„HA!“ Agricola sprang voll des Triumphes von seinem Stuhl hoch. „Na bitte! NA BITTE!“ Es war zwar außer ihm keine Menschenseele in der Bibliothek, aber das musste mal gesagt werden, und wenn auch nur vor schweigenden Spinden, Pulten und Schriftrollen. Weit befriedigender wäre es es freilich gewesen, seine Entdeckung jemandem mitzuteilen. Einem Zeugen sozusagen, einem Bürgen für das, was er in den vor ihm liegenden Texten gefunden hatte. Ein niederträchtiger kleiner Geschichtsverdreher war sein Hauslehrer in Cales gewesen, der Beweis war erbracht!
Ein dumpfes Knarren ließ ihn aufhorchen. Die Porta. Wenn das sein Onkel war, kam der heute ungewöhnlich früh nachhause. Umso besser. Avianus würde gewiss begeistert sein über das, was Agricola bei seinen Studien zutage gefördert hatte. Es war aber nicht Avianus. Die leisen gemessenen Schritte, die sich nun durch’s Atrium näherten, waren ihm wohl vertraut, die konnte er mittlerweile von den Schritten aller anderen Hausbewohner unterscheiden. „AESARA!“ quäkte er hochgestimmt. Das kam ihm gerade recht. Die göttlich modellierte Coqua geisterte ihm sowieso ständig in Kopf und Gliedern herum, da konnte sie ihn auch ebensogut mit ihrer körperlichen Anwesenheit beglücken Schließlich gab es ja Atemberaubendes zu berichten. Einige Schritte später öffnete sich fast lautlos die Tür, und ein betörender Duft von frischen Eingeweiden und Gewürzkräutern schwängerte den Raum. „Junger Herr?“
In mehrfacher Hinsicht freudig erregt griff Agricola nach einer der Schriftrollen und hielt sie der ansprechenden Germanin unter die Nase. „Hier! Schau dir das an! Titus Livius! Von wegen unbedeutende kleine Bauerngens!“ Aesara setzte irritiert ihre Körbe ab, nahm die Rolle vorsichtig entgegen, warf aber nur einen kurzen Blick darauf. „Verzeih bitte, Herr .. aber ich dachte, du weißt, dass ..“
Agricola glotzte einen Moment, kapierte dann endlich und klatschte sich stöhnend die Hand auf die Stirn. „Natürlich. Entschuldige. Gut, gib her, ich les’ es dir vor. Moment ..“ Seine Finger wanderten hektisch über die Zeilen. Die Rolle wurde länger und länger. „Ich hab’s gleich.“ Faszinierend. Aesara war das einzige menschliche Wesen das ihn gleichzeitig beruhigen und nervös machen konnte. Schwierig, sich unter diesen Umständen zu konzentrieren, verdammt schwierig „Ah, da haben wir’s ja .. nun also, Aesara .. lausche und staune!“ Räuspern.
„Titus und Aruns machten die Reise. Als Begleiter wurde ihnen Lucius Iunius Brutus mitgegeben, ein Schwestersohn des Königs, von der Tarquinia, ein junger Mann von einem ganz andern Geiste, als dessen Rolle zu spielen er sich auferlegt hatte. Weil er gehört hatte, die Häupter des Staates, und unter ihnen auch sein Bruder, seien von seinem Oheime ums Leben gebracht, so nahm er sich vor, in seinem Geiste nichts, was dem Könige furchtbar, in seinem Vermögen nichts zu behalten, was ihm wünschenswert sein konnte, und sich da durch Verachtung zu sichern, wo der Schutz der Gerechtigkeit zu schwach war. Vorsätzlich also spielte er den Blödsinnigen; gab sich und das Seine dem Könige zum Raube hin, und ließ sich auch den Beinamen Brutus gefallen, wenn nur jener Geist – demnächst des Römischen Volks Befreier – unter dem Deckmantel dieses Beinamens versteckt, seine Zeit abwarten könnte.“
Ein verstohlener Blick auf die Coqua ließ erkennen, dass die nicht gerade überwältigt war. „Öhm, also .. es kommt noch viel besser ..“, versuchte er Aesara zu begeistern, erntete aber nur ein höfliches Nicken, das mit wahrem Interesse nicht viel zu tun hatte. „Nun gut ..“, begann er einigermaßen enttäuscht zusammenzufassen, „.. jedenfalls halten ihn alle für bescheuert oder so. Aber in Wirklichkeit hat er als Einziger den Durchblick. Der rächt sich nicht einfach bloß für die miesen Sauereien, die der König seiner Familie angetan hat, sondern bringt es sogar fertig, den Mistkerl vom Thron zu jagen. Und dann ..“ Seine Kehle wurde eng vor Ehrfurcht. „.. dann wird er der allererste Consul Roms. Ist dir klar, was das bedeutet?“
„Äh .. ja, Herr.“, antwortete Aesara mit einem Gesichtsausdruck, der unschwer erkennen ließ, dass ihr kaum etwas unklarer hätte sein können. Gut, was das eben Vorgetragene für Agricola ganz persönlich bedeutete, konnte sie schwerlich wissen, aber ein klein wenig mehr Enthusiasmus hätte er sich schon gewünscht, ging es hier doch um die Familie, deren Haushalt sie angehörte. Frauen waren schwer zu durchschauen, das hatte er schon gemerkt, und Sklavinnen erst recht.
„Hast du noch einen Wunsch, junger Herr?“ Ernüchtert ließ Agricola die Schriftrolle sinken. Ob er noch einen Wunsch hatte? Götter! Jedes Mal, wenn sie ihn das fragte, hatte er schwer zu tun, seine Körpermitte unter Kontrolle zu behalten. Noch einen Wunsch .. das fragte sie doch nicht einfach so, oder?
„Prinzipiell schon.“, seufzte er kehlig, „.. aber das würde nur den Trieb .. äh . Betrieb aufhalten. Du hast sicher viel um die Lenden vor den Kalohren.“
„Herr?“
„Ohren mein ich .. viel um die Ohren .. vor den Kalenden. Ähem .. danke, das wär’ soweit alles.“
Mit einem ergebenen Nicken nahm die Küchensklavin ihre Einkäufe auf und wandte sich zur Tür. Agricola schalt sich einen Idioten. Da hatte er sie einmal ein paar Momente für sich alleine, und dann sowas.
„Ist Iunius Avianus noch nicht zurück?“, warf er ihr wider besseres Wissen hinterher.
„Nein, Herr.“ Das war klar. Selbstverständlich nicht.
„Hat Dominus Avianus denn schon Vorkehrungen für das Hausopfer treffen lassen?“
„Davon ist mir nichts bekannt, Herr. Da kann dir sicher Araros weiterhelfen. Soll ich ihn rufen?“
„Wie? Nein. Nicht nötig.“
Bloß nicht, was sollte er jetzt mit dem? Aesara stand abwartend an der Tür. Agricola fiel nichts mehr ein. Nichts jedenfalls, was zwischen ihm und einer Serva als geziemend erachtet werden konnte. Letztlich waren sie wie Fisch und Vogel, musste er sich eingestehen. Sie mochten am selben Fluss leben, sich mitunter sogar sehr nahe kommen, waren aber beide an ihr Element gebunden. Bedauerlich. Aber das war eben ihre Natur. So war die Welt nun einmal geordnet
„Gut, Danke.“, sagte er knapp und ging ohne sich noch einmal umzudrehen zurück an den Lesepult. Hinter ihm schloss sich die Tür. Vor ihm harrten noch unzählige Zeilen darauf, entdeckt zu werden. Sein Überschwang jedoch hatte deutlich nachgelassen. Irgendwie war dem Tag etwas von seinem Glanz abhanden gekommen.