junger Freund. Schätzchen. Widerwärtig. Agricola musste erst einmal schlucken. „Deine Tiere wurden nachlässig gehalten.“, erklärte er dann mit vorwurfsvoller Miene. Der Händler glotzte seinen jugendlichen Kunden an, als habe ihm dieser gerade erklärt, dass Wasser bergab fließt. „Ach? Und weiter?“ In Agricola begann es zu brodeln. Dieser wabbelnde Sack war sich offenbar keiner Schuld bewusst. „Und weiter?“, ereiferte er sich lautstark, „Die Ziegen sind krank! Alle! Die hier hat stark verdickte Vorderlaufgelenke, jene dort drüben auch. Bei fünf oder sechs hab’ ich Leistengeschwüre gesehen, bei weiteren vier Tieren geschwollene Lymphknoten, mindestens ein Dutzend leidet an schmerzhafter Rückenverhärtung, von Räude und offenen Stellen am Körper red’ ich erst gar nicht. Bist du blind, Mann?“


    Die Umstehenden reagierten teils mit amüsiertem Gelächter, teils mit tadelndem Raunen, wobei nicht ganz klar war, ob ihre Ablehnung dem vorlauten jungen Bengel galt oder dem verantwortungslosen Ziegenhändler. Dessen Gesicht hingegen ließ keinen Raum für Spekulationen. Die Schweinsäuglein wurden zu fleischigen Schlitzen. Die wulstigen Finger tasteten über das Gatter nach einer dort angelehnten Treiberrute. Agricola stemmte trotzig die Fäuste in die Seite. Sollte der Ziegenschinder es ruhig versuchen. Mit dem schlaffen Fettsack nahm er es allemal auf. Das lauter werdende Murren der Kundschaft hielt den Händler jedoch davon ab, den lästigen Störenfried tätlich anzugehen. „Die zarte Stadtjugend. Was will man machen?“, warf er mit ausladenden Armbewegungen in die Runde, ging dann einen gemessen Schritt auf Agricola zu und zischte halblaut: „Hör mal, du kleiner Klugscheißer, wenn Pothinus dich schickt, um meine Ware madig zu machen ...“
    „Die ist schon madig!“, beharrte Agricola energisch auf seinem Standpunkt, „Schau dir doch mal die Graugescheckte da drüben an. Die hat man trotz eitriger Hufwunde tagelang im Schlamm stehen lassen. Den fauligen Gestank riecht man bis hierher!“ Der Händler blickte kurz hin, zuckte die Achseln und starrte wieder Agricola an. Im Kopf des Fettwansts schien sich derweil irgendeine Erkenntnis Bahn gebrochen zu haben, die seine Mundwinkel zu einer Art säuerlichem Grinsen verzog. „Ach, so läuft der Hase. Na schön. Geh ich eben noch zwei runter. Also, mein letztes Wort: Dreizehn Dinarii. “


    Agricola lachte auf. Der Kerl hatte es immer noch nicht kapiert. „Nicht ein lumpiges As! Die macht’s nicht mehr lange. Fiebert ja schon.“ Der Händler sah wieder hin, zuckte wieder die Achseln und begann so langsam etwas ratlos zu wirken. „Natürlich macht sie’s nicht mehr lange. Keine von denen. Opfertiere krepieren nunmal nicht an Altersschwäche! Was willst du eigentlich von mir?“ Ein Hieb mit der Treiberrute hätte Agricola nicht schmerzhafter erwischen können als das eben Gesagte. „Das sind Opfertiere?“, fragte er fast tonlos. Das ließ den fetten Ölbart offensichtlich vollends am Geisteszustand seines Gegenübers zweifeln. „Ganz genau. So ist es. Opfertiere.“ erklärte er Agricola so gedehnt als wolle er einem Idioten beibringen, seinen Namen zu buchstabieren. „Oder was willst du sonst mit denen anfangen? Diskutieren? Reiten? Dressieren? Wo genau stimmt’s denn bei dir nicht, Kleiner?“

    Agricola lauschte dem Geplapper der augenscheinlich höchst beeindruckten Geschwister mit einem feinen Lächeln. Base und Vetter sperrten Augen und Münder auf und begannen in der Menge mal in diese, mal in jene Richtung Haken zu schlagen, ohne jedoch seinem wachsamen Auge zu entrinnen. Geht schon los, dachte er sich amüsiert, das konnte ja noch was werden. Verstehen konnte er die beiden sehr wohl. Ihm selbst ging es bei Betrachtung der Warenvielfalt nicht anders, nur dass er Mund und Augen – bislang zumindest – noch einigermaßen unter Kontrolle hatte. Hier gab’s ja auch so ziemlich alles, was man sich vorstellen konnte, und das gleich an jeweils mehreren Ständen. Für ein Kind der Provinz stellte das Angebot fast schon eine sinnliche Überforderung dar. Das galt für die staunenden Zwillinge ebenso wie für ihn selbst.


    Um so mehr musste er sich zusammenreißen und seine eigenen Interessen in den Hintergrund drängen, was zunächst auch gar kein Problem darstellte. An Naschwerk lag ihm nichts, ebensowenig an Schmuckbändern und Geschmeide. Das, woran ihm etwas lag, marschierte mit wogendem Hintern fünf Schritte voraus und blickte sich regelmäßig zu den Iuniern um. „Keine Sorge, du kriegst deine Datteln schon noch.“, versuchte er tröstend auf Crassus einzuwirken, „Lass erstmal Aesara die nötigsten Einkäufe erledigen.“ Und zu Mara gewandt: „Ich wette, sie hat die Erlaubnis von Onkel Avianus, die eine oder andere schmückende Kleinigkeit auf die Rechnung setzen zu lassen. Nur Geduld.“ Ob er damit wirklich durchdrang, stand freilich auf einem anderen Blatt. So oder so würde er die kleinen Anverwandten mit gesammelter Aufmerksamkeit und höchster Umsicht sicher durch den Passantenstrom lotsen, unbeeindruckt von Mensch und Ware. Hörte er da Ziegen?


    Agricola hielt inne und lauschte. Eindeutig, da meckerten Ziegen aus einer Seitengasse. Das war nun allerdings hochinteressant. „Immer schön Aesara nach.“, mahnte er die Zwillinge zerstreut, reckte neugierig den Hals und ging ein paar Schritte auf das Gemecker zu.

    „Guter Plan.“, nickte Agricola anerkennend. Auf den Kopf gefallen waren seine jungen Verwandten nicht, so viel stand schon mal fest. Zwar hatte er so seine leisen Zweifel daran, ob ihnen Marsas’ Vorschlag im Ernstfall wirklich weiterhelfen würde, denn eines hatte er trotz demonstrativem Desinteresse schon auf seinem ersten Gang durch die Urbs festgestellt: Auffällige Gebäude waren in Roma die Regel, nicht die Ausnahme. Dennoch war die Strategie der beiden immer noch besser als alles, was ihm selbst bislang dazu eingefallen war.


    „Genau so machen wir’s. Ist ja auch bloß für den Fall, dass wir Aesara verlieren .. oder sie uns. Wir können sie ja schlecht an die Leine legen.“ Obwohl, die Vorstellung hatte schon was. „Wie wär’s damit: Der erste, der eine wirklich wirklich einprägsame Wegmarke erspäht, bekommt ein Mandelküchlein oder ein paar Pfeffernüsse .. irgend sowas eben.“ Dafür würde seine Barschaft auch noch reichen. „Nun denn, ihr zwei. Dann gehen wir mal langsam runter. Muss noch jemand auf die Latrine?“

    Erstaunlich, was einem so alles entgehen konnte, wenn man in gedrückter Stimmung und mit trotzig gesenktem Blick durch die Welt wandelte. Obwohl Aersara den selben Weg eingeschlagen hatte, auf dem Agricola erst vor wenigen Tagen in entgegen gesetzter Richtung den Quirinal hinaufgestapft war, erkannte er kaum etwas wieder. Gepflegte Wohnhäuser, elegante Stadtvillen, kleine und größere Schreine, schmucke Privatthermen, verzierte Giebel, protzige Portiken, gestutzte Gärten, all das war ihm an seinem ersten Tag in Roma völlig entgangen. Entsprechend überrascht bestaunte er nun die Umgebung, ohne freilich Sklavin und Zwillinge aus den Augenwinkeln zu verlieren. Auf den Gedanken, Aersara nach Name, Stifter und Funktion dieser ganzen Gebäude zu fragen, kam er erst gar nicht. Die Küchensklavin wirkte unter Last ihrer ungewohnten Verantwortung bereits angespannt genug. Zu beneiden war sie wirklich nicht. Einerseits fiel ihr als einzig Ortskundiger die Aufgabe zu, die kleine Gruppe zusammen zu halten, andererseits konnte sie die jungen Iunii schwerlich zurechtweisen, wenn die sich auf Abwege begaben. Immerhin, auf der ersten halben Meile stand nicht zu befürchten, dass sich die Vier abhanden kamen. Der Weg nach Südwesten, den man, wie Agricola inzwischen wusste, die Alta Semita nannte, verlief schnurgerade hügelabwärts, und war bis auf die obligatorischen Lecticae und Sellae eher schwach frequentiert.
    Das änderte sich allerdings schlagartig, als sie den Fuß des Collis erreicht hatten. Von allen Seiten strömte hier das Volk aus den Gässchen, Sklaven zumeist, die wie Aersara auf dem täglichen Weg zum Markt waren, aber auch Gaukler, Bettler und allerlei zwielichtige Gestalten, denen die wogende Menge offenbar satte Weidegründe versprach. Agricola, dessen Aufmerksamkeit bislang zwischen den imposanten Bauwerken und der nicht minder imposanten Kehrseite Aersara’s gependelt hatte, zwang sich zur Sammlung. Die ersten Stände kamen in Sicht. Stimmgewaltige Händler wetteiferten um die Gunst der Kundschaft. Eine undefinierbare Woge von Düften hing über den Köpfen der Marktbesucher. Wohin das Auge reichte, Verlockungen.
    Aersara bahnte sich unbeirrt ihren Weg durch’s Gewimmel. Agricola folgte ihr in einigem Abstand, wobei er tunlichst drauf achtete, die Zwillinge zwischen sich und dem anmutigen Rücken der Sklavin zu halten. Gutmütig patsche er seinem Vetter die Hand auf die Schulter. „Na, Crassus? Da weiß man gar nicht, wo man zuerst hingucken soll, stimmt’s?“

    Es dauerte nicht all zulange, bis die Zwillinge aus ihrem Gemach gewuselt kamen. Ordentlich gekleidet, offenbar bestens gelaunt und vor allem ohne die alte Schabracke im Schlepptau. Sehr gut. Dann konnte es im Grunde schon los gehn’. Ob es wohl angebracht war, vorher noch ein paar mahnende Worte an die beiden zu richten? Sie dazu anzuhalten, sich zu benehmen vielleicht oder eine kleine Schauermär über das unfassbar schreckliche Schicksal von unfolgsamen Kindern, die im Gewimmel der Urbs verloren gingen, weil sie sich zu weit von ihrer Aufsichtsperson entfernt hatten? Nein. Derlei lag ihm nicht. Diesen nervtötenden Mist hatte er sich selbst noch bis vor kurzem ständig anhören müssen. Zehnjährige waren schließlich keine Wickelkinder mehr, und hatten selbst einen Kopf, um zu denken. Zumindest was Crassus betraf, setzte Agricola das einfach mal voraus. Bei Marsa dagegen war er da nicht ganz so sicher. Die blickte ihn an wie ein Lämmchen, und schien auch sonst etwas verträumt zu sein.


    „Salvete.", grüßte er Base und Vetter nickend. "Dann wollen wir Aesara mal nicht länger warten lassen. Nur eins noch vorneweg. Ich kenn mich in der Urbs genauso wenig aus wie ihr. Also bitte. Tut mir die Liebe, und verliert Aesara nicht aus den Augen, ja?“ Grinsend fügte er noch hinzu: „Und ich werd mich derweil bemühen, euch nicht aus den Augen zu verlieren. Das kriegen wir doch hin, oder?“

    Wohlgemut und erwartungsfroh marschierte Agricola an diesem sonnigen Morgen auf das Cubiculum der iunischen Zwillinge zu. Heute ging es auf den Markt. Endlich. Die geplante Exkursion mit Aesara hatte sich um zwei Tage verschoben, und die waren auch nötig gewesen, um bei allen Bewohnern der Domus Iunia nacheinander vorstellig zu werden. Gemeinsam eingenommene Ientaculi und Cenae schienen hier bislang nicht zu den Alltagsbräuchen zu gehören, zudem waren alle Iunii immer irgendwie schwer beschäftig, einige davon, so etwa Avianus und Vitulus verbrachten gar den Großteil des Tages außer Haus. Entsprechend langwierig hatte sich seine Einführung dann auch gestaltet. Nun aber lag diese zunächst etwas angsteinflößende Hürde hinter ihm, was ihn weit mehr erleichterte, als er sich anmerken ließ. Nicht einmal die Aussicht darauf, die Gesellschaft der aparten Küchensklavin mit dem quirligen Crassus und seiner Schwester Marsa teilen zu müssen, vermochte seine aufgeräumte Laune zu trüben. Sich der beiden anzunehmen gehörte schließlich zu seinen neuen Aufgaben, wenngleich er sich noch nicht sicher war, ob sein Talent als Ziegendompteur auch bei zehnjährigen Kindern verfangen würde. Egal. Hauptsache eine sinnvolle Aufgabe.
    „He, ihr beiden!“, rief er anklopfend durch die Tür, „Ich bin’s, Agricola! Seid ihr fertig?“ Jetzt konnte er nur hoffen, dass sich Nysa, diese vertrocknete alte Eidechse von Amme, nicht auch noch anschließen wollte.

    Agricola war am Ende doch ganz froh, den schwellenden Trotz bezwungen und seinem Onkel weiter aufmerksam gelauscht zu haben. Avianus’ Blick auf die Dinge unterschied sich etwas von seinem eigenen, war pragmatischer, rationaler und dadurch wohl auch klarer. Der Blick eines Tribunus Militares eben, ein soldatischer Blick. Schon in Cales hatte er gelernt, sich eher auf die nüchterne Einschätzung seines Ausbilders Carus zu verlassen als auf die wolkigen Orakelsprüche des Grammaticus Agron. Schätzte ein Soldat die Situation falsch ein, war er im Zweifelsfall tot. Ein zungenfertiger Schwätzer dagegen vermochte sich immer auf die eine oder andere Weise aus den eigenen Fehlern herauszureden. Selbst wenn Avianus ihn als Mensch enttäuscht hätte, was er nicht einmal tat, war seinen Worten eine gewisse Logik nicht abzusprechen. Unsicherheit, ob angebracht oder nicht, führte zu nichts, außer vielleicht zu noch mehr Unsicherheit. Zudem hasste Agricola die Vorstellung, sein Onkel könnte ihn für einen Hasenfuß halten. Nein, er fürchtete sich nicht vor den Iunii, wusste sie lediglich noch nicht einzuschätzen. Aber letztlich verhielt es sich genau so, wie Avianus sagte: Es war seine eigene Verwandtschaft. Sein Blut. Seine Zukunft. Außerdem – sagte er sich mit einem flüchtigen Blick auf den Codex, mit dem seine eigenwilligen Finger begonnen hatten, herumzuspielen – brauchte er schließlich ein paar Eindrücke, die er den iturischen Vettern berichten konnte.


    „Ist ja nicht so, dass ich Angst vor der Familie hätte, Onkel.“, stellte er richtig, „Ich hab’ mich bloß an einen Ratschlag des alten Optios gehalten, der mich unterwiesen hat. Carus hat mal gesagt, in unübersichtlichen Situationen sei es am besten, den Feind aus sicherer Deckung heraus zu beobachten, bevor man sich mit ihm einlässt.“ Götter, klang das martialisch! Wieder huschte ein Lächeln über Agricolas Gesicht. „Naja .. ich fürchte, da hab ich Freund und Feind etwas durcheinander gebracht.“ Nun gut, ob da unten wirklich Freunde auf ihn warteten, mochte sich noch erweisen, zumindest aber keine Feinde, schlimmstenfalls bloße Verbündete. Das war ja auch schon was. Ohnehin würde er wohl kaum auf alle Hausbewohner gleichzeitig treffen. Nach dem zu urteilen, was Avianus sagte, waren gemeinsame Mahlzeiten in dieser Domus nicht gerade die Regel. Agricola war das gar nicht so unrecht. Wenn er an die steifen späten Cenae in Cales dachte, verging ihm fast der Appetit. Aber auch nur fast. „Bene est homini, si palato bene est.“, feixte er seinen Patruus an, „Wenn du auch noch nichts gegessen hast, können wir ja mal gucken, was es gibt .. oder, Onkel Avianus? Vielleicht stoßen wir ja auf Iunii.“ Wohlgemut grinsend hampelte er von seinem Stuhl hoch. Wenn er sich einmal zu etwas durchgerungen hatte, war er meist nur schwer wieder zu bremsen. „Falls dafür noch Zeit bleibt, könntest du mir danach ja zeigen, wo ich unser Lararium finde. Das hab ich bei meiner Schleicherei nämlich noch nicht rausgefunden.“ Quietschendes Kichern. „Ein paar Augenblicke der Andacht täten mir gut. Und morgen werd’ ich dann also Aersara auf den Markt begleiten, um Girlanden zu besorgen. Wird sicher aufregend. Auch die Kaninchen und das alles. Ich hoffe, du kannst unseren Besuch beim Grabmahl bald einrichten, ich meine .. wenn du .. “ Mitten im Satz hielt Agricola inne. Plapperte er etwa? Ja, er plapperte. Verdammt. Mit einem solch jähen Ausbruch an Enthusiasmus hatte Avianus womöglich gar nicht gerechnet. „Öhm .. es sei denn natürlich, du hättest vorher noch Weiters mit mir zu bereden.“, schickte er seinem Geplapper rasch hinterher. Bei Iuno und Iuventas! Er war doch kein Kind mehr. Warum benahm er sich dann wie eins?

    Agricola spürte sich bockig werden, hatte aber genug Respekt vor seinem Onkel, um sich ohne Wiederrede von ihm anschnauzen zu lassen, zumal ihm dabei aufging, dass er wohl an einer von Avianus’ empfindlichen Stellen entlang geschrammt war. Offenbar hatte er Agricolas’ Ausspruch, er wolle sich gerne überzeugen lassen, in den falschen Hals bekommen. Für Avianus’ Ohren musste sich das so angehört haben, als erwarte der unbedarfte Neffe irgendwelche Rechtfertigungen oder gar Beweise. Dem war nicht so. Die Iunii brauchten ihm nichts zu beweisen, das hatten sie nach Avianus’ Worten auch gar nicht nötig. Die Familie erwartete wohl eher, dass ihr verschollenes Anhängsel sich als ihrer würdig erwies. Ein bisschen viel verlangt, fand er, wenn man bedachte, dass ihm der Umstand, ein Iunius zu sein, bislang eher geschadet hatte als genutzt. Und nun sollte er sich beweisen? Warum eigentlich? Er hatte sich immer Mühe gegeben, ob nun bei den Lehrstunden des Grammaticus, den Übungen mit Carus oder anderen Aufgaben, die in Cales freilich dünn gesät gewesen waren. Noch nie hatte er anderen etwas weggenommen, sich vor einer Herausforderung gedrückt oder sich sonst irgendwie unehrenhaft verhalten, zumindest soweit er sich erinnern konnte, und das ließ sich nun wirklich nicht von jedem Iunier sagen, wie er hatte feststellen müssen. Immerhin, von zwei Iuniern, mit denen er jemals zu tun gehabt hatte, war einer ganz offensichtlich ein ehrenhafter aufrechter Mann, der andere aber ein verantwortungsloser Drückeberger. Nicht gerade ein besonders Vertrauen erweckender Schnitt. So betrachtet hatte er es ebensowenig nötig, irgendetwas zu beweisen.
    Sicher, Avianus hatte völlig recht damit, seinem Neffen vorzuhalten, dass der es bislang versäumt hatte, den Rest der Familie zu begrüßen. Das hätte allein schon der Anstand geboten und musste schleunigst nachgeholt werden. Ihm das allerdings als Ignoranz oder schlimmer noch Arroganz auszulegen, ging Agricola heftigst gegen den Strich. In Cales hatte er jahrein jahraus die selben Gestalten um sich gehabt, nicht alle geschätzt, aber wenigstens vertraut. Mit denen konnte er umgehen, die kannte er. Hier kannte er niemanden. Auf den Gedanken, dass es eine atemberaubende Überwindung darstellten konnte, sich einem ganzen Haushalt wildfremder Menschen als naher Blutsverwandter vorzustellen, schien Avianus gar nicht zu kommen. Agricola wollte diesen Einwand unbedingt loswerden, öffnete den Mund, schloss ihn aber auch gleich wieder. Zum einen, weil ihm sehr wohl bewusst war, dass er schon wieder ungerecht wurde, zum anderen weil Avianus das leidige Thema offenkundig als abgeschlossen betrachtete und sich stattdessen angenehmeren Dingen zuwandte. Daran, dass Agricola seinen Beitrag leisten würde, konnte es gar keinen Zweifel geben, das erachtete er als selbstverständlich. Ihm dafür ein Taschengeld in Aussicht zu stellen klang fast schon wie eine Kränkung, war aber ziemlich sicher nicht so gemeint. Was er tat, wollte er aus freien Stücken tun: Schließlich war er kein Lohnarbeiter, sondern ein Familienmitglied. Verlockend war die Vorstellung, über ein klein wenig Geld zu verfügen, natürlich trotzdem. Jedenfalls war es ein anständiger Zug von seinem Onkel, ihm das anzubieten. Vielleicht konnte er so für eine neue Ziege sparen. Die Vorstellung, eines Tages mit einem meckernden Paarhufer hier aufzutauchen, der erst auf die Mosaiken kackte und sich anschließend daran machte, den Hortus kahl zu fressen, vertrieb den Rest von Agricolas’ Trotz und ließ ihn grinsen. Als welcher Menschenschlag sich der bisher noch unbekannte Teil der Iunii auch erweisen mochte, unbeliebt würde er sich mit einer derartigen Aktion zweifellos bei allen machen.


    Auch Avianus’ Laune hatte sich merklich gebessert. An der Art und Weise, wie er über die iunische Militärtradition sprach, ließ sich erahnen, mit welchem Stolz und welcher Leidenschaft er seiner Berufung nachging. Agricola konnte das verstehen. Auf profitgierige Weinhändler konnte das Reich zur Not verzichten, auf Soldaten nicht. Niemals. „Genau deswegen werd’ auch ich mal Soldat.“, platzte es plötzlich fast ungewollt aus ihm heraus. Obgleich er selbst etwas überrascht darüber war, mit so viel Überzeugung gesprochen zu haben, wurde ihm im selben Moment klar, dass er diese Entscheidung insgeheim längst getroffen hatte. Nicht, um seinem verstorbenen Vater nachzueifern, ganz gewiss nicht. Schon eher, um ihm irgendwann die Zunge herausstrecken zu können, weil ihm das gelungen war, wofür Regulus ihn verlassen hatte, um dann dennoch zu scheitern.
    „Aber bevor ich zu den Adlern durchbrenne, werd’ ich dir noch eine Weile auf der Tasche liegen müssen.“, schmunzelte er seinen Onkel an. „Und mich der Familie vorstellen sollte ich vorher wohl auch noch, nicht wahr?“ Bei diesem Thema angekommen, wurde er wieder ein wenig ernster. „Wenn ich den Eindruck erweckt hab’, dass ich bloß hier rumzusitzen und Audienzen an die Familienmitglieder zu verteilen gedenke, ist das ganz anders angekommen als es gemeint war. Du hast recht, ich hätte mich den Iunii längst stellen sollen. Dass ich das noch nicht getan habe, hat nichts mit Desinteresse zu tun, sondern vielmehr mit .. naja .. Unsicherheit. Ich bitte, dieses Versäumnis zu entschuldigen. Selbstverständlich hole ich das umgehend nach .. bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit .. äh .. habt ihr denn schon gegessen?“

    Agricola lauschte Avianus’ Worten mit wachsendem Wohlgefallen. Was sein Onkel da ausführte, hörte sich recht vielversprechend an. Allein schon die Aussicht auf eine kleine Exkursion mit der anmutigen Aersara förderte seine Durchblutung auf’s Angenehmste, und auch das Angebot, ihn zum Familiengrabmal zu begleiten, erfüllte ihn mit Freude. Ein gemeinsamer Besuch würde dem Ganzen einen noch würdigeren Rahmen verleihen und ihm zudem die Möglichkeit bieten, Avianus besser kennenzulernen. Agricola konnte zu alldem nur zustimmend nicken und dabei lächeln. Die Frage, worin er denn gut sei, brachte seine Extremitäten allerdings wieder zum Schlenkern. Schwer zu sagen. Wirklich viel hatte er in seinem kurzen Leben ja noch nicht ausprobiert, aber was er angefangen hatte, war ihm eigentlich immer ganz gut gelungen. Gewiss, über den geschäftlichen Instinkt eins Iturius Geta, der hinter allem und jedem seine persönlichen Vorteile zu erkennen vermochte, verfügte Agricola nicht. Mit Zahlen umzugehen bereitete ihm jedoch keinerlei Probleme. Es lag ihm nur nicht sonderlich viel daran. Dafür besaß er etwas, was seinem Avunculus völlig abging: Empathie. Ein selbstbezogener Ochse wie Geta hätte nicht einmal einer Ziege etwas beibringen können, weil Ziegen sich nicht bestechen lassen und Geta ansonsten keine Mittel kannte, um sich andere Lebewesen gefügig zu machen. Tiere waren da ziemlich konsequent. Wenn man von denen was wollte, musste man nach ihren Regeln spielen oder blieb außen vor.


    Als hätte Avianus die Gedanken seines Neffen erraten, kam er als nächstes auf die iunische Fauna zu sprechen. Kaninchen und Hunde. Kaninchen mochte er. Auch wenn er sie, was das Erlernen von Kunststücken betraf, als eher minder begabt einschätzte. Zumindest im Vergleich zu Ziegen. Hunde dagegen waren Mistviecher, mitunter überraschend talentierte Mistviecher, zugegeben, aber nichtsdestotrotz nur einfältige Mistviecher, die sich dem menschlichen Willen auch ohne viel entgegengebrachte Empathie beugten, wenn man ihnen nur entschlossen genug entgegentrat und eine Steinschleuder mit sich führte. Jedenfalls traf das auf die zähnefletschenden Hofhunde des iturischen Gutes ebenso zu, wie auf die tobenden Bestien der umliegenden Gehöfte. Mit den Haustölen würde er schon fertig werden. Seine Steinschleuder hatte er zwar in Cales zurückgelassen, aber ein starker Lederriemen tat es sicher auch. Wieder nickte er gut gelaunt. Alles kein Problem. Sein Lächeln wurde erst etwas krampfhaft, als Avianus die Zwillinge erwähnte. Ein Stück jünger als er? Auweia. „Kinder?“, fragte er tonlos, erntete aber keinen Kommentar. Natürlich Kinder, was sonst? Und er hatte schon gehofft, das hinter sich zu haben. Nun gut, wenn seinem Onkel so viel daran lag, würde er sich zur Not auch um Kinder kümmern. Im Zweifelsfall konnte er ihnen ja eine ähnlich rigorose Behandlung angedeihen lassen wie den Kötern. Der Gedanke, Avianus bei dessen Geschäften zu helfen, schmeckte ihm schon erheblich besser, und sich geistig wie körperlich weiterzuentwickeln war dann vollends ganz nach seinem Geschmack. Das waren wirklich genügend Aufgaben, um ihn von Trauer und Grübelei abzulenken, und es waren dazu noch sinnvolle Aufgaben. Sogar das mit den Kindern.


    Was für ein angenehmes und konstruktives Gespräch hätte das werden können, wäre Avianus nicht plötzlich doch noch in die Vergangenheit abgeglitten. Dass er Agricola’s Alter nicht genau kannte, war ihm nicht einmal übel zu nehmen, Agricola kannte das Alter seines Onkels schließlich auch nicht. Aber davon, dass es ihm leid tat, sich nicht um seinen Neffen gekümmert zu haben, wollte dieser nichts hören. Nicht etwa, dass er Avianus sein spätes Bedauern nicht abgenommen hätte, das tat er durchaus, nur nützte es niemandem mehr. Im Gegenteil. Es rührte an Dingen, die er spätestens seit der vergangenen Nacht in die stillen Abgründe des Vergessens entlassen hatte. Entweder, er blickte nach vorn, oder zurück, beides gleichzeitig zu tun, bekam ihm nicht. Natürlich wäre es schön gewesen, zu wissen, dass es neben seinem egoistischen Vater auch noch einen Iunier gab, der zu seinen Angehörigen stand. Aber die Gelegenheit, ihm das zu vermitteln, hatte sein Patruus nunmal verpasst, und wenn ihm das nun leid tat, war das allein seine Sache. Agricola konnte ihm sein schlechtes Gewissen nicht erleichtern, und er wollte es auch nicht. Obgleich er bereits begonnen hatte, seinen Onkel zu schätzen. Trotzdem, vorbei war vorbei. Er war auch ohne die Iunii ganz passabel zurecht gekommen. Bisher.


    „Vierzehn.“, entgegnete er kühl. „Fünfzehn im August.“ Sein Gezappel hatte aufgehört, war dieser angespannten starren Körperhaltung gewichen, mit der sich alles leichter ertragen ließ. „Verstehe. Es tut dir leid.“, fuhr er mit mühsam aufrecht erhaltener Beherrschung fort, „Schon seltsam. Immer tut’s den Falschen leid. Meinen Vettern tut es leid, dass ihr Vater sich wie ein Arschloch benommen hat. Meiner Amme hat es leid getan, dass sie mir meine geistig abwesende Mutter nicht ersetzten konnte. Dir tut es leid, dass ich mich von den Iuniern völlig vergessen gefühlt hab’. Schön. Bloß .. nicht dir, sondern meinem Vater hätte es leid tun müssen! Hat es aber ganz offenbar nicht .. oder? Wenn er schon selbst keinen Gedanken mehr an seinen Nachkommen verschwendet hat, wieso sollte sich dann irgendein anderer Iunius um mich scheren? Ich hab’ gar nichts anderes erwartet. Ich bin auch nicht hier, weil ich so schreckliche Sehnsucht nach der Familie meines Vaters verspürt hab’, sondern weil das der einzige Ort ist, wo ich überhaupt noch hin kann, und ich war mir nichtmal sicher, ob ihr mich nicht wieder fortschickt! So oder so, jetzt bin ich nunmal hier, und bis gerade eben war ich auch ganz froh drüber, hier zu sein. Ich will mich ja nützlich machen .. ich will ja lernen und sowas alles. Ich lass mich auch gern’ davon überzeugen, dass die Iunii nicht so sind, wie man sie mir immer geschildert hat, aber im Moment bist du noch der einzige Iunius, den ich kenne. Das sagt noch nicht wirklich viel über die Gens meines Vaters aus, findest du nicht auch? Onkel Avianus? Und könnten wir die Vergangenheit vielleicht endlich mal ruhen lassen? Bitte? Mein Vater ist tot. Meine Mutter ist tot. Die werden auch nicht wieder lebendig, bloß weil’s mir leid tut!“ Irgendwann, zwischen dem vierten und fünften Satz vermutlich, war ihm die Beherrschung dann doch noch abhanden gekommen. Er bedauerte das. Wirklich leid indes tat es ihm nicht. Immer tat allen alles leid. Das ganze Leitgetue führte doch zu nichts. Verflucht! Gut, er war ein bisschen zu weit gegangen, das konnte er sich eingestehen. Avianus hatte ihn hier aufgenommen und sich auch bereits Gedanken um seine Zukunft gemacht. Ihm Vorhaltungen zu machen, wenn auch nur indirekt, gehörte sich nicht und war außerdem ungerecht. So konnte er das nicht stehen lassen. „Weißt du, Onkel..", versuchte er es noch einmal in ruhigem bedächtigen Tonfall. „Bis heute haben mir immer andere gesagt, was ich für richtig oder für falsch zu halten hab’. Das kann einen auf Dauer ganz schön irre machen im Kopf. Entweder stimmt Onkel Geta’s Version von den Iunii oder deine. Beide können ja schlecht hinhauen. So, und ich möchte ab jetzt lieber deine glauben. Kann ich aber nur, wenn ich über Geta und Cales und alles, was mal war, nicht mehr so viel nachdenke. Würde mich wirklich freuen, die Karnickel und Hunde und Kinder unter meine Fittiche zu nehmen, oder dir sonstwie zu helfen. Was die körperliche Ertüchtigung betrifft, bin ich ja bereits von unserem Instrukteur Carus unterwiesen worden, und der hat gesagt, ich hätte außergewöhnlich gute Anlagen. Was immer das auch heißen soll. Also .. ich meine ..“ Die Verspannung löste sich allmählich und die Arme baumelten wieder störend im Weg rum. „Was ich damit sagen will ... ich mach das gern. Und zudem .. braucht es dir nicht leid zu tun. War eben so. Basta.“

    Nein? Wie, nein? Agricola sank der Mut. Er war zwar nicht unbedingt davon ausgegangen, dass sein Onkel zu all seinen Ansinnen gleich quippe und bene sagen würde, aber mit einem allumfassenden kategorischen Nein hatte er dann doch nicht gerechnet. Also nicht. Keine Bücher. Keine Blumen für Regulus’ Grab. Nun gut, das hatte er zu akzeptieren. Gleichwohl verwirrte es ihn. Das mit der Bibliothek war ja noch einzusehen, in Cales hatten auch nur Hauslehrer und Herrschaft Zugang zu den gesammelten Schriften. Na schön, dann würde er die Tage eben damit verbringen, in seinem Cubiculum herumzulungern und in der Nase zu bohren. Aber was hatte Avianus gegen die Ehrung der Ahnen? Hielt er ihn noch nicht für würdig? Mit einem Gesichtsausdruck, der wohl nicht gerade auf besonders ausgeprägte Intelligenz schließen ließ. glotzte er seinen Onkel an, gewahrte ein leichtes Lächeln auf dessen Lippen, und begann seinerseits zu schmunzeln. Aha, diese gewölbte Soldatenbrust beherbergte einen schlummernden Scherzbold. Gut zu wissen. „Also wirklich .. Onkel.“, kicherte Agricola krächzend, „Mach doch sowas nicht.“


    Sicher, dass ein paar Blumengirlanden ein eher kümmerliches Mitbringsel darstellten, war ihm schon klar, nur überstieg alles Weitere deutlich seine pekuniären Möglichkeiten, und es lag ihm eben eine Menge daran, selbst für seine Gaben aufzukommen. Die Ahnen mit Speisen und Tränken zu ehren, die ihm gar nicht gehörten, erschien ihm irgendwie schäbig. Seine Hände wurden unter dem Druck seines Hinterteils langsam taub. Seufzend zog er sie hervor, schlenkerte kurz verlegen damit herum und hakte dann die Daumen in seinen Gürtel. Diese nervösen Pfoten schienen ebenfalls nicht ihm zu gehören. Wenn er es genau bedachte, gehörten ihm nicht einmal die paar Sesterzen für die Blumen. Andererseits war das Geld keine Leihgabe von Appius, sondern ein Geschenk, und Geschenke gehörtem letztlich dem Beschenkten, oder? Avianus hatte schon recht. Sein Vorschlag, zusätzlich zu den Blumen etwas aus der Speisekammer mitzunehmen, war ein ganz annehmbarer Kompromiss. Außerdem konnte er sich für diese Großzügigkeit ja erkenntlich zeigen. Fragte sich nur, wie. Und damit war er schon bei der nächsten offenen Frage, die ihm im Kopf herum schwirrte. Aber eines nach dem anderen. Zunächst einmal durfte er innerlich jubeln, als Avianus ihm die Erlaubnis erteilte, die Bibliothek zu nutzen. Etwas kaputt machen? Ach was, nie im Leben. Er hatte sich völlig im Griff. Naja, meistens zumindest. Wenn er da an sein Bad im Balneum dachte ... besser, er vergaß das schleunigst. Als Avianus geendet hatte, schnellten Agricolas Arme begeistert zur Seite und rissen die eingehakten Daumen mit sich.


    „Das ist ja wunderbar! Vielen Dank, Onkel Avianus! Nun .. ja, das mit den Lebensmitteln ist viel angemessener, stimmt. Ich meine, zusätzlich zu meinen Blumen selbstverständlich. Da wird man mir aber etwas unter die Arme greifen müssen. Also .. nicht finanziell, versteht sich .. aber ich weiß ja nicht, wo man die kauft, geschweige denn, wie ich zur Grabstätte unserer Familie komme. Rom ist so dermaßen riesig. Für mich zumindest.“ Tja, und dann war da unter anderem noch die Frage, wie er sich in Zukunft all dessen würdig und dafür erkenntlich zeigen konnte. Es war ihm durchaus bewusst, dass das nun ein anderes Leben sein würde als das altgewohnte. Auch wenn dies der Sitz seiner Familie war, konnte er sich hier trotzdem nicht einfach einnisten, ohne sein Teil zu allem beizutragen. Avianus hatte mit ihm eine weitere Verantwortung zu tragen, und Agricola konnte es ihm nur etwas leichter machen, indem er langsam damit anfing, selbst Verantwortung für sich zu übernehmen. Bloß wie?
    „Sag, Onkel .. gibt es denn etwas, das ich für dich und die Familie tun kann? Dir zur Hand gehen vielleicht? Oder .. was weiß ich .. Einkäufe erledigen? Irgendwas? Nur zu Lesen ist zwar auf den ersten Blick eine verlockende Vorstellung, aber allein davon werd ich auch nicht reifer. Klüger gewiss, aber nicht erwachsen. Also .. wenn du verstehst, was ich meine. Ich möchte keine Last sein, oder so.“ So richtig wusste er selbst nicht, wozu er taugte. So Sachen wie das Schrubben der Böden oder das Auftragen der Mahlzeiten kamen natürlich überhaupt nich in Frage. Damit hätte er sich und die Gens mit Schande überhäuft. Möglich, dass er einfach zu ungeduldig war. Immerhin war er gestern erst angekommen und kannte weder alle Räume des Hauses noch alle hier lebenden Familienmitglieder. Nur wollte er von Anfang an dem Eindruck entgegentreten, er sei nur gekommen, um auf der faulen Haut zu liegen und sich bedienen zu lassen.

    Der Onkel trat ein. Der Neffe staunte nicht schlecht. Jetzt, da ihm Avianus direkt gegenüber stand, fiel Agricola erst so richtig auf, was für ein imposanter Bursche das war. Schon hinter seinem Schreibtisch im Officium hatte der Tribun groß und breitschultrig gewirkt, nun aber, zu voller Größe aufgerichtet, glich er einer gemeißelten Götterstatue. Wie mochte der Iunier wohl in Paraderüstung aussehen? Noch größer zweifellos und noch breiter. Dass dieser sicher schwer beschäftigte Mann vorgab, einfach mal vorbeizuschauen, um zu sehen, ob sein Neffe sich schon eingerichtet hatte, schien diesem fast schon etwas zu viel der Höflichkeit. Gewiss war Avianus auch deshalb hergekommen, in erster Linie aber war er hier, um herauszufinden, mit wem er es überhaupt zu tun hatte. Agricola war vielleicht ab und an etwas linkisch, blöd war er nicht. Und er verstand seinen Onkel voll und ganz. Schließlich hatte der als Dominus die Verantwortung für alles, und musste von daher wissen, wen er unter seinem Dach beherbergte. Sollte er ruhig seine Fragen stellen. Agricola hatte nichts zu verbergen. Abgesehen vielleicht von seinem Innenleben, einer Perücke, einer Palla und solcherlei Sachen. Ob ihm etwas fehle, wollte Avianus anschließend wissen. Agricola wusste mit der Frage zunächst nichts anzufangen. Der letzte, der ihn gefragt hatte, ob ihm etwas fehlt, war ein Medicus aus Neapolis gewesen, den Geta gerufen hatte, um nach der erkrankten Merenda zu sehen. Aber so war Avianus’ Frage sicher nicht gemeint. Agricola dachte kurz nach. Was sollte ihm denn fehlen? Außer seiner Mutter, seinen Freunden, seiner Ziege und seiner gewohnten Umgebung?


    „Danke, das ist sehr .. aufmerksam. Alles in Ordnung.“, entgegnete er etwas zaghaft. „Ein sehr schönes Zimmer ist das. Wirklich. Fast wie zuhause.“ Eine unglückliche Formulierung, wie ihm sofort klar wurde. Das Cubiculum war sogar bedeutend größer als sein Zimmer in Cales. Zudem war das jetzt nun mal sein Zuhause. Fast wie zuhause klang ziemlich undankbar. Zum Glück erwies sich Avianus nicht als spitzfindiger Wortklauber, sondern ging darüber hinweg und setzte sich endlich hin. Agricola tat es ihm erleichtert gleich. So stolz es ihn einerseits machte, einen derart aufrechten und eindrucksvollen Kerl seinen Onkel nennen zu dürfen, so froh war er andererseits, als Avianus saß und ihn nicht mehr um eineinhalb Köpfe überragte. Da würde er noch eine Menge aufholen müssen. In jeder Beziehung. Nach einem Moment betretenen Schweigens konkretisierte der Tribunus seine Frage von vorher. Ob es etwas gab, was er noch brauchen könnte. Agricola atmete auf. Jetzt war endgültig klar, dass Avianus von Sachen sprach. Von Dingen. „Ich wüsste nicht, was.“, murmelte er nachdenklich.


    Nein, an Dingen fehlte es nicht. Dinge hatte er genug. Waschzeug. Schreibzeug. Zeug zum Anziehen. Was er an Dingen in Cales zurückgelassen hatte, ging ihm nicht ab. Sein Spielzeug, seine Schneckenhaussammlung, seine Schnitzfiguren – all das hätte ohnehin nicht mehr hierher gepasst. Dinge waren nicht das Problem. Zumindest nicht im Moment. Das mit der Kleidung würde allerdings noch problematisch werden. Nichts passte ihm länger als ein halbes Jahr, weder Schuhe noch Tunicae. Was seine Calcei betraf, die waren neu und machten es sicher noch eine Weile, im Gegensatz zu seinen bereits ziemlich straff sitzenden Klamotten. Darüber wollte er aber mit seinem Onkel nicht sprechen. Nicht jetzt. Es wäre ihm schlicht peinlich gewesen. In Cales hatte er nie danach gefragt, woher die neuen Kleider kamen. Sie waren einfach bereit gelegt worden. Meistens von Locusta, manchmal auch von seiner Mutter. Hier aber fühlte er sich noch zu sehr als Gast, um sich solche Ansprüche zu erlauben. Ansonsten gab es wenig, was ihm zu Avianus’ Frage einfiel. Alles, was er unbedingt brauchte, hatte er bereits. Offen waren lediglich ein paar Wünsche.


    „Ehrlich, Onkel Avianus .. ich bin bestens versorgt.“, begann er vorsichtig, während er eine angemessene Ruhestellung für seine flatternden Hände suchte. Herrje, was hatte er denn früher mit seinen störenden Gliedmaßen gemacht? „Allerdings .. wenn ich ich vielleicht die eine oder andere Bitte vortragen dürfte.“ Das Händepaar hatte sich darauf verlegt, rhythmisch auf seinen Oberschenkeln herum zu patschen. Agricola blickte seinen Onkel unschlüssig an. Der hatte, wie es schien, keine Einwände. „Ich hab’ heute ein wenig die Domus erkundet, und bin dabei auf die Bibliothek gestoßen. Ich war nicht drin! Keine Sorge. Hab’ nur reingeguckt. Also .. es wäre mir eine große Freude, wenn ich mich da hin und wieder aufhalten dürfte, um zu lesen. Ich nehme auch nichts mit raus, und räum alles wieder an seinen Platz, wenn ich fertig bin. Das wäre wirklich toll, Onkel.“


    Das Gepatsche ging ihm auf die Nerven. Räuspernd verschränkte er die Finger vor dem Bauch. „Tja .. und dann möchte ich gerne ein paar Blumengirlanden besorgen. Für das Grab meines Vaters. Appius, mein Vetter, hat mir vor der Abreise ein paar Sesterzen zugesteckt, die werden sicher reichen. Ich weiß, die Parentalien sind schon vorbei, aber man wird sowas doch bestimmt noch irgendwo bekommen, was meinst du, Onkel?“ Über den verschränkten Fingern sah er plötzlich seine Daumen kreisen. Bei Iuno, diese Hände taugten wirklich nur noch, um sich drauf zu setzen. Genau das tat er dann auch. Mochte sein Onkel ihn eben für einen ungelenken Narren halten. So ganz falsch lag er damit nicht. „Das ist mir sehr wichtig. Ich glaub’ nicht, dass ich mich hier mit gutem Gewissen einleben kann, ohne meinem Vater zuvor die Ehre erweisen zu haben. Ihm und auch den Vorfahren.“

    Je mehr Zeilen er in das Wachs kritzelte, desto wirrer wurden die Sätze. Kaum war eines der kleinen Täfelchen zur Hälfte vollgeschrieben, blickte er selbst nicht mehr durch. Es hatte keinen Sinn. Zu viele Eindrücke. Zu wenig Platz. Agricola legte seufzend Codex und Stylus beiseite. So ging das nicht. Gewiss, er hatte seinen Vettern einen Brief versprochen, sobald er bei den Iunii angekommen war, aber was er da notiert hatte, konnte er so nicht auf teuren Papyrus übertragen. Außerdem hätten Manius und Appius sicher nicht allzu viel damit anfangen können, war es doch nicht viel mehr als eine verworrene Beschreibung eines recht absonderlichen Tages, in dessen Verlauf er zwar das verwinkelte Gebäude erkundet hatte, nicht aber seine Bewohner. Was also hätte er schreiben sollen? Dass er den ersten Morgen in seinem neuen Heim zu einem Gutteil verschlafen hatte? Dass man ihm das verpasste Ientaculum in seinem Zimmer angerichtet hatte, während er noch in tiefsten Schlaf versunken war? Die beiden Iturier hätte das sicher amüsiert, ihm war es einfach nur peinlich. Verdammt. Sein Onkel musste ihn für einen verschnarchten Müßiggänger halten, einen nichtsnutzigen Tagedieb. Nein, so ging’s wirklich nicht.


    Er wollte sich auch nicht unbedingt darüber auslassen, dass er die weiteren Stunden des Tages gleich einem Geist durch die Domus geschlichen war, tunlichst darum bemüht, von niemanden entdeckt zu werden. Das war natürlich albern gewesen. Ein Rückfall in kindliche Abenteuerlust. Unwürdig eines iunischen Jünglings, der in absehbarer Zeit die Toga Virilis anlegen würde. Gleichwohl hatte es ihm ein diebisches Vergnügen bereitet. Nun wusste er zumindest schon mal, wo sich Culina, Cella und Latrina befanden, die Unterkünfte der Bediensteten und die Bibliothek. Sowohl aus dem Atrium als auch aus Tablinum und Peristylum hatte er Gesprächsfetzen vernommen und sich deshalb von diesen Örtlichkeiten fern gehalten. Den Stimmen nach zu urteilen gab es eine ganze Menge an Bewohnern in der Domus. Frauenstimmen, Männerstimmen, sogar Kinderstimmen hatte er wahrgenommen. Sollte er das vielleicht schreiben? Hier gibt es viele Stimmen, ergo auch viele Iunier? Schwachsinn.


    Mittlerweile war es Abend geworden, und genau genommen wusste er noch immer nichts. Weder über seine Gens noch über deren Alltag. Aber er hatte es nunmal versprochen. Gerade als er wieder zu den Schreibutensilien greifen wollte, klopfte es an der Tür. Ausgesprochen dankbar für die willkommene Störung sprang Agricola vom Stuhl hoch und zog sich die Tunika in Form. Wenn das mal nicht die dralle Serva war. Balsam für seine Augen. Zunder für seine Lenden. Gekommen, um zu fragen, ob sie ihm in irgendeiner Weise zu Diensten sein konnte. Gewappnet mit einem leichten hintergründigen Lächeln, das er für männlich markant hielt, huschte er zur Tür hinüber und riss sie in einer beeindruckenden Demonstration jugendlicher Spannkraft auf. „Immer herein, oh beflissenes Wesen.“


    Es war aber nicht die Sklavin, die da vor der Tür stand, sondern Tribunus Iunius Avianus. Ohne es zu wollen, stieß Agricola sein verhasstes quietschendes Lachen aus. „Onkel! Wie schön!“ kehlte er brüchig. „Komm doch herein.“ Was war das nun wieder für ein Blödsinn! Er konnte doch nicht den Dominus in eines seiner eigenen Gemächer bitten. Nun gut, ihn an der Schwelle stehen zu lassen, ging selbstverständlich auch nicht. „Ich habe mir gerade ein paar Notizen gemacht ..“ erklärte Agricola hektisch lächelnd, während er einen Stuhl für Avianus zurecht rückte. „ .. für einen Brief an meine Vetter in Cales .. bitte, Onkel Avianus, setz dich doch.“

    Agricola schlug die Augen auf und blinzelte auf die fahl schimmernde Holzmaserung einer polierten Tischplatte. Ihm war kalt. Sein Nacken schmerzte. Die Zunge klebte ihm am Gaumen wie angeleimt. Ansonsten aber fühlte er sich gar nicht schlecht. Das änderte sich, als er sich dazu durchringen konnte, den Kopf zu heben. Direkt vor seiner Nase erblickte er die zuckende Flamme einer Lucerna. Auf der anderen Seite des Tisches zeichnete sich ein mit Leinenstoff, Perücke und Palla geschmückter Stuhl ab. Ein nackter toter Stuhl. Seine Mutter war fort, hatte sich davongestohlen, während er schlief. Ohne seine Erzählungen zu kommentieren. Ohne auch nur eine seiner Fragen zu beantworten. Die Erinnerungen kamen wieder angekrochen, und mit ihnen der reißende Wolf, der ihm seit Tagen allmorgendlich in die Eingeweide fuhr, um ihn wach zu quälen. Nur der Schmerz war der alte, alles andere war neu. Der Raum, die Möbel, die Stille, alles neu. Alles fremd. Selbst in den Geruch von Lampenöl und Rosenwasser, der ihm eigentlich hätte vertraut sein müssen, hatte sich ein fremdartiger Brodem gemischt.
    Mit klappernden Zähnen erhob er sich, tapste zum unberührten Bett hinüber und schlang sich seinen achtlos hingeworfenen Mantel um. Es war nicht gut, sich um diese Zeit aus dem Schlaf locken zu lassen. Die schwarze Stunde zwischen Nacht und Morgen gehörte Manes und Lemures. Den Menschen war sie ein Sumpf voller Irrlichter, die den Geist narrten, ihm Pfade beleuchteten, wo es keine gab, und ihn mit Wahrheiten entsetzten, die nicht zu ertragen waren. Seine Mutter hatte diese Stunde geliebt. Vielleicht weil sie in den letzten Jahren ihres Lebens selbst fast schon zum Geist geworden war. Agricola aber graute davor, umschlichen von den Toten auf das erste Morgenlicht warten zu müssen.


    Dass die Flamme der Lucerna plötzlich zu flackern begann, hatte nichts zu bedeuten, soviel war ihm klar. Ein kalter Luftzug war durch die Ritze unter der Tür in den Raum gedrungen, sonst nichts. Auch das scheinbar zum Leben erwachte Wandgemälde an der Stirnseite des Bettes war natürlich nichts weiter als Farbe und Putz, dessen feine Unebenheiten durch das zuckende Licht plastischer wirkten als sie in Wirklichkeit waren. Und was er als leises eindringliches Flüstern wahrnahm, konnte im Grunde nur der Nachtwind sein, der sich draußen an irgendwelchen Bäumen oder Sträuchern brach. Es ließ sich alles erklären. Und doch flackerte die Kerze, dennoch wanderten die Schatten über die Züge des jungen Paares an der Wand, nichtsdestotrotz wisperte eine dünne Stimme leise auf ihn ein. Agricola wickelte sich in den Mantel, legte sich fröstelnd auf’s Bett und lauschte.
    Je öfter er das anfangs fast tonlose Flüstern zu vernehmen glaubte, desto lauter und fordernder wurde es. Irgendwann begannen sich die Laute klar und deutlich in seinem Kopf zu wiederholen. Als er die Worte erst verstanden hatte, erschloss sich ihm auch ihr Sinn. Mortuos verere. Honoretis mortuos et eorum memineritis. Immer wieder die selben mahnenden Sätze. „Das werde ich.“, murmelte er schließlich in die dicke Mantelwolle. „Ich weiß. Ich hab’s ja verstanden.“ Und ob er verstanden hatte. Säumnis musste er sich eingestehen, und Missachtung. Wenn er wirklich hier leben wollte, und das wollte er, gab es etwas nachzuholen. So bald wie möglich. Diese Einsicht schien dem wispernden Nachtwind zu genügen. Mit einem letzten sanften Säuseln löschte er die Flamme der Öllampe und verstummte. Agricola rann der kalte Schweiß von der Stirn. Eine Weile lauschte er noch in die Stille. Dann übermannte ihn der Schlaf.

    „Wie? Schon da?“, grinste Agricola die Serva an, als sie ihn zu seinem neuen Gemach geführt hatte. Der Weg vom Balneum bis zu den Cubicula war erheblich länger gewesen als man es der Gebäude von der Straße aus ansehen konnte. Quer durch’s Haus, breite Stufen hinauf, einen langen Korridor entlang und dann noch einmal um die Ecke. Obwohl er während der Wanderung nur selten den Blick vom Hinterteil der Sklavin hatte losreißen können, war ihm nicht entgangen, dass die Domus Iunia tatsächlich über ein Peristylum mit Garten verfügte. Größe und Zustand des Hortus hatte er bei seinem flüchtigen Blick in das Dämmerlicht vor den Fenstern nicht abschätzen können, aber allein die Ahnung einiger Sträucher und Büsche erfüllte ihn mit Freude. Der unverstellte Blick auf Hügel, Wälder und Weingärten fehlte ihm schon jetzt, vielleicht konnte ihm ein schöner Garten diesen Verlust etwas leichter machen.


    Die Serva bat ihn, einzutreten, entzündete rasch die Lucerna auf dem Tisch, wünschte ihm anschließend eine angenehme Nacht und ließ ihn dann allein. Schon wieder. Angenehme Nacht, hallte es in Agricola nach, während er unschlüssig mitten im Zimmer stand, das Bündel über der einen Schulter, den Mantel über der anderen. Angenehme Nacht? Bäume hätte ausreißen können! Bestien niederringen! In die geheimnisvollen Gefilde weiblichen Fleisches vordringen! Aber nein, nichts dergleichen würde an diesem Tag noch geschehen. Die Sklavin hätte wenigstens so viel Anstand zeigen können, ihm zu sagen, wo sie zu finden war, wenn er ihrer bedurfte. Mit einem tiefen Seufzer ließ er seinen Mantel auf das Bett fallen und ging daran, seine wenigen Habseligkeiten vom Bündel in die Truhe zu packen.


    Als der Reisesack leergeräumt war, knautschte Agricola ihn zu einem dicken Oval zusammen, nahm die schwarze Perücke aus der Truhe, zog sie behutsam über das Leinenknäuel, ging zu einem Stuhl hinüber und klemmte das untere Ende des Sackes zwischen Wand und Stuhllehne. Nach ein paar korrigierenden Fummeleien war er für’s erste mit dem Ergebnis zufrieden, griff sich als nächstes die dunkle Palla und drapierte sie locker fallend um die Lehne. Schließlich stellte er noch die blauen Sandalen vor dem Stuhl auf den Boden, und benetzte, als alles zu seiner Zufriedenheit zurecht gezupft war, die Palla mit einem Tröpfchen Rosenwasser aus der irdenen Phiole. Dann setzte er sich auf den anderen Stuhl und wartete. Es dauerte etwas, bis sich der feine Duft gegen den öligen Geruch der Lucerna durchgesetzt hatte. Agricola saß regungslos da und schnupperte. Endlich drang ihm der erste sanfte Hauch des vertrauten Aromas in die Nase und von dort direkt in die bebende Brust. „Du siehst es ja selbst, ich bin in Roma.“, begann er mit belegter Stimme.

    Vielleicht wäre es Agricola geglückt, seinen Mageninhalt bei sich zu behalten, wenn er nur beizeiten eingesehen hätte, dass auch die edelsten Essenzen in der Summe eine atemberaubende Jauche ergeben konnten. Dummerweise war er aber wild entschlossen, sein Bad zu genießen, und redete sich ein, dass seine provinzielle Nase derlei erlesene Aromen einfach noch nicht gewohnt war. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass nicht die Nase das Problem war, sondern der Kopf. Einmal angedacht ging ihm die Vision von der fetten Kochbrühe nicht mehr aus dem Sinn. Schwammiger Pansen in labberige Kaldaunen zerschnitten, Bries, Brägen, Lunge, all das unsägliche Zeug, das er an Schlachttagen immer vorgesetzt bekommen hatte. Der erste erbrochene Schwall des eben genossenen iunischen Weines machte die Sache nicht besser, im Gegenteil. Die roten Schlieren im Badewasser beschworen das Bild von dampfender Blutsuppe herauf, eine Erinnerung, die Agricola schließlich leer pumpte bis auf den letzten bitteren Rest der Gerstengrütze, die er am Vormittag gelöffelt hatte. Danach ging es ihm besser. Bedeutend besser. Zwar sah er seinen Körper noch beschmutzter als vor dem Bad, inwendig aber fühlte er sich frisch und gereinigt. Beinahe beschwingt. Wäre da nicht die Sauerei gewesen, die er hinterlassen hatte.


    Zuallererst musste mal das verunreinigte Wasser aus dem Becken. Aber wie? Gewiss, da gab es einen bronzenen Rost am Beckenboden, unter dem sich aller Wahrscheinlichkeit nach ein geschlossener Abfluss befand, aber wie man den frei bekam, war ihm ein Rätsel. Um derlei Dinge hatte er sich nie kümmern müssen, das war Sache des zuständigen Sklaven, in diesem Fall der appetitanregenden Sklavin. Eben deswegen wollte er sich die Schande tunlichst ersparen, auch wenn es ihn eigentlich nicht im Geringsten zu interessieren hatte, was eine Sklavin über ihn dachte. Zuerst ging er auf die Knie, steckte seine Finger durch die Ritzen des Rostes und zog mit aller Kraft. Da war nichts zu machen. Den konnte man nicht rausziehen, und selbst wenn, da war auch noch die Metallplatte darunter, die den Abfluss verriegelte. Dann entstieg er ratlos dem Becken und suchte außerhalb nach irgendwelchen Vorrichtungen. Nichts. Verfahrene Situation. Um den Gestank loszuwerden, musste er sich waschen. Den Göttern sei Dank standen noch gefüllte Holzbottiche für kalte Güsse bereit. Nur brauchte er dazu ein leeres Becken, er konnte ja schlecht das ganze Balneum überschwemmen. Also noch mal von vorn. Hinein in die lauwarme Gülle. Nach dem Rost getastet und gezogen. Agricola war alles andere als ein Schwächling, das Landleben und die Übungen mit Potitius Carus hatten ihn kräftig und ausdauernd gemacht, aber diesen verfluchten Rost bekam er trotzdem keinen fingerbreit aus dem Beckenboden. Vielleicht sollte er nicht ziehen sondern drücken? Er drückte. Vergeblich. Drehen? Er umklammerte die Stäbe und versuchte, den Rost zu drehen. Das ging. Spielend leicht sogar. Ein schabendes Geräusch war zu hören, dann begann sich der Wasserspiegel leise gluckernd zu senken. Agricola war unsagbar stolz auf sich.


    Als ihm das Schmutzwasser nur noch zu bis zu den Knöcheln reichte, schnappte er sich beherzt einen der Bottiche und übergoss sich prustend mit eiskaltem Wasser. Durch seine klappernden Zahnreihen gellte ein schriller Schrei. Götter! Welch eine Wonne! Noch ein Guss und noch einer, bis er sich endlich auch oberflächlich ähnlich rein fühlte wie in seinem Inneren. Den Rest des kalten Wassers schüttete er in’s Becken, um die letzten Spuren seine wiedergegebenen Morgenmahles durch den Rost zu spülen. Ein aufrechter Römer war er! Ein Mensch mit Prinzipien! Einer, der die Verantwortung für seine Taten übernahm und die Konsequenzen trug! Jawohl! Tief zufrieden mit sich und der Welt trocknete er sich ab, kramte seine leichte Tunika aus dem Bündel und warf sie sich über. Nun konnte der Tag beginnen. Er war zu allem bereit. Da fiel ihm auf, dass es dunkel wurde. Durch die Oberlichter drang nur noch ein schwaches Abendglimmen. Nun gut, dann würde er eben morgen zu allem bereit sein. Reichte ja auch noch.


    Nachdem er die Schuhe angezogen und Sack und Mantel aufgesammelt hatte, schritt er wohlgemut zur Tür und hielt Ausschau nach der Serva. Die hatte sich – wohl durch das Geräusch des ablaufenden Wassers benachrichtigt – bereits an der gegenüberliegenden Wand des Flures postiert. Agricola beeilte sich, das Balneum zu verlassen und die Tür hinter sich zu schließen. Dort drinnen stank es noch immer erbärmlich. „Wenn du mich jetzt zu meinem neuen Cubiculum führen könntest?“
    Die Sklavin nickte wieder ihr ergebenes Nicken und ging mit anmutig grazilen Schritten voraus. Agricola trottete lüstern glotzend hinterher. Die Wirkung des kalten Wassers verflog augenblicklich.

    Eine Weile ließ er sich einfach treiben, gab sich dem unbeschreiblichen Gefühl hin, keinen Körper zu besitzen und nur aus Geist zu bestehen, aus einem stillen passiven Geist, über den die Gedanken zogen wie Gestirne über das nächtliche Firmament. Agricola sah sie unbeteiligt vorüber gleiten, nahm sie wahr, betrachtete sie ein paar Augenblicke und ließ sie dann wieder unbehelligt seinem Blickfeld entschwinden. Die meisten davon waren Fragen, was nicht verwundern konnte, sogar wenn er sich dazu hätte hinreißen lassen, seinen unbewegten Geist aufzuwühlen, um sich zu wundern. Ob wohl noch weitere Iunii in dieser Domus lebten? Wenn ja, wer waren sie und wieviele? Würden sie ihn ebenso akzeptieren wie Avianus? War er schon ein ganzer Iunier für sie oder musste er sich in ihren Augen erst zum Iunier mausern? Gab es hier eine Bibliothek und einen Garten? Gab es irgend etwas, das ihm die ländliche Freiheit ersetzen konnte? Konnte sich ein Sterblicher jemals in diesem furchterregenden Wirrwarr dort draußen zurecht finden? Solche und andere Fragen sah er aufsteigen und niedergehen. Wozu sich jetzt damit befassen? Das würde er alles früh genug erfahren. Hier befand er sich, wie es schien, auf einer ruhigen schattigen Insel inmitten eines brodelnden Ozeans aus Stein und Fleisch. Nur der Klang einer Kithara, einer ganz bestimmten Kithara, fehlte noch zur vollkommenen Glückseligkeit, und ein Hauch von Rosenwasser auf Irisöl. Was hätte er dafür gegeben. Noch einmal schwelgen in diesen vertrauten Wahrnehmungen, und sei es auch nur für Momente. Das Saitenspiel seiner Mutter und ihr Duft dazu. Verklungen und verweht.


    Mit geschlossenen Augen tastete er über den Beckenrand hinweg nach einem der vielen kleinen Behältnisse, die auf einem niederen Beistelltisch bereitstanden. Wenn er schon nicht in den Genuss tröstender Klänge kam, so war doch wenigstens für ätherische Hochgenüsse gesorgt. Ohne hinzusehen öffnete er fingerfertig das erstbeste Fläschchen und ließ etwas von dem Inhalt in’s Wasser tropfen. Es roch nach gar nichts, fühlte sich nur fettig an. Er schnüffelte enttäuscht am Stöpsel. Olivenöl. Zum Einreiben. Gut, schadete ja nichts. Und sonst? Den Duft des zweiten Fläschchens, dessen er habhaft wurde, erkannte er sofort: Lavendel. Rein damit. Augenblicklich stieg eine betörende Woge wildsüßen Dampfes aus dem Wasser. Herrlich. Bedauerlich nur, dass Fundula, die Gattin seines Onkels Geta, immer sehr penetrant danach gerochen hatte. Als nächstes erwischte er eine Fiola mit leicht scharfem, würzigen Inhalt. Das musste Thymian sein. Der eignete sich hervorragend, um dem Lavendel etwas die Süße zu nehmen. Bei den beiden folgenden Aromen war er sich nicht sicher. Im Behältnis rochen die Flüssigkeiten wie Salbei und Pinienharz, im Badewasser aufgelöst erinnerten sie aber eher an Wacholder. Alle beide.
    Der Guss aus einem weiteren Fläschchen legte sich schwer und animalisch über das Becken. Agricola vermeinte, ähnliches schon einmal gerochen zu haben, erinnerte sich aber nicht mehr, wo. Jedenfalls ganz gewiss nicht in einem Balneum. Die letzten drei Duftrichtungen sagten ihm gar nichts. Vielleicht war sogar Irisöl darunter, nur machte es sich nicht bemerkbar. Rosenwasser fand er keines. Vermutlich waren die getrockneten Rosenblätter im Korb als Ersatz für dieses göttliche Destillat gedacht. In seinem Bündel befand sich ein Phiole des edlen Stoffes, nur war er viel zu träge, um aus dem Becken zu steigen. Das Beduften des Badewassers hatte ihn schon lange genug aufgehalten, jetzt wollte er endlich genießen, was er kreiert hatte. Und das tat er auch. Er ließ das warme Wasser um sich schwappen, legte den Kopf in den Nacken und genoss die aromatischen Wolken mit tiefen gleichmäßigen Atemzügen. Das ging etwa so lange gut, wie ein Hofhund brauchte, um einen Knochen zu vergraben. Obwohl redlich darum bemüht, allen Ingredienzien mit seiner empfindsamen Nase nachzuspüren, musste er sich doch nach kurzer Zeit eingestehen, dass das präparierte Badewasser nicht den erwarteten Sinnenrausch bei ihm auslöste. Tatsache war, die Brühe stank wie gekochter Schafspansen.

    Nachdem die Sklavin den neuen Hausbewohner zum Balneum geführt und ihn fast entschuldigend um einen Moment Geduld gebeten hatte, machte sie sich daran, das zentrale Badebecken mit warmem Wasser zu füllen. Agricola lehnte sich an ein brusthohes Ablagebord und schaute ihr zu. Die Sklavin war zwar keine ganz junge Frau mehr und auch keine ausgesprochen ansehnliche, aber eine Frau. Das war nicht zu übersehen. Bei jeder ihrer ausladenden Bewegungen, vor allem wenn sie die dampfenden Kessel vom Ofen nahm und in’s Becken ergoss, schwollen ihren Rundungen unter der braunen Tunika an wie überdimensionierte Feldfrüchte. Vielleicht sollte er sie bitten, nach verrichteter Arbeit noch ein wenig zu bleiben? Um ihm den Schwamm zu reichen oder so, nichts weiter. Nur so als Weidegrund seiner grasenden Blicke. Das würde wohl schon reichen. Zumindest den interessanten Erfahrungen nach, die er in den letzen Monaten hatte machen dürfen. Nun ja. Seufzend sah er sie den letzten Kessel lehren. Nach einem prüfenden Blick auf die bereit liegenden Badeutensilien verabschiedete sie sich mit einem beiläufigen Nicken, und verschwand. Die Tür fiel sachte zu. Er war allein. Durchblutet für zwei.


    Nun erst fand er die Muße, sich das iunische Balneum genauer zu betrachten. Was er sah, beeindruckte ihn. Vor allem durch die Harmonie und die schlichte Anmut, die der weite hohe Raum ausstrahlte. Auch hier setzte sich die klare funktionale Eleganz fort, die ihm bereits in Atrium und Officium aufgefallen war. Großspuriger Protz und eitles Geschnörkel schien der Iunii Sache nicht zu sein. Trotzdem wirkte alles auf eine besondere Art vornehm und erhaben. Im Vergleich dazu war das Balneum auf dem iturischen Gut nicht viel mehr als ein ummauertes Wasserloch, vollgestopft mit Büsten, Statuetten und anderem repräsentativem Krempel, der seiner Meinung nach in einem Balneum rein gar nichts zu suchen hatte. Hier fehlte der ganze unnötige Ramsch, das heißt, hier fehlte er eben nicht. Hier fehlte gar nichts. Das Muster des Bodenmosaiks war in unaufdringlichen erdigen Farben gehalten, Ocker, Olive, Kastanie, Ton und Schilf. Keine schrille Effekthascherei, nur schlichte Schönheit. Die hohen Wände erstrahlten in einem milchigen sonnigen Rotgelb und wurden von einem gemalten Wandfries geteilt, auf dem Szenen aus der römischen und hellenischen Mythologie zu bestaunen waren, ebenfalls ausgeführt in gedeckten erdigen Farbtönen. Auch die Ausstattung ließ keine Wünsche offen. Tücher und Schwämme verschiedenster Größe lagen bereit. Fläschchen mit Ölen, Töpfchen mit Lotionen, sogar ein Körbchen mit getrockneten Rosenblättern. Es war, ohne jede Übertreibung, perfekt. Allerdings kam Agricola sich in dieser sauberen und duftenden Umgebung nun noch dreckiger vor, und beeilte sich daher, seine Kleider loszuwerden und sich im dampfenden Nass zu versenken.

    Zu Agricola’s großer Erleichterung blieb sein Onkel weiter freundlich und ging mit keiner Silbe auf die unüberlegte Bemerkung über den Sesterzendreher ein. Die Zunge hätte er sich abbeißen können. Noch bevor der allerletzte Weintropfen seinen Hals passiert hatte, war ihm schlagartig klar geworden, dass er keine blasse Ahnung davon hatte, wie Avianus seinen Lebensunterhalt bestritt. Saßen sie hier etwa nicht in einem Officium? Lagen da nicht Listen und Bilanzen auf dem Tisch? Kaum, dass er begriffen hatte, auf welche Abwege eingebildetes Wissen führen konnte, war er schon wieder in die nächste selbstgegrabene Fallgrube geplumpst. Natürlich hatte er Männer wie Geta damit gemeint, verkniffene Raffzähne mit ungesunder Hautfarbe und schlechten Augen. Zu dem agilen Iunier, der ihm gegenüber saß, passte eine derartige Tätigkeit wie ein Ochsenkarren zu einem Rennpferd. Aber nur, weil sich ein vorlauter Naseweis nicht vorstellen konnte, dass dieser Kerl seine Tage hinter dem Schreibpult verbrachte, hieß das noch lange nicht, dass dem nicht so war. Den Göttern sei Dank hatte sein Onkel keinerlei Reaktion gezeigt. Trotzdem sollte er sich besser schnellstens angewöhnen, zuerst die Oberhälfte des Kopfes zu benutzen, bevor er die untere gewähren ließ.


    Seine Erleichterung steigerte sich schier in’s Maßlose, als Avianus ihn über die Militärtradition der Familie aufklärte. Na bitte! Sein Bauchgefühl hatte ihn doch nicht getrogen. Die Iunii waren kein dürrer Haufen blutleerer Krämerseelen, sondern eine pflichtbewusste Gens aufrechter Soldaten. Agricola war entzückt. Gewiss, es gab durchaus den einen oder anderen blasierten Trottel, der mit Geringschätzung auf die Angehörigen des Exercitus hinabsah und den einfachen Munifex lediglich als eine Art Nutztier betrachtete, aber jeder freie Römer, der auch nur annähernd bei Sinnen war, wusste sehr wohl, was Rom seinen Truppen zu verdanken hatte. Sogar Geta wusste das. Das einzig gute Haar, das der jemals an seinem Schwager gelassen hatte, war das Zugeständnis, dass Iunius Regulus Frau und Kind wenigstens für eine Militärkarriere verlassen hatte und nicht für eine – nach seinen Worten – tropfende Schlampe oder einen polierten Knabenarsch.


    Agricola gefiel, was er hörte. Erst recht gefiel es ihm, zu erfahren, dass da ein waschechter Tribunus zu ihm sprach. Tribun zu werden, fand er, passte gar nicht so schlecht zu seiner Definition von etwas Anständigem. Oder vielleicht gar Praefectus? Warum nicht gleich Legatus? General. Feldherr. Bejubelt von den Massen. Angebetet vom Volk. Ruhm. Ehre. Größe. Blödsinn! Das musste der Wein sein. Was für ein Schwachsinn. Letzten Herbst erst hatte er sich die ersten krausen Härchen vom Kinn schaben müssen, sein Gladius war noch ungeschliffen und seiner stetig schrumpfenden Tunika nach zu urteilen, dehnten sich seine Glieder noch immer in alle möglichen und unmöglichen Richtungen aus. Legatus. Ein Witz. Erst einmal musste er herausfinden, wer er war. Dann, was er werden wollte. Anschließend, wie er werden konnte, was er werden wollte. Und erst danach, wenn sich die trüben Dampfwolken in seinem Kopf geklärt hatten konnte er daran gehen, zu werden. Zuallererst aber musste er sauber werden. Vorher ging gar nichts.
    Als die Sklavin plötzlich im Raum stand, erschrak er zwar ein wenig, war aber zugleich ganz dankbar für die Störung. Er hätte Avianus noch stundenlang zuhören können, hatte aber mittlerweile das Gefühl, vor Dreck zu starren und zu müffeln wie seine Ziege Fundula. Der Frage seines Onkels, ob er noch einen Wunsch habe, setzte er ein dankbares Lächeln entgegen. „Aber nein, Onkel. Ich hab’ mehr als ich brauche, vielen Dank. Allerdings .. wenn es keine Umstände macht .. ich würde mich wirklich sehr gerne waschen .. eine Waschschüssel und ein Tuch reichen schon.“ War das nun unhöflich? Agricola war sich nicht sicher. Aber ob unhöflich oder nicht, es war nötig. Dringend nötig.