Beiträge von Caius Iunius Agricola

    „Aber selbstverständlich!“ sprudelte es reflexhaft über Agricola’s Lippen – viel zu hastig und mit deutlich mehr Begeisterung als beabsichtigt. So einfach wollte er es dem Onkel eigentlich nicht machen. Auch ein vermeintlicher Herumtreiber hatte seinen Stolz. Andererseits wurde er es langsam müde, die gekränkte Mimose zu mimen. Auf Dauer war das anstrengend. Außerdem führte es zu nichts. Immerhin hatte Avianus eben ein durchaus plausibles Argument für sein Misstrauen vorgebracht. Dass es gewisse Dinge gab, in denen der Patruus schlichtweg niemandem über Weg traute, konnte Agricola sehr gut nachvollziehen. Solche Dinge kannte er auch. Überhaupt gab es – wenn er seine ewig beleidigte Sicht auf die Welt einmal beiseite ließ – im Verhalten seines Onkels nichts, woran er ernsthaft hätte Anstoß nehmen können, jedenfalls nichts Gravierendes. Wahrscheinlich hielt es Avianus gar nicht für seine Aufgabe, den unterforderten Filius Fratris zu beschäftigen, sondern ging davon aus, dass der sich schon irgendwie selbst zu beschäftigten wusste. Um so überraschender kam denn auch die Frage, ob der Neffe den Onkel gegebenenfalls als Gastgeber vertreten konnte, und sei es auch nur für eine schlabberige alte Aushilfsamme. Natürlich konnte er. Und ob er das konnte. Schließlich war er ein Bewohner dieser Domus, noch dazu ein Iunier.
    „Nun, ich denke, das geht in Ordnung.“, verkündete er gönnerhaft, „Wenn du mich als vorzeigbar erachtest, sehe ich da kein Problem.“


    Gruseliger als Nysa, die Amme von Crassus und Marsa, konnte die Quintilierin auch nicht sein. Und wenn doch, musste er sich eben zusammenreißen. Haltung bewahren. Das konnte er. Richtig gut sogar. Wenn er wollte. Letztlich ging es ja nicht um ihn, sondern um Lucius. Wenn der die Kinderfrau in seiner Nähe duldete, konnte sein Patruelis das auch. Wobei es natürlich eine Kunst für sich war, es dem kleinen Scheißer recht zu machen. Aber das war im Zweifelsfall nicht sein Problem, sondern das dieser Quintilia.
    „Wann wäre denn mit diesem Besuch zu rechnen, Onkel? Ich möchte deiner Bekannten ungern in meiner Viehfuttertunika entgegentreten.“

    Leise murrend stellte Agricola die Eimer wieder ab. Der Tribunus gedachte also nicht, sich mit der patzigen Bemerkung zufrieden zu geben. Auch recht. Agricola hatte nichts anderes erwartet. Natürlich war der hingerotzte Satz keine Antwort, zumindest nicht auf die Frage, die Avianus in Wirklichkeit umtrieb. Wie auch? Wenn der werte Patruus wissen wollte, ob sein nichtsnutziger Neffe gelauscht hatte, sollte er es einfach klipp und klar ansprechen, anstatt neblige Fragen zu stellen. Wie lange er sich schon hier herumtrieb vermochte Agricola ohnehin nicht zu sagen. Jede Wette, Avianus wusste selbst nicht so genau, wie lange er schon mit Lucius hier draußen war. Dass es um den genauen Zeitraum im Grunde gar nicht ging, tat dabei nichts zur Sache. Schwammige Fragen provozierten schwammige Antworten. Zugegeben, er hatte sich da eben etwas respektlos benommen, aber der Onkel musste auch nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Immerhin hatte er seinen Filius Fratris einen Rumtreiber genannt. Ein gestandener Tribunus konnte doch nicht so empfindlich sein. Aber gut, genug davon. Bekanntlich gab der Klügere nach, und da der Klügere sich in diesem Fall im Recht wähnte, musste eben der Dümmere nachgeben und das war nunmal Agricola.


    Vor dem Nachgeben galt es allerdings erst mal, das vermisste Holzpferd ausfindig zu machen, und das schien sich in Luft aufgelöst zu haben. In der Exedra war nichts zu finden und auch der Säulengang gähnte blitzblank und völlig leer in den Abend hinaus. Ein Bild vollkommener Ruhe und Harmonie, getrübt lediglich von Agricola’s abgestellten Futterkübeln. Einer plötzlichen Eingebung folgend ging er zu den dreckigen Eimern zurück und warf einen Blick hinein. Tatsächlich. Da war er, der vermaledeite Gaul. Nicht etwa in die welken Gemüsereste hatte Lucius sein Ross geschmissen, nein, ausgerechnet der stinkende Fleischeimer musste es sein. Mit einem tiefen Seufzer griff Agricola in den Eimer, fischte die tropfende Holzfigur heraus und begann sie, an seiner Tunika zu säubern. Vielleicht würde es den Bengel ja aufmuntern, wenn er sah, dass sein Vetter nun genauso verdreckt herumlief wie er selbst.


    „Guck mal, Lucius..“ säuselte er mit süßsaurem Lächeln, und hielt dem schniefenden Zwerg sein frisch gereinigtes Spielzeug entgegen, „Schau, was Ahgi gefunden hat .. ein Hottehü.“ Lucius griff nach seinem Eigentum, ließ aber nicht erkennen, ob die glückliche Rettung des Gauls ausreichte, um ihn mit dem unheimlichen Patruelis zu versöhnen. Agricola hatte da so seine Zweifel. Immerhin, seinen guten Willen hatte er damit bewiesen, und wo er schon mal dabei war, wandte er sich auch gleich an seinen Patruus. „Ich glaube, ich hab’ mich da etwas im Ton vergriffen, Onkel Avianus. Das tut mir leid. Es war nur ..“ Es war nur die Sache mit dem Rumtreiber, die mich so wütend gemacht hat, vollendete er den Satz im Geiste. Sollte er jetzt wirklich darauf rumreiten? Hatte er nicht nachgeben wollen? „Es war nicht so gemeint.“ Doch, war es schon. Im Moment, als er es gesagt hatte, war es durchaus so gemeint gewesen. Ehrlich musste er zu Avianus schon sein, sonst kamen sie hier nicht weiter.


    „Was nun deine Frage betrifft .. wie lange genau ich schon hier draußen bin, kann ich dir auch nicht sagen. Eine Stunde oder so.“ Bitteschön. Mehr hatte der Onkel nicht gefragt, mehr brauchte ihm der Neffe auch nicht zu sagen. Jetzt wusste Avianus in etwa so viel wie vorher. So konnten sie noch stundenlang weitermachen. Ein Gespräch unter Männern sah gewiss anders aus. Agricola blies sich eine Haarlocke aus der schweißfeuchten Stirn. Halbe Sachen lagen ihm einfach nicht. „Jedenfalls lange genug, um wieder zu vergessen, was ich eventuell gehört haben könnte, wenn dich das beruhigt. Du traust mir keinen Fußbreit über den Weg, oder?“

    An gutem Willen herrschte hier offenbar kein Bedarf. Anstatt sich über die Hilfe seines Vetters zu freuen, begann Lucius zu flennen. Agricola nahm es beleidigt zur Kenntnis. Nun war er also nicht mehr nur der blasse Sonderling, sondern auch noch der finstere Kinderschreck. Diese undankbare Kröte! Eben erst hatte er sich vorgenommen, den Kleinen unter seine Fittiche zu nehmen, und jetzt das. Klebte ihm etwa Dung im Gesicht oder was war es sonst, das in seinen Mitmenschen einen solchen Widerwillen hervorrief? Seine bloße Existenz? Die iunischen Hausviecher in all ihrer treulosen Gleichgültigkeit, machten ihm wenigstens keine Szene, wenn er ihnen den Dreck aus dem Fell zupfte, die wussten offenbar, was sich gehört. Im Gegensatz zu seinem neuen Schützling. Immerhin, Avianus ließ sich zumindest zu einem schmallippigen Danke herab, was nach Agricolas’ Dafürhalten allerdings ebenso unnötig war wie das Geplärr des Vetterchens. Sich so gehen zu lassen, nur wegen ein paar Flecken auf der Tunika. Was für ein würdeloses Schauspiel. Dass das ganze Theater letztlich allein auf die abgestellten Eimer zurückzuführen war, ließ Agricola nicht gelten. Hier ging es um’s Prinzip.


    Mit einem resignierten Seufzer schlüpfte er in seine Sandalen. Jetzt war es offensichtlich. Auch der kleine Stinker bedurfte seiner Hilfe nicht. Mochten die Götter wissen, wie er auf diese närrische Annahme gekommen war. Er brauchte Lucius nur anzusehen: Antipathie. Ablehnung. Abscheu. In dessen Augen war er wohl so eine Art Lemur. In Avianus’ Augen möglicherweise ebenso. Agricola konnte sich lebhaft vorstellen, wie das in Zukunft ablaufen würde: Immer schön die Hände waschen, Lucius, sonst kommt der böse Ahgi und beißt sie dir ab. Wahrlich deprimierende Aussichten. Höchste Zeit, sich wieder in den friedlichen Dämmer der Bibliotheca zu verziehen. Aber erst mussten die verfluchten Kübel in die Culina.


    Mit den Gedanken bereits bei Aesara’s göttlicher Kehrseite schnappte er sich die Futtereimer und schlurfte küchenwärts. Eigentlich hatte er seinem Patruus von der niederträchtigen Post aus Cales erzählen wollen. Jetzt wollte er das nicht mehr. Wozu auch? Avianus war mit der eigenen Vita schon mehr als bedient, wie Agricola inzwischen wusste, dem ging im Moment wahrscheinlich nichts anderes durch den Kopf als die Frage, wie er seine Familiengeheimnisse auch künftig vor unbefugten Ohren wie denen seines halb-iturischen Neffen verbergen konnte. Dass er plötzlich wissen wollte, wie lange sich der Filius Fratris schon hier herumtrieb, passte denn auch wunderbar in’s Bild.


    Mit zusammen gepressten Kiefern blieb Agricola stehen und glotzte Avianus düster an. Wie lange er sich schon hier herumtrieb? Ach, so war das. Er trieb sich herum. Das wurde ja immer besser! Wenn andere Familienmitglieder sich hier draußen aufhielten, dann um zu flanieren, zu lustwandeln, um Luft zu schnappen, sich die Beine zu vertreten und so. Er dagegen trieb sich rum. Schön, dann wusste er ja Bescheid. Sollten sie sich ihr stickiges Peristylum doch sonstwo hinstecken. Denen würde er schon noch zeigen, was es hieß, sich rumzutreiben
    „Schon viel zu lange, wie es scheint.“, grummelte er missmutig, „Soll nicht wieder vorkommen.“
    Ob er nun die Sache mit den Eimern meinte oder etwas ganz anderes, überließ er der Phantasie seines geschätzten Onkels.

    Gab es eine größere Wohltat als sich die verbrannten Fußsohlen auf dem Steinboden zu kühlen? Agricola kam im Moment jedenfalls keine in den Sinn. Vielleicht sollte er das öfter machen. Da fühlte man sich so lebendig. Etwas Bewegung an der frischen Luft, musste er zugeben, hatte schon was für sich. Auch wenn man den schwülen Brodem im Hortus nun wirklich nicht als frisch bezeichnen konnte und obgleich man hier draußen gelegentlich auf Leute traf. Nicht, dass ihm das grundsätzlich zuwider war, er wurde nur nicht gerne beim Sinnieren gestört und wollte auch seinerseits niemanden stören. Onkel und Vetter indes machten nicht den Eindruck als störe er sie bei irgend etwas. Die wirkten lediglich etwas überrascht, ihn hier zu sehen. Avianus – mit seinen Ausführungen offenbar zu Ende – stellte seinen Neffen wieder einmal vor. Verkehrt war das nicht, wenn man bedachte, wie selten sich die Patrueles bislang begegnet waren. Und wie unter diesen Umständen auch nicht anders zu erwarten tat Lucius sich denn auch schwer mit dem Cognomen seines Vetters. „Ahgi?“ Agricola runzelte die Brauen. „Ernsthaft? Ahgi? Hmm .. wie wär’s denn mit Caius?“, schlug er vor. „Caius? Caaaaius. Nö?“ Der Kleine spielte nicht mit, vermutlich weil ihm auch das Praenomen noch zu gestelzt war. „Na schön.“ gab Agricola schließlich nach. „Naturalia non sunt turpia. Dann eben Ahgi.“ Lucius schien damit zufrieden und robbte kommentarlos davon.


    Agricola dagegen rührte sich nicht von der Stelle, schmunzelte nur versonnen vor sich hin und ließ sich die Kühle des glatten Bodens von den Füßen über den Rumpf bis unter die Schädeldecke steigen. Dass sein Onkel die Futtereimer nicht gesehen hatte, war klar und bedurfte keiner Entgegnung. Die Frage nach dem Stand seiner Studien konnte er nicht so einfach übergehen, zumal es eine verdammt gute Frage war. Tja, was machten seine Studien? Klüger machten sie ihn, so hoffte er zumindest, ganz sicher war er sich da aber selbst nicht. In erster Linie boten sie ihm Ausreden für alles mögliche, dessen war er sich durchaus bewusst.


    „Meine Studien ..“, murmelte er verhalten, „.. naja .. wie man’s nimmt. Für jede Wissenslücke, die ich schließe, tun sich zwei neue auf. Manchmal denk ich .. ich werd immer blöder.“ Ob Avianus überhaupt zugehört hatte, durfte bezweifelt werden. Jedenfalls fuhr er plötzlich hoch und machte einen Satz um die Ecke. Agricola schnaufte frustriert. Sollten sie ihm doch alle mal den Buckel runterrutschen! Die ganze Sippschaft! Da sprang man kühn über seine Schatten und ließ sich endlich mal auf einen entspannten Plausch ein, und was tat der ehrwürdige Tribunus? Anstatt den zaghaften Annäherungsversuch seines Neffen zu würdigen benahm er sich wie der letzte Flegel. Nun gut. Wenigstens wusste Agricola nun endgültig, woran er war. Um den arglosen kleinen Lucius würde er sich kümmern, wenn es nötig werden sollte, der Rest konnte ihm erstmal gestohlen bleiben. Damit, dass Lucius seine Unterstützung so schnell in Anspruch nehmen würde, hatte er allerdings nicht gerechnet. Ein Blick um die Ecke genügte, um zu erkennen, dass sein Vetterchen auf die dreckigen Eimer gestoßen war. Offensichtlich stolz über seinen Fund hielt Lucius dem staunenden Vater seine winzigen Hände entgegen, die über und über mit den rotzartigen Hinterlassenschaften angegammelter Kaldaunen besudelt waren.


    Agricola war sofort zur Stelle. Allein schon die bloße Vorstellung, dass Lucius sich den stinkenden Brei von den Fingern lecken könnte, machte ihn würgen. Avianus’ überflüssigen Hinweis auf die wiedergefunden Eimer ignorierend kniete er sich neben den quietschvergnügten Vetter auf den Boden und machte sich daran, dessen vollgeschleimte Händchen mit einem Zipfel seiner Tunika abzuwischen. „Meine Schuld.“, gestand er offen ein, „Aber das kriegen wir schon wieder weg. Lass Ahgi mal machen.“ Ahgi machte. Und er machte es gründlich. Erst als die Tunika mit Dutzenden Abdrücken kleiner graubrauner Hände verunziert war, gab er sich mit dem Ergebnis seiner Mühen zufrieden. „So, schon besser, oder? Und die Tunika geben wir einfach Agnodice zum Waschen mit. Problem gelöst.“

    Genug. Es reichte. So hatte sich Agricola das nun wirklich nicht vorgestellt. Der Gedanke, dass gerade er, dem seine eigenen Geheimnisse heilig waren, sich lauschend in dunklen Ecken herumdrückte wie ein schwatzhafter Haussklave, war so absurd wie unerträglich. Das hatte er nicht gewollt. Nur um Geschichten über die iunischen Ahnen war es ihm gegangen und ganz gewiss nicht darum, sich Wissen anzueignen, das ihm nicht zustand. Bedrückt fummelte er sich seine Sandalen von den Füßen und schlich dann auf Zehenspitzen den Porticus entlang. Weil sie als Sklavin sehr viele verschiedene Männer bedienen musste – rumorte es in seinem Kopf. Was sollte das nun wieder bedeuten? Vermutlich gar nichts, redete er sich ein, Servae bedienten nun mal. Wozu sonst waren sie da? Warum aber hatte Avianus nur von Männern gesprochen, noch dazu in diesem zögerlichen Tonfall?


    Nachdem er sich bei den Servitricia um die Ecke gedrückt hatte, gestattete sich Agricola endlich ein paar verhaltene Flüche. Das hatte er nun davon! Den summenden Kopf voll mit Andeutungen und unbequemen Wahrheiten, und keine Möglichkeit, das Aufgeschnappte zu hinterfragen. Und das war noch nicht das Schlimmste, wie ihm auf dem Weg zum Triclinium klar wurde. In diesem Fall bedeutete Wissen auch Verantwortung. Selbstverständlich würde er keiner Menschenseele gegenüber – mit Ausnahme von einer – jemals ein Wort darüber verlieren. Aber Verschwiegenheit allein war noch kein angemessener Preis für das erschlichene Wissen. Der kleine Lucius sollte es später einmal leichter haben als sein Vetter. Dem würde keiner mit Herablassung begegnen oder ihn mit ehrlosen Schmähbriefen kränken, zumindest nicht ungestraft. Nicht, solange Agricola es verhindern oder es zumindest ahnden konnte. Dieser ganze scheinheilige Abstammungsdünkel widerte ihn schon lange an, und seit dem unverschämten Brief seines Vetters Appius hegte er endgültig einen Groll gegen derlei sinnfreie Konventionen. Gewiss, seine Ahnen waren ihm wichtig, gleichzeitig fand er aber auch, dass ein Mann in erster Linie an seinen Taten gemessen werden sollte, nicht so sehr an seinen Vorfahren. Dieser Gedanke wiederum führte ihm einmal mehr vor Augen, dass er rein gar nichts vorzuweisen hatte.


    Welche ruhmreichen Taten vollbrachte er denn, außer zu lesen, zu lauschen und das Getier zu verköstigen? Die Viecher brauchten ihn nicht. Denen war es gleich, wer sie fütterte. Und wie war es mit den Iunii? Die stets beschäftigte Axilla bekam er so gut wie nie zu Gesicht und mit ihren eigenbrötlerischen Söhnen konnte er nichts anfangen, von denen brauchte ihn schonmal keiner. Dann waren da Crassus und Marsa. Die waren in letzter Zeit meist mit sich selbst beschäftigt und hatten momentan wenig Verwendung für einen blassnäsigen Schriftrollenwurm als Spielgefährten. Blieben noch Sibel, Avianus und Lucius. Es kam ihm beim besten Willen nichts in den Sinn, womit er Sibel hätte helfen können, zumal jetzt, wo er wusste, welche Last sie mit sich herumschleppte. Was sollte er da machen? Sie aufheitern? Ausgerechnet er, die Trübsal in Person? Sibel brauchte Zeit und Ruhe, keinen unbeholfenen Faxenmacher. Avianus? Der brauchte ihn auch nicht. Dem nutzte er wohl am besten damit, ihm nicht zu schaden. Nur Lucius konnte er möglicherweise eine Hilfe sein, wenn schon nicht jetzt, dann vielleicht später. Es war ja nicht so, dass er den kleinen Stinker tatsächlich so wenig ausstehen konnte, wie er immer vorgab. Lucius war einfach ein paar Monate zu früh hier aufgetaucht oder er selbst zu spät, je nachdem, wie man es sehen wollte. Natürlich wäre es schön gewesen, den Onkel noch eine Weile für sich alleine zu haben, aber gut, es war nun mal wie es war. Schwamm drüber, oder wie Horatius Flaccus es ausdrückte: Levius fit patientia, quidquid corrigere est nefus.


    Auf halber Höhe des westlichen Porticus zwischen Triclinium und Tablinum trat Agricola wieder in den brütenden Hortus hinaus und verbrannte sich sogleich die Fußsohlen auf den glühend heißen Kieseln. Seine zusammengeschnürten Sandalen ließ er trotzdem weiter über der Schulter baumeln. In Cales hatte er an solchen Sommertagen seine Schuhe gar nicht erst mitgenommen, wenn er mit Appius und Manius zu den Hügeln aufgebrochen war. Ein paar Monate Rom konnten ihn wohl kaum so restlos verweichlicht haben, dass er nicht einmal mehr heißes Kies ertrug. Mit zusammengebissenen Zähnen aber mannhaft ausschreitend durchquerte er den Hortus erneut, nahm diesmal keinen Schleichweg durch die Büsche, sondern marschierte geradewegs auf die schattige Muschel der Exedra zu, wo sich langsam die Umrisse des strahlenden Lucius und seines lächelnden Vaters abzuzeichnen begannen.


    „Sieh da.“, flötete er aufgeräumt, „Patruus und Patruelis. Salvete die Herren. Hat einer von euch zufällig meine Futtereimer gesehn’? Die Hitze macht mich ganz konfus.“

    Mit jedem Satz, der aus der Exedra drang, wurde Agricola mulmiger zumute. Was ihm da zu Gehör kam, hatte herzlich wenig mit den iunischen Vorfahren zu tun. Vielmehr handelte es sich um Dinge, die nicht für seine Ohren bestimmt waren und ihn schlichtweg nicht das geringste angingen. Mittlerweile bereute er es, seine Eimer nicht einfach mit einem knappen Gruß an Vetterchen und Onkel vorbei in die Küche geschleppt zu haben. Sicher, er hätte sich noch immer unbemerkt davonschleichen können, an den Servitricia entlang hinüber zum Tablinum, nur wollte er das jetzt gar nicht mehr, denn so peinlich es ihm auch war, den intimen Erzählungen seines Patruus zu lauschen, so faszinierend fand er es gleichzeitig. Dass er über alles Gehörte schweigen würde wie ein Grab, verstand sich dabei von selbst. Immerhin hatte er sich ohne unlautere Absichten in diese ungemütliche Lage gebracht.


    Sibel war also nicht die Tochter eines Ingenuus, wie er bislang angenommen hatte, sondern eine ehemalige Serva; und Avianus wiederum hatte ihretwegen eine ganze Reihe von Befehlen und Dienstvorschriften ignoriert. Das waren zweifellos ein paar weitere trübe Flecken auf der Familiengeschichte. Andererseits war das Verhältnis der beiden spätestens durch ihre Eheschließung legitimiert worden. Oder etwa nicht? Sibel war nun eine verheiratete Liberta und Mutter eines freien Römers, und Avianus hatte seine dienstlichen Verfehlungen offenbar geschickt genug vertuscht, um trotz allem zum Tribunus aufzusteigen. So gesehen hatten die Eheleute also einfach verdammt viel Glück gehabt, und wenn dieses pikante Detail nicht an die Öffentlichkeit gelangte, würde ihnen auch niemand einen Strick daraus drehen. An ihm, dem unfreiwilligen Lauscher, sollte es jedenfalls nicht liegen. Ihm gefiel diese Geschichte. War sie doch ein Beleg dafür, dass sich Avianus und Sibel – ganz im Gegensatz zu seinen eigenen Eltern – in aufrichtiger Zuneigung verbunden waren. Möglicherweise war da sogar Liebe im Spiel. Nicht, dass er viel davon verstand. Aber er hatte darüber gelesen. Liebe konnte den ernsthaftesten Mann im Handumdrehen in einen Trottel verwandeln und ihn zu Handlungen verleiten, auf die er bei gesundem Geist im Traum nicht gekommen wäre. Was das betraf, herrschte unter den Autoren weitgehend Einigkeit. Für Agricola war das nichts. Er hatte seine ganz eigenen Nöte mit der geistigen Gesundheit, da konnte er auf zusätzliche Heimsuchungen wie Liebe gut und gerne verzichten. Mit Leidenschaft war das natürlich was ganz anderes. So unbedarft, diese beiden Begriffe durcheinander zu bringen, war er nun auch wieder nicht.


    Seine Gedanken begannen abzuschweifen, wanderten durch den Porticus zur Culina, wo Aesara drall und schwitzend ihrer Arbeit nachging. Auch sie war eine Serva, und was in ihm vorging, wenn er seine Blicke an ihren Rundungen weidete, hatte gewiss so einiges mit Leidenschaft zu tun. Dennoch wäre er nie auf den Gedanken verfallen, sich mit ihr auf etwas einzulassen, was über das Stillen quälender Gelüste hinausging, und von Liebe konnte in diesem Fall schon gar nicht die Rede sein. Vielleicht verhielt es mit der Liebe wie mit der Trunksucht. Manche Männer, so sagte man, waren nun mal anfälliger für solche Schwächen als andere. Wenn Avianus zu dieser Sorte gehörte, erklärte das so mancherlei. Zu gönnen war es ihm allemal und für den kleinen Lucius konnte es nur ein Segen sein, als Spross zweier sich liebender Eltern aufzuwachsen. Es sei denn, irgendwelche dünkelhaften Armleuchter würden ihm eines Tages die Herkunft seiner Mutter zum Vorwurf machen. Für Idioten wie Iturius Geta zum Beispiel wäre das, was Avianus seinem Söhnchen eben anvertraut hatte, ein gefundenes Fressen. Schon deshalb durften diese Einzelheiten die Domus Iunia nicht verlassen.


    Besser, er machte sich jetzt davon. Er hatte er bereits genug gehört. Zudem ging ihm Aesara, nun wo sie in seine Gedanken geraten war, nicht mehr aus dem Schädel. Wahrscheinlich wartete sie sogar auf ihn oder zumindest auf ihre leeren Eimer. Nur – was, wenn sein Patruus noch mehr Verfängliches preiszugeben hatte? War es da nicht Agricola’s Pflicht, sich über alles in’s Bild zu setzen, was der Familie gefährlich werden konnte? Blödsinn, befand er nach kurzem Nachdenken. Seine Pflicht war es, stets Haltung zu bewahren, sein Wissen zu mehren und Karnickel und Köter zu füttern. Ende. Nichtsdestotrotz verharrte er in seinem schattigen Versteck. Auf ein paar gestohlene Sätze mehr oder weniger kam es schließlich auch nicht mehr an.

    Zutiefst angewidert von der dumpfen Hitze schleppte sich Agricola den heißen Kiesweg entlang. So wie jeden Tag um die zehnte Stunde war er zu Tode gelangweilt seinen Pflichten als nährende Gottheit der iunischen Köter und Karnickel nachgegangen, hatte seine obligatorischen Eimer – links Grünzeug, rechts Schlachtabfälle – von der Culina durch den Porticus in’s Peristylum hinaus befördert, das dösende Vieh beglückt und einmal mehr festgestellt, dass ihm die grelle Sommersonne seltsam fremd und unangenehm geworden war. Das monotone Zirpen der Zikaden in den abgeblühten Fliederbüschen ging ihm auf die Nerven. Ebenso wie der penetrant süßliche Gestank der Lavendelsträucher. Verglichen mit seinen Erinnerungen an die Wiesen und Hügel um Cales war dieser Hortus nur eine stickige Imitation von Natur, die ihn jeden Tag auf’s Neue deprimierte.


    Seine Mutter hatte schon recht mit ihren stummen Vorhaltungen. Er war zu einem lichtscheuen Stubenhocker geworden, der zehn von zwölf Horae damit verbrachte, im Dämmerlicht der Bibliotheca dem Leben von Toten nachzuspüren. Durch die erloschenen Augen seiner Mutter betrachtet, mutete das wohl ziemlich dumm an. Dabei hätte gerade sie es besser wissen müssen. Ihr war sogar das weitläufige Anwesen der Iturier zu eng gewesen. Eingesperrt zwischen den Mauern der Domus Iunia wäre sie fraglos eingegangen wie eine Primel. Agricola dagegen hatte nicht vor, einzugehen. Genau deswegen mied er auch die traurige Wirklichkeit und fraß all die Historien und Biografien in sich hinein. Sie trugen ihn für ein paar Horae mit sich fort und gewährten ihm zumindest einen flüchtigen Blick auf die wahre Größe der Welt und die atemberaubenden Leistungen des menschlichen Willens. So wie das Viehzeugs sich von den herbeigeschleppten Küchenabfällen ernährte, stillte er seinen Hunger eben mit den Geschichten großer Männer, ruhmreicher Taten und ferner Weltgegenden. Hier draußen gab es ohnehin nichts zu verpassen. Über dem Peristylum ging jeden Tag die Sonne auf und irgendwann wieder unter. Das war’s. Jenseits der Mauern schäumte das Leben, hier drinnen welkte der Flieder. Wen konnte es da verwundern, dass er lieber an solch exotischen Orten wie Zama, Magnesia, Pharsalos, Philippi oder Actium weilte und sich eine Welt zusammen bastelte, in der auch er Großes vollbringen konnte. Dumm war dabei nur eines: Je tiefer er sich in diese fremde Welt versenkte, desto trüber und bedrückender erschien ihm die eigene. Es war zum Davonlaufen.


    Während er so dahin schlurfte, schwitzend, seufzend, über seinem Weltschmerz brütend, vernahm er plötzlich das von glucksendem Gegacker untermalte Murmeln seines Onkels. Auch das noch! Tribunus und Tribunus Minor – wieder einmal in trauter Zweisamkeit vereint. Das musste er jetzt wirklich nicht haben. Ohne lange zu überlegen schlug er einen scharfen Haken in’s Gesträuch, arbeitete sich mit seinen leeren Holzeimern durch Büsche und Sträucher zum Rand des Innenhofes vor und entkam schließlich etwas zerkratzt in den wohltuenden Schatten des nördlichen Porticus. Sollten Onkel und Filius ruhig die stehende Luft des frühabendlichen Hortus genießen. Agricola würde sie dabei nicht stören. Er wollte nichts als in Ruhe gelassen werden. Entgegen seiner Erwartung bewegte sich das Gemurmel jedoch nicht in das heiße Perystilum hinaus, sondern in die Kühle der angrenzenden Exedra. Das passte Agricola erst recht nicht in den Kram. Um die Eimer zurück in die Culina zu bringen, musste er da vorbei. Gut, er hätte den Porticus auch in entgegengesetzte Richtung durchwandern können, dazu allerdings war er zu träge. Also tappte er einfach mal drauf los. Er konnte ja immer noch so tun als sei er zu tief in Gedanken versunken, um Onkel und Vetter zu bemerken.



    Je näher er der schattigen Nische kam, desto deutlicher waren Avianus’ Worte zu vernehmen. Von der Familie sprach er, von seinem Vater, seinem Bruder, seiner Frau. Gleichermaßen von Traurigkeit und Zorn heimgesucht stellte Agricola leise die Eimer ab und drückte sich mit weit aufgesperrten Ohren an die Wand. Lucius, der kleine Stinker, bekam ungefragt all das zu hören, wonach es seinen Vetter schon lange dürstete. Und das obwohl der Kleine gewiss noch nicht einmal verstand, was sein Vater ihm erzählte. Agricola dagegen verstand sehr wohl. Nur ihm erzählte niemand etwas. Er musste sich alles, was er wissen wollte, mühsam in den Tiefen der Bibliotheca zusammenklauben, oder es stehlen wie ein Dieb. So wie jetzt. Es war nicht recht, zu lauschen, und es erfüllte ihn durchaus mit Scham. Dennoch verharrte er regungslos im Dunkel des Säulenganges. Wenn es die Familie betraf, hatte auch er ein gewisses Recht darauf, mehr zu erfahren. Zumindest redete er sich das ein.

    Je verbissener Agricola versuchte, das penetrante Klopfen zu ignorieren, desto lauter wurde es. Als es schließlich sogar den Jubel der Massen und die röhrenden Cornustöße übertönte, musste er sich wohl oder übel der Realität geschlagen geben und sich von den strahlenden Bildern in seinem Schädel verabschieden. Und das kurz vor dem Höhepunkt der Veranstaltung. Bereits in Sichtweite der Aedes Capitolina. Sauerei. Da hatte er Rom im letzten Augenblick vor den aufständischen Samniten gerettet und nun war es ihm nicht einmal vergönnt, seinen wohlverdienten Triumph auszukosten. Höchst widerwillig schlug er die Augen auf. Sein Kopf hing vornüber, vom linken Mundwinkel rann ihm ein dünner Speichelfaden über das Kinn und tropfte von dort leise auf Papyrus. Dieses Geräusch war es – nicht das Klopfen – das ihn jäh hochschrecken ließ. Verdammt! Die Schriftrolle!


    In einem Anflug von Panik fummelte er den dünnen aber endlos langen Papyrus aus seinem Schoß in’s Licht der Lucerna und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass er nur den Rand der Rückseite vollbesabbert hatte. Von den Memoriae des Lucius Cornelius Sulla war, Iuno sei Dank, nicht ein einziges Wort seiner Spucke zum Opfer gefallen. Während Agricola sich noch um Fassung mühte, ging das Klopfen munter weiter. Schön wäre es gewesen, wenn Aesara vor der Tür gestanden hätte, aber die war es nicht. Die klopfte anders und kannte ihn außerdem gut genug, um zu wissen, dass es ratsamer war, ihn in Ruhe zu lassen, wenn er nicht umgehend reagierte.


    „Ja doch!“ krähte er gereizt, nachdem er sich noch etwas benommen vergewissert hatte, dass ihm vom Triumph keine rote Farbe mehr im Gesicht klebte. „Was denn?“ Die Tür schwang auf. Wie schon erwartet war es nicht Aesara, sondern der Ianitor. „Ich bin’s nur. Araros.“ verkündete der alte Obersklave mit seiner einnehmenden tiefen Stimme. „Das seh ich.“ entgegnete Agricola weit weniger sonor, „Götter! Kann man sich hier nicht mal in Ruhe seinen Studien widmen?“ Ein feines Lächeln huschte über Araros’ Gesicht. „Oh. Die Studien. Natürlich. Ich bitte um Vergebung, junger Herr. Soll nicht wieder vorkommen. Es ist nur so: Ich habe hier zwei Briefe für einen gewissen Caius Iunius Agricola, und da dachte ich, du könntest mir in dieser Sache vielleicht weiterhelfen.“ Erst jetzt fiel Agricolas’ Blick auf die beiden schmalen Rollen, die Araros in den mächtigen Pranken hielt. „Briefe?“ fragte er ungläubig nach, „Zwei?“ Wer mochte ihm wohl schreiben? „Ganz recht. Briefe. Zwei.“ bestätigte Araros schmunzelnd. Agricola ging ein Licht auf. Seine Vettern. Das konnte eigentlich nur die Antwort von Manius und Appius auf seinen leider sehr verspäteten Brief nach Cales sein. In einer gebieterischen Geste streckte Agricola den Arm aus und bedeutete Araros mit zuckenden Fingern, ihm die Schriftrollen auszuhändigen. Der tat das grinsend, wünschte noch angenehme Träume und zog sich dann lautlos zurück. Manchmal hatte Agricola schon ein wenig das Gefühl, von den Bediensteten nicht ganz für voll genommen zu werden. Momentan aber kratzte ihn das nicht sonderlich. Er hatte Post bekommen.


    Behutsam schob der die auf dem Pult verstreuten Schriften beiseite, legte die beiden Rollen vor sich hin wie kostbarste Preziosen – was sie im Grunde ja auch waren – und überlegte sich mühsam beherrscht, welche er sich zuerst zu Gemüte führen sollte. Seine Finger waren allerdings schneller als seine Überlegungen. Das erste Schreiben entrollte sich bereits wie von Geisterhand, während er sich noch in Vorfreude suhlte. Nun denn.




    Ad
    Caius Iunius Agricola
    Domus Iunia
    Roma


    Salve, Caius.


    Vielen lieben Dank für deinen Brief. Du hast dir ja ganz schön Zeit damit gelassen. Schäm dich mal. Du weißt doch genau, wie langweilig es hier ist. Aber ich mag gar nicht meckern. Bestimmt gibts in Roma so viele Sachen zu sehen, dass du einfach nicht zum Schreiben gekommen bist. Auf jeden Fall war das Eintreffen deines Briefes eine große Freude. Appius und ich haben ihn ganz aufgeregt gelesen. Schön, dass du gesund bist und es dir gut geht. Trotz dem schlechten Empfang. Cratinus hat uns nach seiner Rückkehr natürlich alles erzählt. Tut mir wirklich leid für dich. Es muss dich ziemlich traurig machen, dort nicht willkommen zu sein. Aber wahrscheinlich müssen sich die Iunier bloß erstmal an dich gewöhnen. Nach dem, was in deinem Brief steht, kann es ja nicht ganz so schlimm sein. Diesen Urbaner-Onkel beschreibst du jedenfalls recht positiv und außerdem lassen die dich sogar in ihre Bibliothek. Das dürfen wir hier immer noch nicht.


    Vielleicht ist es ja tatsächlich so, wie du schreibst, und wir sollen nicht alles wissen. Das hat mich nachdenklich gemacht. Dass da was nicht ganz stimmt, hab ich mir beinahe schon gedacht. Erst neulich hab ich einen wüsten Streit zwischen Agron und Carus mitbekommen. Wegen dem Unterricht in Geschichte. Ich glaub, es ging um die iturischen Feldherren. Ganz schlau bin ich aber nicht draus geworden. Carus ist seither stinksauer auf Agron. Übrigens soll ich dich von Carus grüßen, und auch von Locusta. Denen gehts gut. Von Appius brauch ich dir keine Grüße auszurichten, der will dir selber schreiben. Fundula hätte dich sicherlich auch grüßen lassen, wenn sie sprechen könnte. Ich kümmere mich jetzt um sie. Am Anfang nachdem du weg warst, hat sie tagelang nicht mehr gefressen. Jetzt ist sie aber fast schon wieder die Alte. Nur kann ich sie einfach nicht dazu bringen, ihre Kunsttücke vorzuführen. Vielleicht kommt das noch.


    Vom Gut gibt es nur wenig Neues zu berichten. Der alte Stallknecht Segonax ist gestorben. Vater hat Cratinus in Capua einen neuen kaufen lassen. Mit Weib und Tochter. Die Tochter heißt Teuta, ist dreizehn und hat ganz langes Haar, das aussieht wie poliertes Kupfer wenn die Sonne drauf scheint. Und grüne Augen, die manchmal auch blau sind. Wenn sie zum Beispiel etwas erzählt, sind sie grün und wenn sie zuhört sind sie blau. Kannst du dir das vorstellen? Ich finde das schon sehr bemerkenswert. Dann ist Ende Maius noch der Hof von Falanius Hortalus abgebrannt. Mit zwölf Kühen und zehn Schweinen drin. Hortalus und den anderen Bewohnern ist aber nichts passiert. Ansonsten ist hier alles wie immer. Langweilig halt.


    Meinst du, du könntest uns irgendwann einmal besuchen? Dass ich so schnell nach Roma komme, ist nämlich unwahrscheinlich. Vater hat wohl andere Pläne mit mir. Welche genau, weiß ich aber selber nicht. Zudem sagt Cratinus, Roma sei ein stinkendes Dreckloch, in dem man kaum Luft bekommt. Stimmt das wirklich? Muss ich mir wegen deiner Gesundheit Sorgen machen? Ich hoffe nicht. Du musst nur immer genügend Olivenöl an die Speisen geben und viel an die Sonne gehen, davon bleibt man gesund. Das sagen alle.


    Gib gut auf dich acht und lass nicht wieder Monate vergehen, bevor du antwortest.
    Alles Gute für dich und der Götter Segen.


    Dein Manius.



    Manius Iturius
    Villa Rustica Ituria
    Cales




    Ein glühendes Strahlen legte sich über Agricolas' Gesicht. Der gute Manius. Immer noch herzlich und geradeheraus, und immer noch im Kriegszustand mit den Feinheiten der Grammatik. Die pausbäckigen Züge des jungen Ituriers stiegen vor Agricola’s erhelltem Geist auf. Verschmitzt grinsend, gleichzeitig mit einem zarten Schleier von Misstrauen um die Augen. Manius war gewiss kein Dummkopf, nur manchmal etwas eigen, auf jeden Fall war er aber ebenso wie Appius stets ein wahrer Freund gewesen. Zwar hatte Agricola nicht alle Passagen des Briefes auf Anhieb verstanden, aber das hatte Zeit. Gewiss würde er die Briefe seiner Vettern noch so oft lesen, bis er sie auswendig hersagen konnte. Wohlig seufzend goss er sich etwas Zitronenwasser in den Becher, trank in kleinen genüsslichen Schlucken und nahm sich dann dem zweiten Brief an. Als er ihn ausgerollt hatte, erschrak er. Das war Geta’s Geschäftspapyrus. Einer der Bögen, die Agriolas’ Avunkulus sich immer gleich dutzendweise von Scriba Epicles vorfertigen ließ. Was um alles in der Welt wollte Onkel Geta von ihm? Ein banger Blick auf die Absenderzeile ließ Agricola allerdings aufatmen. Der Brief war von Appius. Der findige Bursche hatte seinem Vater bloß einen seiner Papyrusbogen stibitzt. Grinsend lehnte sich Agricola zurück und nahm sich vor, Zeile für Zeile zu genießen wie einen reifen Pfirsich.



    CALES, ANTE DIEM KAL IUL DCCCLXVI A.U.C.
    ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~


    Ad
    Caius Iunius Agricola
    Domus Iunia
    Roma


    Salve, Amitinus Caius Agricola.


    Lass mich dir zunächst für dein Schreiben danken. Es zu lesen war überaus aufschlussreich. Wie ich deinen Zeilen entnehmen konnte, hast du dich allen Widrigkeiten zum Trotz überraschend schnell bei den Iunii eingelebt. Das Blut verbindet stärker als man denkt, nicht wahr? Manchmal muss man seinen Stolz überwinden und sich so gut verkaufen wie es eben geht. Wer wüsste das besser als der Spross eines alten Kaufmannsgeschlechtes. Ich bin sicher, auf kurz oder lang wird sich zusammenraufen, was zusammengehört. Es beruhigt mich jedenfalls, dich wohlauf zu wissen. Da dein Patruus – wie du schreibst – ebenso bei den Urbaniciani dient wie es dein Vater getan hat, gehe ich davon aus, dass dein künftiger Lebensweg bereits vorgezeichnet ist. Meinen Glückwunsch dazu. Nichts eint so sehr wie eine gemeinsame Tradition.


    Mit regem Interesse habe ich die Andeutungen und Ratschläge bezüglich unserer Ausbildung und der Wahrhaftigkeit des von Agron vermittelten Lehrstoffes studiert. Es nötigt mir höchsten Respekt ab, zu sehen, dass du deinen sicher unzähligen Verpflichtungen noch Raum genug abzuringen vermagst, um die zurückgebliebene Provinzbevölkerung von ihrer Unwissenheit zu kurieren. Hab Dank. Ohne deine erhellenden Worte wäre ich sicher niemals dahinter gekommen, wie ungeschickt mein Vater bei der Auswahl seiner Bediensteten zu agieren pflegt. Selbstredend liegt es mir fern, einen Zusammenhang herzustellen zwischen deiner hochwillkommenen Kritik an der iturischen Personalpolitik und der Weigerung unseres Vilicus, die von den Iunii geforderte Beteiligung an den Kosten für Nahrung und Unterkunft ihres neuen Mitbewohners zu entrichten. Zweifellos hätte Bavius Cratinus dem ehrenwerten Iunius Avianus umgehend die verlangten hundert Denarii aushändigen müssen. Für dieses schändliche Fehlverhalten möchte ich mich hiermit in aller Form entschuldigen. Auch für die völlig närrische Annahme meines offensichtlich unfähigen Vaters, in all den Jahren bereits mehr als genug für dich getan zu haben, kann ich dich nur kniefällig um Verzeihung anflehen.


    Du wirst daher gewiss verstehen – mehr noch, es gutheißen – dass ich mich angesichts all der iturischen Verfehlungen nicht imstande sehe, unsere Korrespondenz aufrecht zu erhalten, als wäre nichts geschehen und als hätten sich die Iturier nie etwas zuschulden kommen lassen. Dafür sitzt die Scham zu tief. Es lässt sich leider nicht ändern, die Iturii sind eben nur eine mäßig kultivierte – wenn auch ausgesprochen erfolgreiche und höchst angesehene – Gens von Geschäftsleuten, keine Soldaten.


    Ich wünsche dir viel Glück unter den Deinen.
    Vale bene.



    Appius Iturius Minor
    Villa Rustica Ituria
    Cales



    ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~


    KAUFT WEINE VON DEN VINEAE ITVRIANI.
    BACCHUS ZUR EHRE. DEM GAUMEN ZUR FEIER.





    Agricola blieb die Spucke weg. Was er da eben hinuntergewürgt hatte, war beileibe kein reifer Pfirsich. Eher ein dampfender Pferdeapfel. Mit Stacheln. Klarer Fall: Irgendjemand hatte Appius in’s Hirn geschissen, und Agricola konnte sich auch schon lebhaft vorstellen, wer.

    Dass sich unter den Anwesenden niemand fand, der etwas zu kommentieren oder gar zu bemängeln hatte, nahm Agricola als positives Zeichen. Im Grunde konnte er so oder so nur das umsetzen, was er von Dicon gehört beziehungsweise bei seinem Onkel Geta gesehen hatte. Dumm nur, dass sich diese beiden Versionen was die Abfolge betraf in einigen Punkten widersprachen. Also blieb die Entscheidung letztlich wieder an ihm hängen.


    Nach einer angemessenen Zeit stiller Andacht, die Agricola dazu nutzte, seine Ahnen – allen voran Iunius Regulus – um Unterstützung zu bitten, bedeckte er das Haupt mit einem langen Leinentuch, küsste sich die rechte Hand und trat noch näher an das Lararium heran. Dort hob er die Hände mit den offenen Handflächen nach oben und räusperte sich verhalten.


    „Ehre sei Euch, oh Lares Familiares, Ich, Caius Iunius Agricola, der ich ein Heim gefunden habe in diesen Euren Mauern, erbitte Euer Wohlwollen für die Bewohner der Domus Iunia. Herrschaft und Dienerschaft. Mann, Frau und Kind. Gewährt ihnen allen Euren Schutz und nehmt zum Dank mein erstes Blutopfer entgegen. Auf dass auch ich Eingang finden möge in den Kreis der Euch Anvertrauten.“


    Anschließend füllte er eine Patera mit verdünntem Wein, goss etwas davon auf den Boden und stellte die Schale vor den Statuetten von Lares, Genius und Penates in den Schrein. Nach der Libation entzündete er ein dünnes Weihrauchstäbchen, fächelte die Flamme aus und legte es in’s Turibilum. Danach wandte er sich schweigend zu Araros um, der ihm das verhüllte Karnickel überreichte. Behutsam setzte er das Bündel auf einem kleinen Tisch ab, schlug die Wolldecke zurück und packte das Tier im Nacken. Die inzwischen getrocknete Kalkfarbe staubte ein wenig, aber auch das nahm Agricola als gutes Omen. Ohnehin hatte er sich vorgenommen, einfach mal alles positiv zu werten, was keinen eklatanten Fehler im rituellen Ablauf darstellte. Nach einem Moment der Sammlung bog er dem Kaninchen mit der linken Hand den Kopf zurück, griff mit der Rechten zum Culter und setzte ihn seitlich an den Hals des Langohrs. Kein hektisches Gesäge – hatte Aesara ihm eingeschärft – sondern ein gezielter Stich, gefolgt von einem erweiternden Schnitt. Nun denn. Alles würde gut gehen. Regulus würde ihm die Hand führen.


    Die scharfe Spitze des Culters bohrte sich in die Halsschlagader. Ein dünner Blutstrahl spritze hervor. Das Kaninchen begann zu zischen wie eine Schlange und schlug panisch mit den Hinterläufen. Agricola verstärkte den Druck der Klinge noch ein wenig, zog dem zuckenden Karnickel mit einem kurzen Ruck die Schneide über die Kehle, legte dann schnell den Culter beiseite und schob eine zweite Patera unter den gurgelnden Schlund des Opfertieres. Es dauerte weit länger als er erwartet hatte, bis sich der Körper des Hasen entspannte und der Blutstrom langsam verebbte. Als endlich nur noch einzelne Tropfen aus dem Kehlschlitz rannen, legte er den Kadaver ab und stellte die blutgefüllte Opferschale vor den Hausaltar. Gut möglich, dass es ihm schwindelte. Vermutlich standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. Wahrscheinlich war ihm auch kotzübel, allein, er bekam nichts davon mit. Tief in seine Verrichtungen versunken nahm er den Culter wieder auf, öffnete dem nun blutleeren Opfertier mit zwei entgegengesetzten Schnitten Bauch und Brustraum, klappte die dampfenden Hautlappen zur Seite, löste vorsichtig Gedärme und Innereien heraus und schlug diese in ein Tuch ein. Als alles getan war, verharrte er noch einmal andächtig vor dem Schrein, küsste sich schließlich erneut die blutige rechte Hand und trat in die Reihe seiner Familie zurück.


    Niemand hätte in diesem Moment erstaunter sein können als Agricola. Bei seinen Übungen in der Culina hatte er jedes Mal eine heillose Sauerei angerichtet. Hier jedoch waren ihm die Bewegungen von der Hand gegangen als habe er sie schon viele Male zuvor ausgeführt. Dieser Umstand erschien ihm das beste Omen von allen zu sein. Seine Ahnen waren ihm tatsächlich beigesprungen. Nun würden vielleicht auch seine nächtlichen Wachträume ein Ende finden.

    Etwas blass um die Nase kam Agricola in’s Atrium marschiert. Auf seinen Armen zuckte ein unförmiges Wollknäuel, das er soeben höchstpersönlich aus dem Hortus geholt und eingewickelt hatte. „Ruhig. Wird alles glatt gehen.“, murmelte er leise auf die gebauschte Wolldecke ein, „Ich bin vorbereitet.“ Das war er in der Tat. Um sich bei seinem ersten selbst durchgeführten Blutopfer keine Blöße zu geben, war er nicht nur Dicon mit unentwegten Fragen nach Form und Ablauf auf die Nerven gefallen, sondern hatte sich auch in der Culina, unter Aesara’s fachkundiger Anleitung, mit dem Messer durch Hühnerhälse, Schweinebäuche und Fischgekröse gearbeitet, bis es ihm hochgekommen war. Der praktische Teil sollte also kein unlösbares Problem mehr darstellen. Aber nicht nur er selbst, auch das auserwählte Opferkarnickel war bestens präpariert. Da die iunischen Hasenställe kein rein weißes Kaninchen hergaben, war seine Wahl auf ein zumindest in der Grundfarbe weißes Tier gefallen, dessen Fell mit einem handgroßen schwarzen Fleck verunziert war. Diesen hatte Agricola, immerhin einer eigenen Eingebung folgend, großzügig mit Kalkfarbe kaschiert, sodass sich die Reinheit des Opfers nun auch optisch manifestierte, zumindest, wenn man nicht allzu genau hinsah. Gründlicher hätte er sich eigentlich nicht vorbereiten können. Nervös war er trotzdem. Und das wurde auch nicht besser, als er beim Betreten des kleinen Nebenraumes in die ernsten Gesichter seiner nächsten Anverwandten blickte.


    Bevor sich seine eigene Unruhe weiter auf das vermummte Karnickel übertragen konnte, überreichte er es dem ebenfalls ziemlich ernst dreinschauenden Araros, straffte entschlossen die Schultern und trat einigermaßen gefasst neben seinen Onkel an den Hausaltar. So weit so gut. Er war bereit. Und nun? Sicher, die Theorie war ihm inzwischen geläufig, erst die Anrufung der Lares, danach das Trankopfer und der entzündete Span in die Weihrauchurne, dann den Hasen wieder entgegen nehmen, ihn entmanteln, ihm das Opfermesser durch die Gurgel ziehen, sein Blut auffangen und im Anschluss die Innereien extrahieren, alles klar soweit. Die Frage war jetzt nur, ob er einfach anfangen sollte. Vielleicht wollte noch jemand etwas sagen. Oder das Ritual im letzten Moment doch lieber selbst vornehmen. Beides wäre ihm alles andere als unrecht gewesen.

    Agricola blickte auf. Sein eben nur noch müde schwelendes Interesse begann wieder etwas zu lodern. Urgroßvater. Ururgroßvater. Die hätte er sehr gerne kennengelernt. Das waren Männer, die wirklich gelebt hatten. Mussten sie ja wohl, sonst säße er nicht hier. Er nicht, Avianus nicht, und auch nicht der kleine Lucius. Seine Vorfahren. Menschen, keine Figuren. Welch ein Jammer, dass er nur ihre Namen kannte, nicht aber die Menschen dahinter. Die Bibliotheka quoll über von Persönlichkeiten, Hunderte und Aberhunderte davon sprangen einem aus den gesammelten Schriften entgegen, nur leider kein einziger Mensch. Man konnte sich über ihre Taten informieren, meist auch über die Gründe für ihre Taten, so gut wie nie aber erfuhr man, wie sie sich bei alldem gefühlt hatten. Dass die Chronisten den Menschen so wenig Raum gegeben hatten, war schon frustrierend genug. Umso mehr erzürnte ihn der Versuch seines Hauslehrers, ihm auch noch diese unvollständigen Informationen teilweise vorzuenthalten. Natürlich war das Avianus ein Rätsel. Es war ihm anfangs selbst ein Rätsel gewesen. Jetzt allerdings nicht mehr.


    „Tja .. das Dunkel der Geschichte.“ Agricola’s hängende Mundwinkel strafften sich zu einem bitterbösen Schmunzeln. „Agron hat uns schon eine ganze Menge erzählt. Von der Ruchlosigkeit der etruskischen Despoten, von ihrem Untergang, dem daraus resultierenden Erstarken der Leges .. blabla .. dem Übergang der Macht aus den Händen eines Einzelnen in die der Volksvertreter, sowas alles .. und natürlich auch von herausragenden Gestalten wie Tarquinius Collatinus, dessen Name für immer untrennbar mit der Errichtung der Republik verbunden bleiben wird, während die Namen anderer historischer Größen wie zum Beispiel der seines Mitconsuls leider im Dunkel der Geschichte verloren gegangen sind. Ist das nicht furchtbar schade? Blöde Sache, so ein Dunkel der Geschichte.“
    Agricola schnaubte. Lucius gähnte. Offenbar fühlte sich der Kleine von den Ausführungen seines Vetters nur mäßig unterhalten, aber darauf konnte dieser im Moment keine Rücksicht nehmen. Was raus musste, musste raus. „Ich könnte diese Natter umbringen. Ehrlich wahr. Obwohl das alles natürlich nicht seine eigene Idee war, sondern auf Onkel Geta’s Mist gewachsen ist. Agron hat nur das verzapft, was mein Onkel ihm vorgegeben hat. Und der ...“ Ein klein wenig Rücksicht nahm Agricola dann schon, als er einen kritischen Blick des unschuldigen Winzlings auffing. Deutlich leiser schimpfte er also weiter: „.. der muss uns Iunii noch viel mehr verabscheuen als ich immer geglaubt hab’. Das kann doch nicht nur an Vaters’ Verhalten liegen. Wenn das alles wäre, hätte es Geta einfach an mir ausgelassen, und gut. Aber meinen beiden Vettern – seinen Söhnen immerhin – wurde ja der gleiche halbwahre Mist erzählt wie mir. Kannst du dir vielleicht erklären, wie man auf sowas kommt? Ich nicht.“ Das freilich entsprach nicht ganz der Wahrheit. Tatsächlich war Agricola bei seinen Grübeleien über Geta’s Motive durchaus auf eine Erklärung gestoßen. Nur behagte sie ihm nicht. Ganz und gar nicht. Die hatte zu viel mit seiner Mutter und damit auch mit ihm zu tun als dass er sich getraut hätte, sie konsequent zu Ende zu denken. Sich zu ereifern war ohne jeden Zweifel einfacher und mit weniger Schrecken verbunden als nachzudenken.


    „So manipuliert man Menschen, die nix dafür können. Stell dir mal vor, du möchtest, dass Lucius in dem Glauben aufwächst, du seist der Augustus ...“ Agricola warf erneut einen kurzen Blick auf den wieder quietschvergnügten Säugling und musste sich eingestehen, dass der Vergleich gewaltig hinkte. So wie Lucius guckte, hielt er seinen Vater noch für weit mehr als den Augustus. „Naja .. oder er selbst sei der Augustus .. wie auch immer .. dann bräuchtest du’s ihm nur ein paar Mal zu sagen und er würde es glauben. Solange er die Domus nicht verlässt und ihm alle das gleiche erzählen, wird er überhaupt nicht auf den Gedanken kommen, das anzuzweifeln, oder? Ich meine .. das würde ganz sicher jahrelang funktionieren. Dafür müsstest du bloß ein miserabler Vater sein oder einfach nur irre.“ Irre. Ein eisiger Schauder lief ihm über den Rücken. Wörter wie dieses hatte er unbedingt vermeiden wollen. Die benutzte er nicht. Niemals. Ebensowenig wie verrückt, wahnsinnig oder geisteskrank. Alles Begriffe, die er aus seinem Vokabular verbannt hatte. Niemand brauchte diese nebligen Unwörter. Sie ängstigten nur und erklärten überhaupt nichts. Er redete zu schnell und dachte zu langsam. Das hatte er nun davon. Während er noch darüber nachsann, wie er dem Gespräch eine andere Wendung geben konnte, ohne übermäßig zerstreut zu wirken, kam ihm der Faden vollends abhanden. Was hatte er eigentlich sagen wollen?


    „Oh je, der Stinker köttelt mir gleich auf die Tunika.“ hörte er sich schließlich murmeln. In der Tat, aus Paullus’ Eingeweiden war ein Gurgeln vernehmbar, das fast so klang wie der mit Erbrochenem verstopfte Abfluss im Balneum. In Zukunft würde der verfressene Rammler keine Kohlstrünke mehr vorgesetzt bekommen, so viel war sicher. Vorsichtig packte er den Hasen am Genick, hielt ihn eine Armweite von sich weg und stand langsam auf. „Das mit dem Hauslehrer ist an sich eine gute Idee, Onkel. Crassus und Marsa werden ohnehin einen benötigen. Mir persönlich reicht es für’s erste, wenn ich hin und wieder bei Dicon nachfragen kann.“ Paullus begann zu zappeln. Nichts wie weg hier. „Wenn ihr uns jetzt bitte entschuldigen würdet .. unaufschiebbare Angelegenheiten harren der Erledigung.“ Gerne hätte er Avianus noch gesagt, dass er nicht nur auf den kleinen guckenden Zwerg sondern auch auf seinen Neffen allzeit würde zählen können, aber das konnte er auch ein andermal nachholen. Oder es einfach ungesagt lassen. „Ich werd’ dann gleich ein passendes Karnickel für das Opfer raussuchen.“, versicherte er seinem Onkel noch über die Schulter und machte sich dann schleunigst auf den Weg zu den Verschlägen. „Einen schönen Tag euch beiden.“

    Agricola nickte. Warum er das tat, wusste er allerdings selbst nicht so genau. Ebensogut hätte er den Kopf schütteln oder mit den Achseln zucken können. Überhaupt wusste er in letzter Zeit oft nicht, warum er dieses oder jenes tat. Manchmal machten ihn die selben Dinge stinksauer, die ihn wenige Augenblicke zuvor erfreut hatten. Oder er verlor schlagartig das Interesse an Tätigkeiten, denen er eben noch mit glühendem Eifer nachgegangen war. Zeitweise schlug seine Laune so jäh in’s Gegenteil um, dass er das Gefühl hatte, vor eine unsichtbare Wand gelaufen zu sein. Dann gab es wieder Momente, in denen er alles gleichzeitig war, wütend, traurig, euphorisch, deprimiert, voll Tatendrang und zu Tode gelangweilt. Und aus solchen Gemütswirbeln heraus stellte er dann auch hin und wieder Fragen, die er um’s Verrecken nicht beantwortet haben wollte.


    Sicher war es ihm einerseits wichtig, dass Lucius schon frühzeitig erfuhr, wer er war und wohin er gehörte, andererseits schmerzte es ihn, sich auszumalen, wie Avianus seinem Söhnchen in trauter Zweisamkeit Geschichten erzählte, die man ihm selbst immer vorenthalten hatte. Es war zum Heulen. Der kleine Fratz trug an alldem natürlich nicht die geringste Schuld. Aber auf irgend jemanden musste er es ja schieben, sonst hätte er sich am Ende noch eingestehen müssen, dass es keinen noch lebenden Menschen gab, der ihn mehr ankotzte als Caius Iunius Agricola. Er träumte zu viel, verschwendete zu viel Zeit mit müßigen Gedankenspielen. Avianus war nunmal nicht sein Vater. War es nie gewesen und würde es nie sein. Fertig. Eigentlich gar nicht so schwer zu kapieren, sollte man meinen.


    „Das ist gut.“ hörte er sich sagen. „Man kann gar nicht früh genug lernen, wer man ist, oder? Um zu lernen, wer man nicht ist, hat man ja noch das ganze Leben Zeit.“ Mehr mochte er zu diesem Thema nicht mehr sagen. Bitter genug, dass er es angeschnitten hatte. Dankbar für den willkommenen Schwenk griff er Avianus’ Frage auf.
    „Oh ja, die Bibliotheca. Aber sicher. Da verbringe ich täglich mehrere Stunden. Ich bin auch schon dahinter gekommen, wo ich was finden kann. Historische Werke, Enzyklopädien, Abhandlungen, Lyrik und sowas alles. Aber da gibt es noch so viel nachzuschlagen, zu vergleichen und zu notieren, dass ich manchmal echt nicht weiß, wie ein einzelner Mensch das alles in den Schädel bekommen soll.“ Agricola kratze sich nachdenklich am Kopf. Vielleicht gab es was das Fassungsvermögen betraf einfach größere und kleinere Schädel. Welcher Art war dann seiner?


    „Naja, immerhin scheint zumindest eine ganze Menge von dem, was mir dieser hinterlistige Agron erzählt hat, tatsächlich zu stimmen. Jedenfalls soweit ich das im Moment beurteilen kann. Besonders weit bin ich noch nicht gekommen. Wie du dir denken kannst, bin ich auch schon auf Iunii gestoßen, einen Praetor, einen Censor, einen Tribunus Plebis und gleich mehrere Consules. Bis jetzt. Sag mal, Onkel Avianus .. wusstest du, dass es ein Lucius Iunius Brutus war, der den etruskischen König vertrieben und die Republik mit aufgebaut hat?“ Und plötzlich war sie wieder da, die Begeisterung über jene umwerfende Entdeckung. So war das mit diesen von den Göttern verdammten Stimmungsschwankungen, sie machten einen nicht nur unausstehlich sondern auch blöd. „Dämliche Frage .. klar wusstet du das. Das weiß hier sicher jeder.“ Kaum aufgelodert, war der Enthusiasmus auch schon wieder verbraucht.


    Agricola glotzte griesgrämig auf Paullus hinunter, in dem die dargebrachten Kohlstrünke rumorten. Besser, er stopfte ihn wieder zurück in den Stall, bevor es hier zu atemberaubenden Zwischenfällen kam. „Ich fürchte, das Vieh hat Blähungen.“

    Was? Wieso er? Agricola war perplex. Dass er das Opfer durchführen sollte, hatte ihm niemand gesagt. Er war ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass Avianus das machen würde. Neben Axilla war er im Moment nun mal das älteste greifbare Familienmitglied. In Cales war Iturius Geta für die Durchführung der Hausopfer zuständig gewesen. Nur ein einziges Mal, zwei Monate vor Agricolas’ Weggang, hatte Appius Minor diese Aufgabe übernommen, und sich dabei alles andere als geschickt angestellt. Agricola wusste wirklich nicht, was er davon halten sollte, schon wieder ein Tier töten zu müssen. Natürlich war ein Opferritual etwas völlig anderes, als einem kranken Zicklein aus Mitleid das Genick zu brechen, schon klar, etwas suspekt erschien es ihm trotzdem. Andererseits stellte es zweifellos eine Ehre dar, mit dieser Handlung betraut zu werden, zudem ehrte er damit seine eigenen Ahnen. Nur wäre es ihm ganz recht gewesen, beizeiten über seine Rolle informiert zu werden. Nun gut, informiert war er ja jetzt. Schön.


    Wieder fiel sein Blick auf den winzigen Lucius und wieder regte ihn das auf. Dieser Runzelwurm machte so gut wie gar nichts, und dennoch schaffte er es mühelos, die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zu ziehen. Sogar Paullus schlug ein Auge auf und glotze müde auf das brabbelnde Bündel hinüber. Hatte Avianus nicht gerade gesagt, er könne sich das Opfertier selbst aussuchen? Doch, laut und deutlich. Und hatte Agricola nicht erst kürzlich gelesen, dass es bei den Barbaren Iudaea’s mitunter recht pragmatische Opfersitten gab? Insgeheim selbst amüsiert über den Schwachsinn, den er sich da eben zusammengesponnen hatte, blinzelte er Lucius verstohlen zu. Der guckte. Was sonst. Erst als der stolze Papa ihm seinen Vetter offiziell vorgestellt hatte, ließ sich der Kleine zu einem Kommentar herab. Agricola lauschte und nickte.
    Aha. Chrrrr. Du hast leicht reden, du Wurst. Du könntest ausschauen wie ein Hängebauchschwein und stinken wie zwei, deine Eltern würden dich deswegen nicht weniger vergöttern, ist dir das eigentlich klar? Danach zu urteilen, wie Lucius guckte, war es ihm glasklar.


    Während Agricola so dasaß und mit dem Säugling um die Wette guckte, wären ihm Avianus’ Fragen fast entgangen. Ob sonst alles in Ordnung war? Den Teil konnte er ignorieren. Wen interessierte das schon.
    „Entschuldige Onkel .. ich war in Gedanken. Nein, er weckt mich eigentlich nicht. Manchmal hör ich ihn zwar, aber das macht nichts.“ Üblicherweise verbrachte er die späten Abende im Zwiegespräch mit seiner Mutter und danach war er ohnehin so müde, dass ihn nichts mehr interessierte, geschweige denn störte. Aber selbst, wenn Lucius ihn allnächtlich mehrfach wecken würde, wäre Avianus wohl kaum bereit, den Störenfried außer Haus zu schaffen. Nein, Lucius’ Geschrei war bestimmt nicht das Problem.


    „Hast du deinem Ein und Alles denn schon die Geschichte seiner Ahnen erzählt?“ Es sollte scherzhaft klingen, tat es aber nicht. „Die deines Vaters mein ich .. und deines Großvaters .. du weißt schon.“ Der kleine Lucius sollte sich später nicht mit Zweifeln, Mutmaßungen und Vorurteilen herumquälen müssen. „Naja .. wenn du das mal vorhast .. und ich gerade in der Nähe bin .. kann ich ja zuhören.“

    Wie überaus gütig, dachte sich Agricola und setzte sich mit sauertöpfischer Miene neben seinen Onkel auf die bequeme Steinbank. Dabei fiel sein Blick unweigerlich auf das zarte pausbäckige Gesichtchen seines Vetters, der einfach nur guckte. Lieber wäre es ihm gewesen, der Winzling hätte ihn angeplärrt. Tat Lucius aber nicht. Er guckte. Und das war ausgesprochen perfide von ihm. Wenn er guckte, konnte man ihm schwerlich etwas übel nehmen, und seit man ihn aus der Wiege nehmen und umhertragen konnte, guckte er praktisch ununterbrochen. Wenn er nicht schlief. In der ersten Zeit nach seiner Ankunft hatte Agricola den Kleinen gar nicht groß wahrgenommen. Da war er noch ausschließlich im elterlichen Cubiculum umhegt worden und hatte lediglich durch regelmäßig auftretende Schreikrämpfe auf sich aufmerksam gemacht. Vorzugsweise nachts. Das Geschrei konnte man Lucius nun wirklich nicht zum Vorwurf machen, und es hatte Agricola auch nie gestört. Bestimmt war Avianus schon von Anfang an hinzugeeilt, wenn Lucius ein Flatus durch die Gedärme geisterte, aber davon hatte dessen neu eingetroffener Vetter den Göttern sei Dank nichts mitbekommen.


    Seit ein paar Tagen allerdings konnte man den Kleinen nicht mehr ignorieren. Ihn nicht und schon gar nicht seinen augenscheinlich völlig hingerissenen Erzeuger, der seine ohnedies schon knapp bemessene freie Zeit nun weitestgehend damit verbrachte, den guckenden Stammhalter anzuhimmeln. Und wo blieb er? Agricola? Nicht, dass ihm auch nur das Geringste daran lag, angehimmelt zu werden. Die Hauskarnickel himmelten ihn bereits an, das reichte. Trotzdem passte ihm das alles ganz und gar nicht. War er vielleicht doch nur ein Niemand? Dass Avianus sich wunderte, ihn in Begleitung eines Kaninchens anzutreffen, war symptomatisch. Wahrscheinlich war ihm vor lauter Wonne schon wieder entfallen, mit welchen Aufgaben er seinen Neffen betraut hatte. Kinder, Köter und Karnickel. Agricola’s Kernkompetenzen.


    Paullus begann leise zu schnarchen, Agricola grübelte und Lucius guckte. Was der Zwerg wohl sah, wenn er so guckte? Himmel, Sträucher und Gesichter oder nur einen Rausch ständig wechselnder Farben und Formen? Erkannte er in Avianus seinen Vater oder war der für ihn nur ein dunkles freundliches Brummen? Was, wenn ihn der Vater in ein paar Monaten für immer verlassen würde? Würde er sich an das freundliche Brummen erinnern? Nein. Das würde er nicht. Über solcherlei Fragen nachzusinnen machte Agricola traurig.
    „Ja .. richtig .. das Opfer ..“, kommentierte er zerstreut die nur halb wahrgenommene Bemerkung seines Onkels. Immerhin, das Hausopfer hatte Avianus noch nicht vergessen. Erst als der wohlgenährte Paullus auf seinem Schoß langsam schwer wurde, sickerte ihm der genaue Wortlaut in den Sinn. Moment mal!
    „Aber doch nicht Paullus, Onkel!“, fuhr er erschrocken hoch. „Das ist unser bester Rammler! Außerdem ist er das einzige unserer Karnickel, das einen Namen hat. Gut, bis auf Drusus, aber der ist zu blöd, um zu kapieren, dass er damit gemeint ist. Ich meine .. Onkel Avianus .. ernsthaft, man opfert doch nichts, was einen Namen hat, oder? Wir haben doch so viele Weibchen. Du wirst die Zeremonie doch sicher auch mit einem von denen durchführen können, nicht wahr?“

    „Hört ihr das?“ Genervt klappte Agricola seinen Codex zu. So hatte er sich seine stille Hora in der Frühjahrssonne nicht vorgestellt. „Hört ihr dieses Gebrabbel?“ Die Frage war natürlich rein rhetorischer Natur. Mit Sicherheit hörten die Kaninchen dasselbe wie er, wozu hatten sie sonst ihre langen Löffel, bloß kümmerte es sie nicht. Denen ging es nur darum, Aesaras’ Küchenabfälle zu vertilgen, die er ihnen mitgebracht hatte. „Baum.“, versuchte es Agricola langsam und eindrücklich bei Paullus, den er von allen iunischen Stallhasen noch für den intelligentesten hielt. „Sag mal Baum.“ Paullus mümmelte zwar eifrig, sagte aber nichts. Natürlich nicht, er war ja auch kein Mensch. Der sabbernde kleine Lucius dagegen war offensichtlich einer, bekam es aber dennoch nicht fertig, Baum zu sagen. Trotzdem machten alle ein Aufhebens von dem runzeligen Kloß, als hätte ihn Iuno persönlich über der Domus fallen gelassen. Götter, mit dem war weniger anzufangen als mit einem ordinären Karnickel.


    So leise wie möglich, um nur ja nicht entdeckt zu werden, löste sich Agricola von der Wand mit den Kaninchenställen, robbte hinter den Fliederbüschen entlang und spähte schließlich durch eine Lücke auf den fein gekieselten Weg hinaus. Genau so hatte er sich das vorgestellt. Da saß sein Onkel, immerhin ein Kerl von rund dreissig Jahren und schneidiger Tribunus der städtischen Kohorten, mit seinem quietschenden Päckchen auf einer der Bänke, vornübergebeugt wie eine alte Amme und einen Ausdruck im Gesicht, als hätte man ihm gerade einen entkrampfenden Einlauf verpasst. Nicht zu fassen. Alles nur wegen dieses käsigen Pfropfens, der für Agricola eher aussah wie etwas, das man erst einmal aufbacken musste, um herauszufinden, was es darstellt, ähnlich den wabbeligen Teigbatzen, aus denen Aesara ihr Crustulum herstellte. Albern war das alles. In höchstem Maße albern!


    Je länger er allerdings im noch blütenlosen Fliedergesträuch kniete, desto klarer wurde ihm, dass das, was er da gerade trieb ebenfalls hochgradig albern war. Zerknirscht krabbelte er zu den geöffneten Verhauen zurück, schnappte nach kurzem Nachdenken Paullus am Genick, und packte ihn sich vor die Brust. Wenigstens einer in der Familie sollte bei klarem Verstand bleiben. Aber das musste ja nicht unbedingt er sein. Mit dem vollgefressenen Paullus auf den Armen schritt Agricola aus seiner Deckung auf den Weg hinaus und schlenderte mit bemüht entseeltem Gesichtsausdruck auf Onkel und Vetterchen zu. Vielleicht würde Avianus ja selbst auffallen, wie peinlich sowas aussah.
    „Sieh da, Onkel Avianus und der kleine Lucius. Wie nett. Dürfen wir uns ein Weilchen zu euch gesellen?“ Meiner hat schon aufgestoßen, deiner auch?, wollte er noch anfügen, entschloss sich dann aber doch dazu, den Bogen nicht zu überspannen.

    Nachdem Agricola dem lärmenden Pulk entronnen war, ging er sofort daran, in der strömenden Menge nach Base und Vetter zu tauchen. Zunächst ohne Erfolg. Bei den Pferden, wo er Crassus eigentlich vermutet hatte, wurde er nicht fündig, ebenso wenig bei den Hühnern, Schweinen oder Karnickeln. Bei den Ziegen brauchte er natürlich gar nicht erst nachzuschauen, da flogen gerade die Fetzen. Ansätze einer leichten Panik begannen ihm die Eingeweide zu massieren. Um Marsa machte er sich keine allzu großen Sorgen, die hatte sich bestimmt an Aesara gehängt, aber Crassus war schon hinter den beiden zurückgeblieben, bevor Agricola sich zu den meckernden Ziegen davongemacht hatte. Das war unverzeihlich. Was hatte er da bloß angerichtet.


    „Crassus?“, krähte er mit brüchiger Stimme über die Köpfe der Passanten. „HE! CRASSUS!“ Nichts. Er hüpfte herum, um besser sehen zu können, kauerte sich auf den Boden, um in einem Wald aus Beinen nach seinem verlorenen Vetter zu fahnden, fand ihn aber nicht. Erst als er der Verzweiflung nahe an den Häuserfronten empor starrte, fiel sein Blick auf einen kleinen schwarzhaarigen Burschen, der flink wie ein Iltis auf einem kahlen Vordachgestänge herumkletterte. Allerhand Verwünschungen ausstoßend wühlte sich Agricola zu der umwachsenen Hausfassade hinüber und zeterte in einer Mischung aus Vorwurf und Erleichterung zu seinem Vetter hinauf. „Verflucht, Crassus! Was machst du denn da?“


    Um wirklich zu beeindrucken hätte das natürlich weit autoritärer klingen müssen, das war ihm schon klar, aber erstens musste er an seiner Rolle des gestrengen Aufpassers noch feilen und zweitens war es von Crassus gar nicht so unklug gewesen, sich von dort oben einen Überblick zu verschaffen. „Kleiner Schlaukopf, was?“, griente er schon deutlich entspannter, und schickte sich an, ebenfalls das Vordach zu erklimmen. „Mal sehen, ob das zwei von unserer Sorte aushält.“


    *****



    [Blockierte Grafik: http://oi65.tinypic.com/juydrq.jpg] | Aesara


    Beeren? Feigen? Aesara hörte Marsa’s Geplapper nur mit verminderter Aufmerksamkeit zu. Diese eigensinnigen iunischen Bengel! Verschwunden. Weg. Wie vom Erdboden verschluckt. Alle beide. Der eine noch ein Kind, der andere ein linkischer Kindskopf. Sie hatte es fast schon geahnt. In den mehr als zehn Jahren, die sie den Iunii nun schon diente, hatte sie sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Und nun das. Kuchen hatte sie besorgen wollen, getrocknete Äpfel, Gemüse, zwei Barsche, sonst nichts. Ein ganz normaler Marktgang. Aber man hatte ihr ja diese neu eingetroffenen Plagen anhängen müssen, die sie noch nicht einmal zurechtweisen, schon gar nicht züchtigen durfte. Sie sah es schon kommen, das würde noch ein langer Tag werden.


    „Meinst du diese hier?“, fragte sie zerstreut bei dem quasselnden Mädchen nach. „Das sind Beeren vom Iuniperus. Sehen lecker aus, schmecken aber nicht gut. Die kann man zum Würzen nehmen oder als Medizin für Verdauungsprobleme und solche Sachen.“ Wo waren diese Kröten bloß? „Ähm .. ja .. Honigfeigen haben die hier sicher auch .. sollen wir mal nachsehen?“ Nachsehen war überhaupt das Gebot der Stunde.

    Neben der mit Blutfäden durchzogenen Urinlache, die unter der erschlafften Ziege hervorquoll, gruben sich zwei ausgelatschte Opanken in den Gassendreck. „Sowas ist bei mir nicht üblich, Freundchen.“, knurrte Polygnotus zu Agricola hinunter. „Unter diesen Umständen muss ich auf den vollen fünfzehn Dinarii bestehen.“ Die Umstehenden schienen langsam das Interesse zu verlieren, jedenfalls fühlte sich niemand in der Menge bemüßigt, das energische Auftreten des Viehhändlers mit Applaus oder sonstigen Beifallsäußerungen zu würdigen. Ohne Polygnotus eines Blickes zu würdigen, löste Agricola seinen Beutel von der Hüfte und entleerte dessen Inhalt über dem graugescheckten Kadaver. „Um die acht Denarii in Sesterzen. Nimm es oder lass es.“ Auch das rief keine vernehmbaren Reaktionen bei den schadenfrohen Marktbesuchern hervor. Es gab hier ja auch nichts Spektakuläres mehr zu sehen oder zu hören. Allein Ware war beschädigt worden. Sonst nichts. Leider. Nachdem er sich die Knie abgeklopft und den Mantel in Form gezogen hatte, stand Agricola langsam auf und deutete auf die lange Treiberrute, die der Händler inzwischen an sich genommen hatte. „Wer damit was ausrichten will muss geschickt sein, nicht kräftig.“ Und es brauchte Platz, um das Ding richtig einzusetzen, aber die Erfahrung sollte der Fettsack ruhig selber machen.


    „Fünfzehn Dinarii.“, wiederholte Polygnotus drohend, „Oder es setzt was.“ Agricola’s Blick wanderte traurig über die restlichen Ziegen. Für die konnte er nichts tun. Selbst wenn er es geschafft hätte, das Gatter zu öffnen und lange genug offen zu halten, um einem Teil von ihnen die Flucht zu ermöglichen, was hätte es geholfen? Die Tiere wären nicht weiter gekommen als bis vor die Beine der Umstehenden. Das waren keine Ziegen vom Schlage einer Fundula. Die waren zu krank und zu dumm, um durch die Menge entwischen zu können.
    „Fünfzehn!“ Polygnotus’ Geduld schien zur Neige zu gehen. „Ich kann auch die Urbaner rufen, wenn dir das lieber ist!“ Bloß nicht. Das war Agricola ganz gewiss nicht lieber. Sein Onkel Avianus würde schäumen vor Freude. Nein, keine Urbaner. Auf keinen Fall. Um sich ernsthaften Ärger zu ersparen, blieben nur zwei Möglichkeiten: Entweder, sich mit dem stinkwütenden Schwartenbeutel irgendwie in’s Einvernehmen setzten oder sich schleunigst aus dem Staub machen. Fragte sich allerdings, ob das wachsende Desinteresse des eng stehenden Publikums schon weit genug gediehen war, um ihn ohne Weiteres entkommen zu lassen. Besser, er versuchte sich zunächst an der gütlichen Lösung.


    „Was willst du denn, Mann? Da liegen acht Denarii und eine Ziege. Lass ich dir alles da.“ Das entsprach offenbar nicht Polygnotus’ Vorstellungen von einem lohnenden Geschäft. „Guter Witz! Das Vieh ist tot! Das kann man nicht mehr opfern!“ Da war schon was dran. Als Opfer kam das arme Tier nun nicht mehr in Frage. So viel zu Variante Eins. Agricola musste hier weg. „Gut. Opfern nicht ..“, versuchte er es ein letztes Mal, in der Hoffnung, der Viehhändler möge selbstgefällig genug sein, sich provozieren zu lassen. „.. aber braten! Du kannst sie doch als leckeren Braten verkaufen. Ist ja noch warm. Da wären bestimmt weit mehr drin als die restlichen sieben Denarii. Ich hab’ dich beschenkt!“
    Polygnotus’ beißendes Hohngelächter war schonmal ein gutes Zeichen. „Braten? Das brandige Vieh? Für sieben Dinarii?“ Agricola begann zu strahlen. Der Fettwanst war sogar noch eine Spur selbstgefälliger als erhofft. Das Gelächter des Händlers verstummte zwar abrupt, aber die Erkenntnis, sich soeben selbst an’s Bein gepinkelt zu haben, machte das Gesagte nicht mehr ungesagt. „Da hört ihr es!“, quäkte Agricola in beinahe aufrichtiger Entrüstung auf zwei korpulente Weiber ein, denen er die Anlagen zu körperlicher Gewalt durchaus zutraute. „Dieser Scelestus will euch guten Leuten Opfertiere andrehen, die er selbst noch nicht mal fressen würde! Fünfzehn Dinarii will er haben! Für ein brandiges Vieh, das nach seinen eigenen Worten keine sieben wert ist!“ Eine der gedunsenen Damen schüttelte missbilligend den Kopf, die andere ließ zustimmend ihr Doppelkinn schlackern. „Das ist nicht in Ordnung.“


    Agricola triumphierte. Polygnotus indes kochte. Mit erhobener Rute zwängte er sich in die Menge. "MACH BLOSS, DASS DU WEGKOMMST, DU DRECKIGE KLEINE RATTE! ODER, BEI ARES, ICH VERGESSE MICH!" Oh ja, Agricola würde machen, dass er hier wegkam, aber noch nicht. Jetzt noch nicht. „Wollt ihr gläubigen Bürger die Götter mit fauligen Opfern erzürnen? Nur um einem geldgierigen Drecksack den Beutel zu füllen?“ Das müsste reichen, befand Agricola zum Sprung bereit. Und in der Tat, es reichte. Schon beim Ausholen erwischte Polygnotus zwei Schaulustige an den Schädeln, und als die Treiberrute schließlich auf das Haupt des geschäftsschädigenden Iuniers hinab schnellte, war dieser bereits zur Seite gesprungen. Mit sattem Schnalzen grub sich das biegsame dünne Holz in die feisten Backen einer der ohnehin schon empörten Speckwachteln. Was nun folgte, ging sehr lautstark vonstatten und nahm einen ausgesprochen unschönen Verlauf für den Viehhändler. Agricola konnte kein Mitleid aufbringen, er hatte den eitlen Idioten ja gewarnt. Zudem ging ihm bereits Wichtigeres durch den Kopf. Er musste sich schnellstens auf die Suche nach den Zwillingen machen. Immerhin trug er einen Teil der Verantwortung, da durfte er sich nicht ablenken lassen.

    Während Agricola noch verbissen darum rang, Haltung zu bewahren, kippte schon die Stimmung. Wem nun die ungeteilte Häme der Umstehenden zuteil wurde, lag klar auf der Hand. Der fette Händler bekam Oberwasser und nutzte die Erheiterung der Kundschaft sogleich für weitere Sticheleien. „Aaaah, jetzt versteh ich. Natürlich. So ein enger kleiner Ziegenarsch kann einem schwellenden Jüngling schon mal den Verstand rauben. Dafür haben wir doch vollstes Verständnis, nicht wahr?“ Zustimmendes Hohngelächter aus der Menge. „Oder ist es am Ende mehr als nur der Arsch? Haben wir hier womöglich einen versierten Spezialisten vor uns? Gar einen aufrichtig entflammten Liebhaber?“ Boshaftes Lachen. Verächtliches Raunen. Agricola ertrug es schweigend. Sollte er sich jetzt gedemütigt fühlen? Erniedrigt? In seiner Ehre verletzt? Irgendwas in der Art? Konnte ein solches Pack ihn überhaupt demütigen? Gewiss nicht, es sei denn, er ließe es zu.


    Vom Zuspruch seines Publikums sichtlich berauscht, schöpfte der Händler geräuschvoll Atem für seine nächste Deklamation. „Nun, freilich .. das erklärt so einiges. Hach ja .. wer kennt sie nicht, die Torheit der Liebenden. Amantes amentes, hab ich recht?“ Lachen. Raunen. Anzügliches Stöhnen. Agricola ließ es über sich ergehen. Man müsste sie alle töten, fand er. Alle hier Versammelten. Mensch und Tier. Die Ziegen aus Gnade, die Spötter aus gerechter Vergeltung und den Händler aus reinem Vergnügen. „Nun, da bist du mit deinen bizarren Neigungen ja genau an den Richtigen geraten, du kleiner Geißenwämser. Für Genießer wie dich spiele ich auch gerne die Lena. Schauen wir doch mal, was der gute alte Polygnotus für dich tun kann.“ Mit theatralischer Geste wies der ölige Drecksack auf sein Warenangebot. „Gleich hier vorn hätten wir zum Beispiel diese anmutige Kleine mit dem verführerischen Augenaufschlag. Ich will sie dir zu Ehren Aphrodite nennen. Noch unschuldig, möchte ich meinen, dennoch voll schlummernder Hingabe. Außerdem pflegt sie auf dem Rücken zu schlafen, was dir gewiss sehr entgegenkommt.“


    Der launige kleine Vortrag des Viehhändlers wurde mit aufbrandendem Applaus gewürdigt. Agricola nahm es kaum wahr. Mit kaltem Blick betrachtete er das verhöhnte Tier. Dass die kleine Ziege sich auf den Rücken legte, entsprach vermutlich der Wahrheit. Ihr Blähbauch war kaum zu übersehen. Falsches Futter. Fauliges Heu möglicherweise oder altes Brot, was auch immer.
    „Oder die temperamentvolle Braune dort drüben!“, fuhr Polygnotus gestenreich fort, „Ein Vulkan der Leidenschaft. Eine glutäugige Venus mit Hufen, die jede ihrer noch verbleibenden Stunden allein der Wollust ihres Geliebten widmen wird. Amori finem tempus, non animus facit, Ist es nicht so?“ Wieder wurde geklatscht, diesmal allerdings nur noch vereinzelt und deutlich verhaltener. Dem Händler fiel es nicht auf, der suhlte sich geradezu in seiner abgeschmackten Eloquenz. „Ob fett oder mager, wir haben’s auf Lager. Nun, Kleiner? Interessiert?“


    „Die Graugescheckte.“ nickte Agricola knapp. Polygnotos’ Grinsen flackerte einen Moment, um anschließend noch breiter zu werden als es ohnehin schon war. „Na bitte! Dacht ich mir’s doch!“ feixte er volltönend, öffnete dann das Gatter, schnappte sich die grauweiße Ziege und setzte sie schwungvoll vor dem Iunier ab. „Wahrlich eine gute Wahl, mein triebhafter junger Freund. Die kann’s offenbar kaum erwarten. Hörst du das kleine Luder stöhnen?“ Agricola nickte erneut. In der Tat. Er hätte taub sein müssen, um das mühevolle Keuchen der fiebernden Ziege zu überhören. Und er hätte tot sein müssen, um den ekelhaften Gestank nicht zu bemerken, der von ihrem linken Vorderbein aufstieg. Langsam, um sie nicht zu erschrecken, ging er in die Hocke und begann ihr behutsam das Kinn zu kraulen. Polygnotos sagte irgendwas. Jemand klatsche, jemand lachte, jemand pfiff auf den Fingern. Agricola ging das alles nichts an. „Na, du armes Ding?“, redete er leise auf das zitternde Tier ein, „Schon gut. Ich weiß. Tut weh, hm? Kann ich mir vorstellen.“ Beruhigt von den sanften Worten kauerte sich die Ziege umständlich auf den Boden nieder. Agricola redete weiter, ließ seine Finger streichelnd am Kinn entlang zum Hals gleiten, drückte der Ziege dann sein Knie in den Nacken und riss ihr schließlich mit einem krachenden Ruck den Kopf nach hinten. Niemand klatschte.