Kira aus Thyrus machte zunächst keine Anstalten zu verschwinden, glotze vielmehr auf Agricola hinab, als habe der einen kolossal witzigen Scherz gemacht, dessen Sinn sich ihr noch nicht recht erschloss. Es war interessant, zu beobachten, welche Vielfalt an Gemütsregungen in kürzester Zeit an ihrer Mimik zerrte. Erst gespielte Überraschung, dann echte Verblüffung, dann Erkenntnis, gefolgt von Zorn, Abscheu und Hass. In nur wenigen Augenblicken hatte sich das ebenmäßige dunkle Antlitz in eine zerfurchte Fratze verwandelt.
Mit einer Stimme, die nun gar nichts Verheißungsvolles mehr hatte, begann sie heiser herumzukrähen.
"lotiolentus! Cacator! Prodigium!"
Dabei präsentierte sie dem Iunier ihren zwischen die Finger geklemmten Daumen.
"Pathicus! Cinaedus! Spado!"
Agricola ließ sie toben. So lange sich keiner der anderen Gäste einmischte, und danach sah es nicht aus, hatte er mit dieser Coa kein Problem. Er wollte seine Ruhe haben, sonst nichts. Irgendwann würde der Schlampe die Puste ausgehen, und wenn sie erst realisiert hatte, dass es hier nichts für sie zu holen gab, würde er sich wieder in Ruhe mit seinen noch nicht sonderlich weit gediehenen Zukunftsplänen befassen können.
So kam es denn auch. Nach einem guten Dutzend weiterer Schmähungen hatte sich der Wortschatz der rasant gealterten Schönheit offenbar erschöpft und sie trat schließlich schnaufend den Rückzug an. Allerdings nicht, ohne Agricola zuvor noch ihr Hinterteil entgegen zu recken und eine gedehnten Flatus zurückzulassen. Ihr Hintern, das musste er zugeben, konnte sich wirklich sehen lassen. Wenngleich er natürlich nur eine weiche Ahnung von Wonne war, verglichen mit dem göttlich straffen Gesäß der iunischen Coqua Aesara, das auch in Misenum regelmäßig durch seine Träume gegeistert war. Agricola seufzte tief und guckte dann versonnen in seinen Becher. Mit der Erinnerung an Aesara waren seine Gedanken wieder dort angekommen, wohin er sich selbst noch zu begeben hatte. Die Domus der Iunii auf dem Quirinal.
Fast vier Jahre waren vergangen, seit er die Domus Iunia verlassen hatte, um sich mit den diversen Betrieben und Gütern seiner Gens vertraut zu machen. Jahre, in denen viel passiert- und in denen er ein anderer geworden war. Vor allem die Zeit in Misenum, bei seiner Großmutter Helia, hatte ihn verändert. Dort hatte er die Toga Virilis angelegt, sich versuchsweise den ersten Bart stehen lassen, erstmals ungehemmt seinen Begierden gefrönt und, wie ihm anfangs schien, einen wahren Freund gefunden. Der alte Sparsus hatte ihm Lektionen im Umgang mit dem Gladius erteilt und ihn Tag für Tag körperlich herausgefordert. Alles hätte gerne so bleiben dürfen, wie es war. Doch aus der Mündigkeit erwuchsen ihm Verpflichtungen. Niemand musste ihn darauf hinweisen, niemand ihn daran erinnern. Er fühlte es. Täglich deutlicher. Nicht nur seiner Gens war er verpflichtet sondern darüber hinaus auch Kaiser und Reich und ebenso sich selbst. Bücher zu prüfen, Berichte zu verfassen und Bibliotheken zu aktualisieren war keine Lebensaufgabe und Müßiggang keine Option.
In den vergangenen drei Tagen hatte er versucht, Zeit zu gewinnen, das Gefühl der wachsenden Verantwortung mit Wein zu betäuben. Vergeblich, wie er nun einsah. Zeit konnte man nicht gewinnen, nur verlieren. Er war Iuno zutiefst dankbar dafür, dass sie seiner Lethargie Einhalt geboten hatte. Ein Zeichen hatte er gebraucht und bekommen. Was er jetzt brauchte, war Salbe.