An dem Rätsel um den wahren Namen des Serenus würde Kyriakos noch lange zu knabbern haben. Der Lohn war verlockend. Er würde nachdenken, forschen, fragen. Und eines Tages die Antwort finden. Mit dem Anfang eines Gedichts hatte Serenus hernach den Namen des Kyriakos verglichen. Der blickte in die Ferne bei diesen Worten, das Kompliment gedanklich hin und her wälzend wie ein Geschenk, das man genau betrachtet und untersucht. Dann schaute wieder zu Serenus. Nach einigem Nachdenken war er zu dem Schluss gekommen, dass dieser recht hatte.
»Das Herz aller guten Gedichte schlägt voller Dunkelheit. Wer lange durch die Nacht gewandert ist, dem sickert sie durch Fleisch und Blut, bis er selbst ein Teil von ihr ist. Und doch werden alle Geschöpfe der Finsternis vom Licht der Sonne angezogen, bis sie ihre Flügel versengt. Doch für uns, Serenus, gelten diese Gesetze nicht. Denn als wir beide uns kennenlernten, waren wir unsterblich.«
Die Straße unter den ratternden Rädern veränderte sich. Kreisrund lag mit einem Mal der See vor ihnen, die Oberfläche so glatt, dass sich die Sonne und die Wolken darin spiegelten, als sei dies ein auf Erden gefangenes Stück Himmel.
»Siehst du, Serenus ... die Sonne ist greifbar für uns.«
Der Weg führte sie vorbei an nobel einem nobel aussehenden Viertel und durch beinahe romantisch verfallene alte Mauern, ehe die Natur sie erneut umfing. Über allem aber thronte ein einzelner Berg, dessen Name Kyriakos nicht kannte.
»Der Olympos von Roma«, schlussfolgerte er. »Es gibt viele Berge dieses Namens, doch den echten Olympos hat noch keiner gefunden.«
Am Ende der Fahrt erwartete sie ein kleines Elysion, eine Insel der Glückseligen, nicht umgeben vom Wasser, aber am Ufer. Eine Mühle, wie es schien. Schön hatte Serenus es hier ...
Als die Custodes näher kamen, um sich um die Pferde und das Gepäck zu kümmern, trat Kyriakos zur Seite. Die Zeit, als er selbst noch bedient worden war und seinen Abstieg zum Niedersten, spürte er als einen Stich inmitten des wunderbaren Morgens. Serenus hatte keine Ahnung, welch Kreatur aus dem einstigen Kyriakos von Sparta geworden war. Reichtum benötigte Kyriakos nicht, doch etwas mehr Würde im Leben wäre wünschenswert. Er trat an die Waffen und ergriff, ohne nachzudenken, einen Speer. Wie lange hatte er diese Waffe nicht mehr geführt? Seine Finger schlossen sich um den Schaft. Er ging etwas abseits, wog ihn in der Hand. Eine Wiese in sicherer Entfernung diente als Übungsfeld, um ein Gefühl für die Waffe zu bekommen, da sie eine etwas andere Länge und ein anderes Gewicht aufwies als jene, mit der er früher gejagt hatte. Bis Serenus vollbepackt zurückkehrte, war Kyriakos auf den Jagdspeer eingestimmt.
Es verlockte, ihn mit einem Kuss zu begrüßen ... das Licht für den Nachtfalter. Doch kein zweites Mal würde Kyriakos ihn so bloßstellen, wie er es versehentlich vor der Fahrt getan hatte. Ihm keinen Anlass geben, zu bereuen, dass sie sich heute getroffen hatten. Serenus sollte glücklich sein am Ende dieses Tages.
Zu Pferde ging der Ritt hernach hinaus ins Revier. Das erste Mal seit Jahren saß Kyriakos auf dem Rücken eines Rosses, doch er hatte das Reiten nicht verlernt. So brachten sie eine gute Entfernung zum Anwesen hinter sich. Als sie an einem Wildwechsel vorbeikamen, stieg Kyriakos vom Pferd, um die Spuren zu untersuchen. Was er sah, stimmte ihn zufrieden. Er band das Tier locker an und es senkte den edlen Kopf, um zu äsen. Kyriakos aber legte die Kleidung ab. Mit den Händen griff er in die feuchte Erde, dort wo die Hufen von Hirsch und Reh ihre Spuren gegraben hatten, um sich damit einzureiben.
»Die Nase des Wildes ist fein«, erklärte er sein Tun, da er nicht sicher war, ob Serenus sein Verhalten zu deuten wusste. Kyriakos wollte um jeden Preis Beute machen, weil Serenus dabei war. Er sollte wissen, dass er keinen Taugenichts an seiner Seite hatte, sondern einen Jagdgefährten, der diese Bezeichnung verdiente. »Das Wild riecht den Menschen als das Raubtier, das er ist. Meine Kleidung bleibt darum hier, denn sie riecht nach Mensch, und ich hülle mich in den Geruch des Waldes.«
Es gab Jagdtechniken, da war dies nicht so wichtig, doch Kyriakos musste mit seinem Speer sehr nah an das Wild herankommen. Am Ende war sein ganzer Leib von einer schmierigen Schicht brauner Erde bedeckt, genau wie sein Haar. Ein reizvoller Anblick sah anders aus, doch Kyriakos genoss die Kälte der Erde auf seiner Haut. Er, der sonst in größtmöglicher Perfektion sein Aussehen gestaltete, um sich selbst zum Markte zu tragen, spürte das alte Ich unter der Erde erwachen.
»Der Wind weht von Süden. Ich werde mich im Bogen mit dem Wind bewegen, hangaufwärts, und dir das Wild zutreiben. So kann es dich nicht riechen und du bleibst, wie du bist, wenn dies dein Wunsch ist. Es ist nicht notwendig, dass du dich besudelst. Wir werden so oder so Beute schlagen.«
Kein Rascheln und kein Knacken ertönte, als Kyriakos geschmeidig ins Unterholz glitt.