Ich hätte für die nächste Runde dann auch zwei Betriebe am Start.
Vielen Dank.
Ich hätte für die nächste Runde dann auch zwei Betriebe am Start.
Vielen Dank.
Hach. Du Gute.
Nun denn, dann möchte ich bitte auch ein Konto eröffnen.
Herzlichen Dank.
Agricola lauschte den Worten seines Onkels aufmerksam, und er lauschte ihnen gern. So wie Avianus das Geschehene beschrieb, machte es durchaus Sinn, einen völlig anderen Sinn als die unzähligen gehässigen Andeutungen, Getas’, aus denen er sich selbst eine sehr trübselige Sicht der Dinge hatte zusammen basteln müssen. Es war schön, zu hören, dass seine Großmutter Helia nicht das kaltherzige Biest war, als das man sie ihm immer beschrieben hatte. Sehr schön. Zu schön fast, um wirklich wahr zu sein. Allzu lange hatte das Bild der berechnenden Matrone Zeit gehabt, sich in seinem Kopf zu verfestigen. Aber er war bereit, es sich in Ruhe noch einmal zu anzusehen, und die neuen Farbtöne hinzuzufügen, die sich aus den Schilderung seines Onkels ergaben. Er versuchte, die Eheschließung seiner Eltern aus der Sicht Helia’s zu betrachten und begann sich sogar auszumalen, wie seine Kindheit im Kreise der Iunii verlaufen wäre.
Als Avianus dann aber auf Iulius Caesar und die Iunier zu sprechen kam, die an seiner Ermordung beteiligt gewesen sein sollte, schreckte er hoch. Also doch alles nur Lüge? Das konnte so nicht stimmen. Davon hätte er Kenntnis haben müssen. Natürlich kannte er Iulius Caesar, wie hätte er ihn nicht kennen können, starrte doch im Atrium der Casa Ituria sein bronzenes Abbild seit jeher anklagend von seinem Sockel. Aber von einer iunischen Verwicklung in Caesar’s Tod war ihm nie auch nur eine Silbe zu Ohren gekommen. Sein Lehrer Argon hätte ihm – gerade ihm – doch ganz gewiss davon erzählt. So ziemlich alles, was er über Rom’s Vergangenheit wusste, wusste er von Argon, und Argon wiederum wusste nahezu alles, was es zu wissen gab. Was Avianus da ansprach, konnte gar nicht der Wahrheit entsprechen. Agricola wusste es besser.
So? Und wie kommt es, dass ich von alldem nichts weiß? wollte er trotzig fragen, wurde aber im selben Augenblick von einer niederschmetternden Erkenntnis heimgesucht. Argon war seine einzige Informationsquelle gewesen. Allein aus ihr hatte er sein Wissen geschöpft und jeden Schluck für reinste Wahrheit gehalten. In Wirklichkeit wusste er so gut wie gar nichts. Schlimmer noch. Er wusste nur, was andere ihm an Wissen zugestanden hatten. Was er für Gewissheit gehalten hatte, war letztlich nichts weiter als ein wohldosierter Dämmertrunk, den Geta und Argon ihm aus Halbwahrheiten und einseitigen Interpretationen zusammengerührt hatten. Aber warum? Was den Lehrer betraf, war die Antwort frustrierend banal: Für Lohn und Brot. Argon hatte schlicht das getan, wofür er von seinem Dienstherren bezahlt worden war. Warum aber hatte sich Geta die Genugtuung versagt, seinen ungeliebten Neffen mit den zweifelhaften Persönlichkeiten aus dessen Familiengeschichte zu konfrontieren? Es hätte dem Iturius doch das reinste Vergnügen bereiten müssen, ihm die vermeintlichen Untaten seiner Ahnen unter die Nase zu reiben. Warum also hatte sein Onkel das nicht getan? Nach kurzem Nachdenken wurde ihm auch das plötzlich klar. Weil Geta damit gleichzeitig hätte zugegen müssen, dass es in den Reihen der Iunii bedeutende Persönlichkeiten gegeben hatte, und seine liebevoll kultivierte Mär von der unbedeutenden Bauerngens somit in’s Wanken geraten wäre.
Agricola fühlte sich wie eine Lumpenpuppe in der Hand eines Pilarius. Ausgehöhlt, benutzt, fremdbestimmt und auch schuldig. Zumindest mitschuldig. Hatte er nicht alles mehr oder minder bereitwillig geschluckt, was ihm eingeträufelt worden war? Warum war ihm nicht früher aufgegangen, dass Wissen und Unwissen ein- und dasselbe sein konnten? Und jetzt? Warum erschien es ihm jetzt so verlockend, Avianus’ Lesart zu folgen? Weil sie plausibel klang? Weil sie ihm wohl tat und sich wie Balsam auf alte Schwären legte? Oder weil ihm der Bruder seines Vaters schon nach der kurzen Zeit, die sie zusammensaßen als ungleich ehrenhafter und aufrichtiger erschien als der Bruder seiner Mutter? Was, wenn der Iunier ihm auch nur Gespinste in den Kopf blasen wollte? Was, wenn er gerade im Begriff war, eine Unwahrheit durch eine andere zu ersetzen? Andererseits, warum sollte er das tun? Nur, um das unfertige Weltbild eines unbedarften jungen Bengels zu manipulieren? Er hätte die Iunii in den leuchtendsten Farben darstellen können, als blütenreine altehrwürdige Gens ohne Fehl und Tadel. Aber das tat er nicht. Er ließ sich auch nicht dazu hinreißen, einseitig gegen die Iturii zu polemisieren, obgleich ihm der Ärger über deren Ansichten und Handlungen anzumerken war. Nein, Avianus zeigte Verständnis für beide Seiten. Anders konnte man sich der Wahrheit wohl nicht annähern. Irgendetwas musste Agricola schließlich glauben. Wenn er künftig alles und jeden in Frage stellte, würde ihn das auf kurz oder lang in den Wahnsinn treiben. Die Vorstellung ließ ihm das Blut gefrieren. Nur nicht das. Nur nicht verloren gehen zwischen Zweifeln und Grübeln, nicht der Welt schleichend abhanden kommen wie seine Mutter. Meinungen konnten revidiert werden, Wissen erweitert und Wahrheiten erforscht, oder etwa nicht?
„Ich verstehe, Onkel.“ sagte er mit einem nachdenklich Nicken als Avianus geendet hatte. „Besser gesagt .. ich glaube, dass ich so langsam beginne, zu verstehen.“ Dankbar griff er zum nachgefüllten Becher und gönnte sich einen herzhaften Schluck. „Ich fürchte bloß, du bist gerade dabei, dir einen argen Hohlkopf in’s Haus zu holen.“ Obwohl das nicht im geringsten scherzhaft gemeint war, ertappte sich Agricola doch bei einem Lächeln. „Ich seh’ schon, man hat mich dumm gehalten. Wo andere ihre Traditionen und die Geschichte ihrer Ahnen mit sich rumtragen, klafft bei mir nur ein zugiges Loch. Aber alles, was ich tun kann, um dieses Loch zu stopfen, werde ich tun. Das versichere ich dir. Tatsächlich hab’ ich schon einige Male darüber nachgedacht, was mal aus mir werden soll. Auf jeden Fall was Anständiges, dachte ich mir. Kein ausgetrockneter alter Sesterzendreher, der sein Leben über Abrechnungen und Münzschatullen verplempert. Egal, was ich machen werde, jedenfalls soll sich kein künftiger Iunius jemals dafür schämen müssen, mich in seiner Ahnenreihe zu haben, auch nicht in hundert Jahren oder so.“ Zur Bekräftigung seiner Worte nickte er seinem Onkel noch einmal zu und erhob dann den Becher. „Naja, das Wichtigste an meiner Zukunft ist, glaub ich, dass ich überhaupt eine habe. Ich kann dir nur nochmals danken, Onkel Avianus.“ Dann trank er. Mit langen genüsslichen Zügen, die durch seine Kehle rauschten, als wäre sie nie enger gewesen als jetzt. Er fühlte sich erfrischt und gleichzeitig dreckig. Mehr als dreckig. Völlig verkrustet von galligem alten Auswurf. Das klebrige Zeug musste runter, ein für allemal. Noch nie hatte er ein solch unwiderstehliches Bedürfnis verspürt, sich zu waschen. Es fühlte sich fast so an, als müsse er eine Larve abstreifen.
Nun, da er mit seinem Onkel allein war, entspannte sich Agricola nach und nach. Noch immer trieb ihn die Frage um, wie ähnlich Avianus seinem toten Vater Regulus wohl sein mochte und wie ähnlich er selbst ihm war, aber direkt danach zu fragen, erschien ihm albern. Trotzdem sollte einer von beiden wohl damit anfangen, irgend etwas Sinnvolles zu sagen, fand er. Dass Avianus das übernahm, beruhigte ihn ungemein. Was sein Onkel über die Kosten eines Kindes sagte, versetzte Agricola zwar einen leichten Stich, verdenken konnte er es ihm aber nicht. Schließlich hatte alles seinen Preis. Weit mehr beschäftigte ihn die angebliche Bereitschaft der Iunii, ihn bei sich aufwachsen zu lassen. Diese Version war ihm neu. Er hatte bislang nur eine Version gekannt, die nämlich, dass die Iunii mit seiner Mutter Merenda auch ihn verstoßen hatten, und mit ihrem Ansinnen, ihn dann doch zu sich zu nehmen, lediglich die Iturier brüskieren wollten. Sich mit dieser neuen Fassung auseinanderzusetzen, würde wohl noch etwas Zeit brauchen.
Agricola war nicht gerade unglücklich darüber, dass Avianus im Moment nicht weiter darauf einging und stattdessen fragte, wie es ihm ergangen war, und der Hoffnung Ausdruck verlieh, dass die Reise nicht ganz so schlimm gewesen war. Was sollte er darauf sagen? Ganz so schlimm? So schlimm wie was? fragte er sich. So schlimm wie der plötzliche Tod seiner Mutter? So schlimm wie die Tatsache, dass man ihn nur Tage später vom Ort seiner Kindheit vertrieben hatte wie einen räudigen Köter? Nein, ganz so schlimm wie das waren die dumpfen Tage mit dem verhassten Vilicus nicht gewesen, bei weitem nicht, da konnte er seinen Onkel beruhigen. „Aber nein, Onkel, interessant.“, beeilte er sich zu versichern, „Die Reise war interessant. War ja meine erste.“ Es war wohl unklug gewesen, sich über die kargen Mahlzeiten und die schäbigen Unterkünfte zu ereifern. Avianus musste ihn für einen verwöhnten Hänfling halten, und bei Iuno, das war er nun wirklich nicht. „Nicht, dass du jetzt glaubst, ich sei anspruchsvoll. Bin ich gar nicht. Ich hab nichts gegen Gerstenbrei oder ein improvisiertes Nachtlager. Nur, von dir auch noch Geld dafür zu verlangen, war .. einfach vulgär.“ So viel zur Reise. Und wie war es ihm ergangen? Was erwartete Avianus? Ein schlichtes: Gut, danke? Wohl eher nicht. Soweit konnte er seinen Onkel bereits einschätzen, um zu spüren, dass er sich nicht mit leeren Floskeln zufrieden hab. Kein unsympathischer Zug.
„Eigentlich ist es mir recht gut gegangen in Cales. So lange Mutter noch da war.“ Nun ja, ganz so verhielt es sich freilich nicht, tatsächlich war sie schon lange vor ihrem Tod nicht mehr da gewesen. „Also, so lange sie noch gesund war.“ Das traf es schon eher. Obwohl er nicht einmal mit Sicherheit sagen konnte, ob sie das jemals gewesen war, gesund. Aber danach hatte Avianus den Göttern sei Dank auch nicht gefragt. „Die Iturier haben da ein ziemlich großes Weingut.“, fuhr Agricola in unverfänglichem Tonfall fort. „Mit vielen Sklaven und auch Tieren. Schweine, ein paar Rinder, Ziegen, Hühner und so. Onkel Geta besitzt sogar drei sehr schöne Pferde. Und ich hatte eine Ziege. Ein kluges Tier war das. Hat sich allerlei Kunsttücke beibringen lassen. Ich hab sie Fundula genannt, nach der Frau von Onkel Geta, weil sie so dürr und hässlich gewesen ist.“ Ein brüchiges fast quiekendes Lachen entfuhr ihm. Agricola hasste es, wenn das passierte, und es passierte ihm ständig in letzter Zeit. Wenn er sich nicht bei jedem Satz zusammenriss, glitt ihm die Stimme davon. Also riss er sich zusammen.
„Ich hatte aber auch richtige Freunde. Meine Vetter Manius und Appius. Die waren ganz anders als ihr Vater. Die mochten mich. Meistens. Mit Onkel Geta hatte ich nicht viel zu tun. Der hat so gut wie nie mit mir geredet. Nur über mich. Auch wenn ich dabei war. Der konnte mich nicht leiden. Was weiß ich, warum. Wahrscheinlich wegen meinem Vater. Obwohl .. einmal hab ich ihn sagen hören, dass das alles gar nicht weiter verwunderlich sei, weil Verräter immer nur neue Verräter zeugen. Keine Ahnung, was er gemeint hat. Klar hab ich Mutter gefragt, aber die ist nicht darauf eingegangen. Meine Amme Locusta hat mir allerdings mal erzählt, dass es da wohl um uralte Geschichten geht, die passiert sein sollen, lange bevor mein Vater überhaupt auf der Welt war. Ich komm da nicht mit, das ist mir alles zu hoch.“ Kaum war der letzte Satz ausgesprochen, verfluchte er sich bereits dafür. Wunderbar, jetzt hatte er sich auch noch als beschränkter Einfaltspinsel präsentiert, der lieber mutmaßte als zu denken.
„Natürlich habe ich auch Unterricht erhalten.“, schickte er schnell hinterher, „Onkel Geta hat extra zwei Hauslehrer für meine Vetter angestellt, den Grammticus Agron und Potitius Carus, einen ehemaligen Optio der Septima Claudia. Agron hat uns eine Menge beigebracht. Lesen und Schreiben selbstverständlich, aber auch so einiges über die Geschichte Roms und die hellenischen Denker. Bei den militärischen Übungen hätte ich eigentlich nur zuschauen dürfen, weil mein Onkel nicht wollte, dass ich da mitmache. Carus hat mich trotzdem unterwiesen. Anfangs immer nur, wenn Manius und Appius nicht mehr konnten. Aber nach drei Monaten oder so, hat er sich bei Geta durchgesetzt und mich offiziell mit unterrichtet. War ein ganz schöner Sturkopf, der Potitier.“ Ein versonnenes Lächeln kräuselte seine Lippen. Auch Carus hatte ihn gemocht, mehr als seine beiden Vetter. Warum auch immer. Aber Carus war aus seinem Leben verschwunden. Wie Manius und Appius, wie seine Amme Locusta, wie seine Ziege Fundula. Agricola schnappte sich den Becher und leerte ihn.
„Naja, und dann ist Mutter so .. krank .. geworden. Das war für alle nicht einfach. Ich glaub’, ab da haben wir so richtig gestört auf dem Gut. Vielleicht, wenn es ihr irgendwann wieder ein bisschen besser gegangen wäre ..“ Er hörte zwar, was er da sagte, glaubte aber selbst nicht daran. Nicht mehr. Eine Besserung ihres Zustandes war schon immer reines Wunschdenken gewesen, nur hatte er das lange nicht wahrhaben wollen. „Aber sie ist ja dann gestorben.“ Erfroren. Unter einer Pinie. Splitterfasernackt. Mit derartigen Details hatte man ihm gegenüber wahrlich nicht gegeizt. Er griff erneut zum Becher, fand ihn leer, setzte ihn wieder ab.
„Weißt du, eigentlich bin ich gar nicht so verwundert darüber, dass man mich weggeschickt hat. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich schon lange damit gerechnet. Nur nicht so rasch nach Mutter’s Tod. Das war .. eben unerwartet. Auch die Reise nach Rom war unerwartet. Ich dachte immer, ich müsste eines Tages zurück nach Misenum. Ehrlich gesagt war ich sogar ein klein wenig neugierig darauf. denn ich kann mich nicht mehr an Misenum erinnern. Auch an dich nicht, Onkel. Tut mir leid. Nicht einmal an meinen Vater kann ich mich erinnern, so angestrengt ich es auch versuche. Ich weiß nur das über ihn, was Mutter mir erzählt hat, und das ist weder besonders viel noch sonderlich schmeichelhaft.“ Alles andere als das. Begriffe wie Ehrloser Lump und herzloser Saukerl waren da noch die harmlosesten gewesen und er konnte das alles nur glauben oder verwerfen, ignorieren konnte er es nicht. „Alles in allem hätte es mir bedeutend schlechter ergehen können.“, fasste er mit einem müden Achselzucken zusammen und blickte seinen Onkel dann etwas ratlos an. „Was soll denn nun werden?“
So einfach war das? Kein Abwiegeln? Kein angewiderter Blick? Kein geseufztes: Also gut, in der Götter Namen, dann nehmen wir dich eben auf? Eine Entscheidung des Dominus, die wie selbstverständlich klang, und alles war, wie Avianus es ausdrückte, geklärt? Agricola sank in sich zusammen, wurde immer kleiner. Von weit her brüllte eine trotzige Knabenstimme wie durch dicken Nebel: Haltung, Caius! Haltung! Aber mit seiner Haltung war es vorbei. Da konnte er sich noch so recken und strecken, er schrumpfte und schrumpfte. Mit Ablehnung hatte er umzugehen gelernt, das war für ihn sicheres Terrain. Gegen Schmähung und Herabsetzung konnte er sich wehren, durch eine Maske aus Gleichmut und Haltung. Darauf aber, dass ihm plötzlich so etwas wie Wärme entgegen drang aus einer Richtung, die man ihm Zeit seines jungen Lebens als zerklüftete Eiswüste beschrieben hatte, war er nicht vorbereitet.
Bevor er zu winzig wurde, um einen Becher heben zu können, griff er schnell danach, hielt sich daran fest und blinzelte mit mahlenden Kiefern hinein. Nach Avianus’ Aussage war das verdünnter Wein. Agricola musste es ihm glauben. Sehen konnte er nicht, was drin war. Es hätte alles möglich sein können, er sah kaum den Becher durch den wässrigen Schleier auf seinen Augen. Vielleicht sollte ich jetzt einfach mal trinken, sagte er sich, oder irgend etwas sagen. Zum Beispiel, dass ich Avianus dankbar bin. Aber Trinken ging nicht, dafür war ihm die Kehle viel zu eng, und für ein Wort des Dankes fehlte ihm die Stimme. Also glotzte er lieber weiter in die salzigen Schlieren und hörte zu, was sein Onkel sonst noch zu sagen hatte.
Als Avianus ein Reisezehrgeld erwähnte, fuhren Agicola schlagartig die Lebensgeister zurück in die Glieder. Ach, so war das! Geta wollte Geld! Wieviel mochte er wohl verlangen für den lästigen Dorn, der ihm endlich aus dem Auge gezogen war? Zehn Asse? Zwanzig? Der nasse Schimmer in Agricolas' Augenwinkeln wurde zunehmend heißer. Reisezehrgeld? Blödsinn! Verkaufen wollte man ihn! Mit frisch aufgeflammtem Zorn starrte er zu Cratinus hinüber, der sich auf seinem Stuhl zu winden begann als hätte er die Krätze am Rücken. Dass der Iunier sich nicht auf diesen niederträchtigen Schacher einließ, entfachte einen Jubel des Triumphs in der Brust seines Neffen. Dem Alten dagegen schien das ganz und gar nicht zu schmecken.
„Aber .. es .. sind Kosten entstanden ..“, versuchte er die Forderung mit unsicherer Stimme zu rechtfertigen, „.. schon allein für Unterkunft und Bewirtung .. immerhin waren wir mehrere Tage ..“
„Bewirtung?“ fiel ihm Agricola aufgebracht in’s Wort. Endlich wuchs er wieder, langsam zwar, aber stetig. „Gerstenbrei mit Grieben! Dünnbier! Klamme Strohhaufen! Dunkle Stallecken! Und das soll mein Patruus bezahlen? Du bist .. so ein .. so ein ..“ Es wollten ihm keine passenden Kraftausdrücke einfallen, keine zumindest, die er sich hier im Officium seines Onkels auszusprechen getraut hätte. Weiter nach adäquaten Beschimpfungen zu suchen, erwies sich jedoch als müßig, der Verwalter knickte ein. „Nun .. in diesem Fall .. werter Iunius Avianus ..“, keuchte er angestrengt in Richtung des Hausherren, ohne ihn dabei anzublicken, „ .. wird es keiner schriftlichen Form bedürfen .. meinem Patron genügt das Wort seines Vilicus.“ Dann zwang er sich den Wein hinunter als wäre er mit Schirling versetzt und erhob sich ächzend. „Wenn du mich nun .. entschuldigen würdest. Meine Sella wartet draußen .. das kann teuer werden. Ich danke dir .. für die Gastfreundschaft, Iunius Avianus. Möge dir .. der Götter Segen zuteil werden .. und du, Kleiner .. mach’s gut. Valete.“
Es brauchte seine Zeit, bis der alte Osker seine morschen Knochen sortiert und sich davon geschleppt hatte. Fast hätte er Agricola leid getan, gebrechlich und geknickt wie er von dannen schlich. Aber der würde sich schnell wieder erholen. Ratten waren zähe Viecher. „Ich wette, der hat dieses Wegzehrgeld selber eingesteckt.“ murmelte Agricola etwas verschüchtert zu seinem Onkel hinüber. Und wieder wurde es still. Diesmal aber hatte die Stille nichts Bedrückendes mehr. Agricola schnappte sich den Becher, kippte einen Spritzer auf den Boden und trank. Die Kehle war immer noch eng, aber der Wein passte schon durch. Auf einen Rülpser verzichtete er vorsichtshalber, so ganz wohl war ihm noch immer nicht. Stattdessen atmete er dreimal tief durch und blickte dann mit so viel Haltung, wie er sich aufzwingen konnte den breitschultrigen Iunier an. „Danke, Onkel Avianus.“
Die Besucher setzten sich. Es wurde still im Raum. Unangenehm still. Avianus studierte das Schreiben, Agricola wiederum studierte die Züge seines Onkels. Viel war da nicht herauszulesen, ein Hauch Erstaunen vielleicht, ein Anflug von Unwillen möglicherweise, jedenfalls kein Anzeichen überbordender Freude. Was zu erwarten war. Viel Schmeichlerisches konnte da nicht drinstehen. Nicht in einem Brief von Iturius Geta, an einen Iunier gerichtet und einen anderen Iunier betreffend Wahrscheinlich lauter Beschwerden, mutmaßte Agricola, über den ach so verstockten Neffen, den treulosen Schwager und die schrecklichen Iunii an sich, das Lieblingsthema des hochfahrenden Ituriers. Man würde ihn wegschicken, das wurde ihm mit jedem Atemzug klarer. Wenn die Iunii auch nur halb so schäbig waren, wie Geta sie zu beschreiben pflegte, würden sie das lästige Anhängsel so schnell wie möglich wieder loswerden wollen. Agricola versuchte, sich darauf vorzubereiten, straffte sich in seinem Stuhl, drückte die Schultern nach hinten, zwang sich zur Haltung bis es zu schmerzen begann. Ein kleines Flämmchen Hoffnung flackerte trotz allen Vorahnungen weiter. Seine Mutter hatte sich nie den Hetztiraden ihres Bruders angeschlossen und zu keiner Zeit Stimmung gegen die Iunier gemacht. Ihre Verachtung war ausschließlich für Iunius Regulus reserviert gewesen. Allerdings war es nun dessen Bruder, der über Agricolas’ Zukunft zu entscheiden hatte. Wie ähnlich sich die beiden wohl wirklich waren?
Irgendwann kam eine Sklavin herein und brachte Getränke. Agricola nahm sie kaum wahr. Er starrte noch immer forschend auf seinen Onkel. Stumm schluckend nahm er dessen Beileidsbekundung entgegen. Ja, es tat ihm auch leid. Unbeschreiblich leid. Denn ihm Gegensatz zu Avianus hatte er seine Mutter sehr wohl gekannt, sehr gut sogar und sehr lange. Schön, dass es dir leid tut, Onkel Avianus, dachte er bitter, dann sind wir schon zwei. Gerne wäre er jetzt aufgestanden, um sich höflich zu verabschieden, bevor er dazu genötigt wurde, nur hatte Avianus noch nicht zu Ende geredet. Wovon er als nächstes sprach, wollte Agricola zuerst nicht recht in den Schädel. Erst als ihm die Sätze nach und nach in’s Bewusstsein gerieselt waren, begriff er, dass sie ihn nicht fortjagen würden. Von einem Zuhause hatte Avianus gesprochen, von einem Zimmer und davon, dass er hier willkommen sei. Seine Haltung kam ihm abhanden. Das erste mal seit Ewigkeiten, wie ihm schien. Zuhause. Wenn das hier sein Zuhause werden würde, und die Iunii seine Familie, hieß das dann nicht, dass seine Mutter gestorben war? Endgültig? Gewiss, er wollte lernen, er wollte stolz und offen das sein, was ihm in Cales stets als Makel angelastet worden war: Ein Iunius. Aber konnte er das, ohne seine Mutter zu verraten? War es überhaupt ein Verrat? Er konnte sie nicht fragen. Jetzt nicht. Später.
„Das .. das wäre schön, Onkel.“, hörte er sich schließlich sagen, und als wäre dieser Satz nicht schon albern genug gewesen, rutsche ihm noch ein weiterer hinterher. „Ich bin kein starker Esser.“
Der kurze Weg von der Porta bis zum Officium des Dominus hatte ausgereicht, um Agricola Hunger und Durst schlagartig vergessen zu lassen. Geblieben war nur eine bange Übelkeit, die eher dem Kopf als dem Bauch entsprang. Es war nicht nur die weiträumige, schlicht aber geschmackvoll eingerichtete Domus selbst, die ihn schwindelig machte, obwohl der Kontrast zu der engen mit scheußlichem Zierrat vollgestopften Casa in Cales sofort in’s Auge fiel. Was ihn weit mehr mitnahm, war die Aussicht darauf, gleich einem sehr nahen und doch wildfremden Blutsverwandten entgegen zu treten. Dominus Avianus, hatte der Botenjunge gesagt. Iunius Avianus. Dabei konnte es sich eigentlich nur um den Bruder seines verstorbenen Vaters handeln, seinen Patruus.
Und da saß er nun, dieser Avianus. Groß, breitschultrig, selbstbewusst, abwartend. Agricola konnte nicht anders, als ihn anzustarren. So also hatte sein Vater ausgesehen. Oder zumindest so ähnlich. Wie ähnlich? Es schickte sich ganz und gar nicht, grußlos vor einen Ehrenmann hinzutreten und ihn anzuglotzen, das war ihm schon klar, aber mehr als ein stummes Nicken brachte er für’s erste nicht zustande. Dafür lief Cratinus, wohl inspiriert durch die eindrucksvollen Räumlichkeiten, zur Hochform auf.
„Salve, werter und geschätzter Iunius Avianus.“, begann er ölig, „Zuvörderst sei dir Dank ausgesprochen .. für deine großzügige Bereitschaft .. ein paar Augenblicke deiner kostbaren Zeit .. zu erübrigen. Es schickt mich zu dir .. der ehrenwerte Appius Iturius Geta .. beheimatet in Cales. Mein Name ist Bavius Cratinus .. und mein junger Freund hier ..“
„Ich bin nicht sein Freund.“, brach es plötzlich trotzig aus Agricola heraus. Cratinus’ Freund? Allein bei der Vorstellung kam ihm das Kotzen. „Ich bin Caius Iunius Agricola. Sohn des Manius Iunius Regulus und der Ituria Merenda.“, Etwas zaghafter und kleinlauter ließ er folgen: „Ich grüße dich .. Onkel Avianus.“ Cratinus bedachte ihn mit einem mordlüsternen Blick und fuhr – etwas aus dem Konzept geraten – mit seinem gespreizten Geseier fort. „Ja .. nun .. wie dem auch sei .. jedenfalls hat mein Patron, mich .. seinen treuen Vilicus mit der verantwortungsvollen Aufgabe betraut .. meinen .. euren .. Verwandten .. nach dem Tod seiner .. von allen hoch geschätzten Mutter ..“ Nun kam es Agricola tatsächlich fast hoch. Dieser hündische Speichellecker! Diese verlogene scheinheilige alte Drecksau!
„Gib ihm das Schreiben.“, presste er mit einem letzten Rest von Haltung hervor, „Du sollst ihm ein Schreiben aushändigen, hast du gesagt. Gib es ihm!“ Der Verwalter zögerte einen Moment, nestelte dann aber schnaubend eine Schriftrolle aus seinem Mantel hervor, löste das Band, entrollte den Brief und hielt ihn mit zittrigen Fingern dem schweigenden Dominus hin. „Nun denn .. bitte. Die Worte meines Patrons.“
CALES, ANTE DIEM KAL FEB DCCCLXVI A.U.C.
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Ad
Gens Iunia
Domus Iunia
Roma
Salve, werte Iunii.
Es übersendet euch seine Segenswünsche Appius Iturius Geta, Frater der Ituria Merenda, Sororius des Manius Iunius Regulus ergo Avunculus des Caius Iunius Agricola.
Bedauerlicherweise haben mich sowohl diverse Geschäftstermine als auch die Feierlichkeiten anlässlich der Bestattung meiner kürzlich verstorbenen Schwester Merenda zu sehr in Anspruch genommen, um dem Hause Iunia die Ankunft meines Nepos ex Sorore zu einem früheren Zeitpunkt zu avisieren.
Wie euch bekannt sein dürfte, haben meine Schwester und ihr Sohn seit der – das will ich nicht beschönigen – unüberlegten Flucht aus Misenum vor gut zwölf Jahren den Schutz und das Gastrecht meines Hauses genossen, nachdem sich Iunius Regulus – und das darf keinesfalls unerwähnt bleiben – auf das Schmählichste seiner Verantwortung entzogen und ohne Rücksicht auf Weib und Kind nach Rom abgesetzt hat. Dennoch möchte ich hier keine Vorwürfe gegen meinen Sororius erheben, sein Tod war der Buße genug getan, und ich spreche euch – wenn auch um Jahre verspätet – mein aufrichtiges Beileid aus. Sehr wohl aber muss ich Klage führen über seine Mutter, eure streitsüchtige Familienfurie Anverwandte Iunia Helia. Obgleich ihr das Schicksal meiner Schwester gewiss völlig gleichgültig war, hat sie mich – einen Geschäftsmann ehrenhaftester Absichten und von tadellosem Ruf – bis zu Merenda’s Tod mit Anfeindungen und Verleumdungen überhäuft, betreffend die Patria Potestas über den kleinen Caius. Ich soll sie widerrechtlich an mich gerissen und den Jungen gar als eine Art Faustpfand betrachtet haben. Das ist erstunken und erlogen entspricht nicht der Wahrheit.
Allein der mütterliche Wunsch meiner Schwester hat mich dazu bewogen, Caius meine Fürsorge angedeihen zu lassen, als gehöre er zu uns, und das war – warum soll ich es verhehlen – sowohl mit immensen Kosten als auch erheblichem Zeitaufwand verbunden. Dankbarkeit habe ich nie erwartet, lediglich eine – und dies erlaube ich mir, ausdrücklich zu betonen – angemessene Aufwandsentschädigung. Zuzüglich selbstredend einer in derart gelagerten Fällen nicht unüblichen Teilrückerstattung der Mitgift meiner verstoßenen Schwester. Beides wurde mir trotzig verwehrt. Dabei sind sowohl der Schaden an Merendas’ zartem Gemüt als auch die geschäftsschädigende Beschmutzung meines Leumunds nicht annähernd zu beziffern. Nur meine allseits bekannte Großherzigkeit und die Liebe zu meiner Schwester haben mich letztlich über diese Ungerechtigkeit hinwegsehen lassen.
Nun aber, da Merenda nicht mehr unter uns weilt, sehe ich – selbst stolzer Vater zweier halbwüchsiger Söhne – mich weder im Stande noch in der Pflicht, dem jungen Iunier auf seinem weiteren Lebensweg angemessen beizustehen. So habe ich also den Überbringer dieses Schreibens, meinen langjährigen Vilicus Bavius Cratinus beauftragt, Caius Iunius Agricloa nach Roma zu geleiten, um ihn in die Obhut der Seinen zu entlassen. Ohne meine Gastfreundschaft loben zu wollen, kann ich doch besten Gewissens versichern, dass es Caius an nichts gefehlt hat. Er ist zwar ein überdrehter Besserwisser mitunter etwas eigenwilliger Junge, aber im Grunde durchaus begabt. Möget ihr selbst herausfinden, wofür. Die unschönen Zwistigkeiten mit Teilen der Iunii betrachte ich mit diesem Vorgang als beigelegt. Das vorgestreckte Reisezehrgeld von fünfzehn Denarii darf gerne an meinen Vilicus entrichtet werden.
Es grüßt und dankt euch
Appius Iturius Geta
Villa Rustica Ituria
Cales
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
KAUFT WEINE VON DEN VINEAE ITVRIANI.
BACCHUS ZUR EHRE. DEM GAUMEN ZUR FEIER.
Dass der Ianitor sich nicht so ohne weiteres geschlagen gab, erfüllte Agricola mit Genugtuung. Derlei war Cratinus von einem Servus nicht gewohnt. In Cales stand er ganz weit oben in der Hackordnung, da kam er gleich nach dem Dominos und war sozusagen ein Halbgott. Hier war er nur ein alter Zausel, der sich Zugang zu einer noblen Domus verschaffen wollte, ohne sich angemeldet zu haben. Selber schuld. Was hatte der runzlige Verwalter denn erwartet? Der Türsklave wäre keine fünf Asse wert gewesen, wenn er nicht nachgehakt hätte. „Das .. das .. ist ja .. ungeheuerlich.“, röchelte der Alte konsterniert, „Ich habe .. strikte Anweisung. Dies ist eine .. delikate .. Familienangelegenheit!“
Agricola wurde ungeduldig. Sturheit gegen Starrsinn. So kam man hier nicht weiter. Er hatte Durst, er hatte Hunger und vor allem hatte er genug von dem ganzen Theater. „Mich hat er auszuhändigen, Ianitor.“ klärte er den standhaften Sklaven schließlich auf. „Stimmt’s nicht, Cratinus?“ Der Angesprochene kniff beleidigt die Lippen aufeinander, nickte dann aber zaghaft und ergänzte brummig: “So ist es. Den jungen Iunier da .. und ein Schreiben .. meines Patrons.“ Na bitte, geht doch, dachte Agricola gereizt und schnappte sich sein Bündel. Er würde jetzt da reingehen. Wenn sich die zwei Granitschädel hier draußen noch weiter belauern wollten, ihre Sache. Er jedenfalls wollte es endlich hinter sich bringen.
Agricola kaute mühsam auf einem Grinsen herum. Der Ianitor war ganz schön angefressen. Recht so. Sollte sich ruhig der wichtigtuerische alte Trottel mit dem erbosten Türsklaven auseinandersetzen. Er selbst verspürte nicht das geringste Bedürfnis, sich zu äußern. Cratinus schien ohnedies nicht gewillt, den jungen Iunier zu Wort kommen zu lassen. Kurz verdattert über die harsche Ansprache des Sklaven, fing sich der Verwalter schnell wieder, zog sich an seinem Besenstiel zu ganzer Größe empor und pumpte sich auf wie ein Ochsenfrosch. „Mäßige dich, Domesticus!“ blökte er überraschend volltönend durch die halb geöffnete Porta. Dann war schon wieder Schluss mit den voluminösen Tönen. Derart verausgabt musste Cratinus erst einmal nachschnaufen. „Vor dir steht Bavius Cratinus .. Vilicus des ehrenwerten Appius Iturius Geta. .. Ich bin beauftragt, deiner Herrschaft ... Diverses auszuhändigen .. und wünsche daher .. ein entscheidungsbefugtes Familienmitglied zu sprechen.“ Agricola hob kurz die Hand zum Gruß, gab sich ansonsten aber unbeteiligt.
Als sie im bereits schwindenden Licht der Frühjahrssonne am Collis Quirinalis angelangt waren, weilte Cratinus sehr zum Leidwesen des jungen Iuniers noch immer unter den Lebenden. Mehr noch, der zähe alte Mistsack schien sich im schaukelnden Sitz der Sella sichtlich erholt zu haben, womit Agricola noch eine Hora zuvor im Leben nicht gerechnet hätte. Schon an der ersten Abzweigung am Circus Maximus hatte Cratinus aus dem letzten Loch gepfiffen, war aber zu faul, zu geizig oder auch nur zur stur gewesen, sich um eine der zahlreich bereit stehenden Lecticae zu bemühen. Agricolas’ inniger Wunsch, der hinfällige Verwalter möge vollends schlappmachen und ihn mit einer Wegbeschreibung alleine weiter schicken, war jedoch bitterlich enttäuscht worden. Mithilfe eines für acht Asse von einem Straßenhändler erstandenen Besenstiels hatte sich Cratinus japsend weiter geschleppt. Ein wenig weiter zumindest, denn auf dem Forum Romanum war ihm erneut die Luft ausgegangen. Entgegen Agricolas Hoffnung allerdings auch diesmal nicht für immer. Aus schierem Trotz – da war sich Agricola sicher – hatte Cratinus dann doch noch in ein gemietetes Fortbewegungsmittel investiert. Nicht in eine noble Lectica selbstredend, sondern eine einfache Sella. Eine Entscheidung jedenfalls, die ihm wahrscheinlich das Leben gerettet, Agricola dagegen endgültig den Tag versaut hatte.
Und nun thronte er da auf seinem Tragestuhl, griente selbstgefällig auf den Iunier hinunter und schwang mit großer Geste seinen lächerlichen Besenstiel. „So, da wären wir. Die Domus Iunia in ihrer ganzen Pracht. Träger! Absetzen!“ Der Stuhl senkte sich zu Boden, Cratinus reckte mit wohligem Stöhnen die Glieder und schlurfte dann zielstrebig auf die schwere Porta zu. „Aber freu dich nicht zu früh, Kleiner ... die werden dir die Flausen noch austreiben ... wirst sehn’.“ Agricola setzte schweigend sein Bündel ab. Von freuen konnte gar keine Rede sein. Während Cratinus mit gichtigen Fingerknöcheln auf der Tür herumklopfte, als wolle er sie auf Holzwurmbefall untersuchen, betrachtete sich Agricola das beeindruckende Gebäude mit einer Mischung aus Hoffnung und Skepsis. Niemand erwartete ihn hier. Die Iunii waren über seine Ankunft noch nicht einmal informiert worden. Gut möglich, dass man ihn auch hier nicht haben wollte. Und dann? Doch zu den Verwandten nach Misenum? Die ganze Strecke wieder zurück? Mit diesem siechen alten Osker, dessen bloßer Anblick schon jetzt sein Blut in Wallung brachte? Alles, nur das nicht.
„Nicht so zaghaft, Mann!“ brach es zornig aus ihm heraus. Wieselflink schubste er Cratinus zur Seite, bearbeitete die Porta mit ein paar donnernden Fußtritten und huschte anschließend sofort wieder in den Rücken des erschrockenen Verwalters, der vergeblich versuchte, ihn mit dem Besenstiel zu erwischen. „Du miese kleine Schabe! Bei allen Göttern .. ich .. ich werd’ dich ..“
„Na, was?“ höhnte Agricola tänzelnd, „Mich mit deinem dämlichen Stock prügeln? Direkt vor der Domus meiner Gens? Genialer Einfall. Mach doch.“ Cratius machte nicht. Zum einen wohl, weil er seine begrenzten körperlichen Reserven realistisch einzuschätzen wusste, zum anderen vermutlich, weil sich im Gebäudeinneren deutlich hörbar etwas regte.
Agricola verharrte reglos am Straßenrand und ließ den Blick schweifen; am Porticus eines Tempels empor über die grün schimmernde Kuppel eines Grabmals zu den qualmenden Kaminen einer Therme hinüber und wieder hinab auf die Via Appia, wo sich zwei verhalten kichernde Urbaner gerade über den Inhalt eines Gepäckstückes amüsierten. Daneben ein gebeugter alter Sack, der – kaum, dass die Wachsoldaten von dem Bündel abgelassen hatten – hinein griff und eine zierliche blaue Sandale zum Vorschein brachte, mit der er hämisch grinsend in Agricola’s Richtung winkte. „Na, sieh mal einer an .. die Iunii .. immer für ’ne Überraschung gut, was?“
Agricola blieb stumm, presste die Kiefer so fest zusammen, dass ihm die Schläfen zu pochen begannen. Einer der Wachen sprach ihn ebenfalls an. Er hörte kaum hin. Alles was von dem Gesagten zu ihm durchdrang war: Zeug. Irgendwann, nach einer halben Ewigkeit, wie ihm schien, ließ der Alte den Schuh wieder in das Bündel fallen, schnürte es zu und warf es dem Iunier mit einem verächtlichen Schnauben vor die Füße. „Das trag mal schön selber .. kleine Caia.“
Ein paar schwache Augenblicke lang versuchte Agricola einzuschätzen, ob er wohl schnell genug war, dem nächst stehenden Urbaner den Gladius aus der Scheide zu reißen, bevor der ihn daran hindern konnte. Schnell genug vielleicht schon, stellte er betrübt fest, aber nicht dumm genug. Bedauerlicherweise. Mit leerem Blick nahm er sein Bündel auf, hörte sich „Gratias ago, Milites.“ sagen, und wurde dann von kraftvoll ausschreitenden Beinen fortgetragen. Auf den gähnenden Schlund des Tores zu. Hinein und hindurch.
Einen Blick reinwerfen? Agricola spürte sich unsicher werden. Das war ihm eigentlich gar nicht recht. Mit seinen Habseligkeiten hielt er es wie mit seinen Gefühlsregungen, die gingen keinen etwas an. Überhaupt, was sollte das mit den Waffen? Die glaubten doch nicht ernsthaft, dass sich ein bartloser Jüngling und ein kurzatmiger alter Kauz dazu eigneten, Waffen in die Urbs zu schmuggeln.
Beklommen blickte er auf sein Bündel, das soeben vom sichtlich erzürnten Cratinus auf den Boden geknallt und aufgeschnürt wurde. Nein, Waffen waren da keine drin, nur eine Handvoll persönlicher Dinge. Seine Strigilis, ein Schwamm, eine leichte Sommertunika, ein Codex, zwei Stili, Kleinkram. Nun ja, und dann eben noch die Frauensachen. Eine hauchdünne Palla, hübsch verzierte goldschimmernde Sandalen, Haarbänder, ein Armreif, ein paar Salbentiegel, ein Tonfläschchen mit Rosenwasser, ein Schminkkästchen mit zerriebenem Malachit und eine schwarze Perücke. Das mit den Waffen war lachhaft. Aber was sollte er machen. Haltung, Caius, ermahnte er sich. Haltung!
Mit der gleichmütigsten Miene, die er unter diesen Umständen zustande brachte, wandte er sich an den pflichtbewussten Wachsoldaten. „Selbstverständlich, Miles. Nur zu.“ Dann machte er ein paar Schritte zur Seite, verschränkte die Arme vor der Brust und tat so, als ginge ihn das alles nicht das Geringste an.
Je näher sie der massigen Stadtmauer kamen, desto mehr Beherrschung kostete es Agricola, seine kunstvoll modellierte Maske des Gleichmuts nicht fallen zu lassen. Lässig vor sich hin pfeifend schlenderte er neben seinem ergrauten Begleiter die Via Appia entlang, als hätte er das alles schon hundert Mal gesehen. Im Grunde war es ja auch so. Insulae, Tempel, Thermen, Theater, Foren – das kannte er durchaus, das gab es auch in Cales. Nur eben nicht in solch rauen Mengen, nicht so dicht beieinander und nicht annähernd so gewaltig. Natürlich war er beeindruckt. Über die Maßen beeindruckt. Fast schon eingeschüchtert. Aber das ging nur ihn selbst etwas an. Er dachte gar nicht daran, es seinem Aufpasser Cratinus gleich zu tun, und mit aufgerissenem Rachen auf die Wunder der Urbs Aeterna zu glotzen als sei ihm vor lauter Verzückung der Verstand abhanden gekommen. Der Mann besaß einfach keine Haltung, was von einem derben oskischen Verwalter freilich auch nicht anders zu erwarten war.
„Da ... da vorne ist das Stadttor.“ schnaufte der Osker erleichtert. Agricola verdrehte seufzend die Augen. „Ach was? Wirklich?“ Dass das ein Tor war, auf das sie zumarschierten, sah er selber. Cratinus ging ihm auf die Nerven. Das Schnaufen, die Leichenbittermiene, die ständigen überflüssigen Erklärungen, Agricola hatte es satt. Sieh da, Junge, ein Minervatempel! Schau dort, ein Triumphbogen! Dort drüben, ein Standbild! Eine Weile war das ja auszuhalten, aber drei Trage auf Tuchfühlung mit Cratinus waren zweieinhalb Tage zu viel. Und nun, da sie der Birota entstiegen und zu Fuß unterwegs waren, drohte der alte Knochen gar noch zusammenzuklappen, bevor das Ziel erreicht war. Das kam davon, wenn man nicht auf seinen Habitus achtete.
„Warte Kleiner ..“ keuchte Cratinus, mit der knochigen Hand auf die Torwachen zeigend, „.. die Urbaner können .. ganz schöne Drecksäcke sein .. wenn sie schlechte Laune haben. Also .. halt den vorlauten Schnabel .. und lass mich reden. Klar?“ Kleiner? Vorlaut? Agricola schluckte es runter. Der schwachbrüstige Alte konnte ihn mal, den würde er ohnehin bald los sein. „Wie du wünschst.“ entgegnete er mit zuckersüßem Säuseln, nahm sein Bündel vom Rücken und drückte es Cratinus in die Arme. „Kannst du das bitte mal nehmen, Cratinus? Mein Schnürband ist aufgegangen.“ Der atemlose Verwalter ächzte unter der zusätzlichen Last, schien aber dennoch positiv überrascht. „Bitte? Was sind das denn .. für neue Töne?“ Agricola bedachte den erfreuten Alten mit einem treuherzigen Blick, witschte dann unvermittelt auf’s Tor zu und baute sich schließlich selbstbewusst vor den Urbanen auf.
„Salve Milites. Caius Agricola von den Iuniern. Ich bin auf dem Weg zur Stadtvilla meiner Gens. Ach, und das da hinten ist mein Träger, der Name ist mir grade entfallen.“
„Verwalter.“ röchelte der heran humpelnde Cratinus empört. „Ich bin Verwalter.“
„Gewiss doch.“ raunte Agricola den Wachen vielsagend zu. „Wie man sieht, verwaltet er mein Gepäck.“
salvete romani
Ich möchte bitte auch noch rein, bevor die Casa platzt.
Name: Caius Iunius Agricola
Stand: Civis
Wohnort: Rom
Die Iunii dürften vorgewarnt sein.