Tiberios wurde am heutigen Tag neunzehn oder zwanzig Jahre alt, so genau wusste er es nicht, weil man seine Jahre nach dem aegyptischen Kalender gezählt hatte, und trat damit in das letzte Jahr eines ephebos, eines Jünglings ein. So viel er wusste, war sogar einst ein Horoskop für ihn gestellt worden, aber wie alles, was seine Jugend betraf, war es in Alexandria geblieben. Fast waren zwei Jahre seit seiner Ankunft in Roma vergangen, aber erst am heutigen Tag nahm er es auf sich, Fortuna, die zweifellos seine Wege behütet hatte, ein Opfer zu bringen.
Da Tiberios keine römische Bürgerkleidung anlegen durfte, kleidete er sich mit einem Chiton und legte seine Bronzetafel ab. Auf dem Kopf trug er nach griechischer Sitte einen Kranz aus Olivenblättern. Bei sich hatte er einen polos, einen Opferkorb, der mit einem sauberen Tuch, einem Stück Weihrauch, Trauben, einem Krug Milch und Veilchen, deren Blau der Tyche zugeordnet wurde, bestückt war.
Tiberios wußte, dass er niemals an einem Staatsopfer teilnehmen oder ein großes Tieropfer bringen durfte, doch wie ein bescheidener Privatmann ein unblutiges Opfer zu bringen, um Tyche zu danken, darin konnte er keinen Frevel sehen.
Der junge Alexandriner suchte den Tempel der Fortuna auf, so hieß Tyche in Roma.
Vor dem Tempel zog er seine Sandalen aus und wusch sich die Hände, aber er trug keine Toga, mit der er sein Haupt bedecken konnte.
Tiberios war sich nicht sicher, ob er zuerst den italischen Gott Ianus anrufen sollte, wie es die Römer taten, doch da er auf italischem Boden stand, entschied er sich dafür:
Vor dem Bild der Fortuna Omnia streute er sein Bröckchen Weihrauch in das Kohlebecken , hob beide Arme und sprach:
„Pater Ianus, ich flehe dich an, mir die Tür zu öffnen. Ich bin gekommen, der großen Fortuna zu opfern.“
Er ging rechts ab und legte dann das Tuch auf den Altar, darauf die Trauben und die Veilchen, und dazu stellte er den kleinen tönernen Krug mit Milch, den er geöffnet hatte.
Wieder hob er beide Hände und betete mit gedämpfter Stimme:
„O größte Tyche, komm Fortuna mit starkem gnädigen Geist und reicher Fülle, zu meinem Gebet geneigt. Ich bringe dir meine bescheidenen Gaben, um dich zu ehren. Weise hast du mich in meiner neuen Heimat geleitet und mir beigestanden.
Diejenigen, die mir Böses wollten, hast du abgewehrt. Die mir Gutes wollen, hast du meinen Weg kreuzen lassen. Bitte behüte und leite mich weiterhin. Und schenke deine besondere Gunst meinen domini und allen Angehörigen der gens Furia.“
Und dann vertraute er Fortuna an, wohin er hoffte, dass sein Stern ihn führen würde:
„Ich bitte dich darum, von heute ab in zehn Jahren ein libertus zu sein.“, sagte er:
"Dann werde ich dir ein weiteres Opfer bringen und es wird deiner Hilfe angemessener sein als das was ich dir heute geben kann.“
Tiberios nahm die Hände herunter , nahm den Korb und ging mit gesenktem Haupt rechts ab. Wie ein Schatten huschte er aus dem Tempel. Er wollte keineswegs auffallen.
Draußen blieb er stehen, atmete tief ein und überlegte. Es war wahr, was er der großen Fortuna gesagt hatte: Roma war ihm zur neuen Heimat geworden.
Er sehnte sich nicht mehr nach Alexandria zurück, denn dort war niemand mehr, den er liebte.