Ich lauschte den klugen und detaillierten Ausführungen meines Gastes, ab und zu nickte ich und dann sagte ich zur Verteidigung meines Helden:
„Nun Polyphem, der Sohn des Poseidon, war nicht ganz so gastfreundlich, nicht wahr, es sei denn, man versteht unter Gastfreundschaft, dass man in eigener Person zum Hauptgang auserkoren wird.
Und mit der Konstruktion des Pferdes hat Odysseus Poseidon beleidigt, aber jedes Tier ist einer Gottheit heilig, hätte er eine Kuh konstruiert, so wäre es Hera gewesen, die sich beleidigt gefühlt hätte. Dann wäre er zur Strafe nicht durch die Meere geirrt, sondern hätte vielleicht seine Penelope an einen anderen Mann und damit Ithaka verloren.
Doch grundsätzlich kommt es mir so vor, dass wir Sterbliche eben vielen Irrtümern erliegen und ja, das Wort Ovids Video meliora proboque, deteriora sequor * hat seine Gültigkeit.
Der edle Aeneas ist ...nun ein solch exemplarer Mensch, dass man ihm höchstens nacheifern kann als Ideal, erreichen kann man ihn nicht. Ulixes und seine Gefährten sind fehlerhaft und unweise, und hätten sie nicht die Huld der göttlichen Athene –und hier ist Athene sehr weiblich mit ihrer kleinen Schwäche für den vir audax ** Odysseus - wäre es schlecht ausgegangen.
Er ist wie zumindest die meisten Leute, die wir mühesam streben und uns irren, aus Unwissenheit oder den Göttern geklagt, aus böser Lust und Gier.
Natürlich gibt es auch etwas spezifisch Griechisches in der Odyssea, und verzeih mir, da ich kein besseres Wort dafür weiß, es ist der daimon dieses Volkes, der es dazu bringt, permanent die Grenzen auszuloten und die Unsterblichen selbst herauszufordern, etwas was uns nicht einfiele, da wir pietas und alle Tugenden besitzen. Nicht umsonst meint der Ausdruck fides graeca, griechischen Treue, gerade das Gegenteil. Daher ist es gut und in der Ordnung, dass wir die Weltherrschaft übertragen bekamen und nicht die Hellenen.
Aber die anderen muss es innerhalb unserer Ordnung auch geben,sonst erstirbt das geistige Leben, verlangsamt sich der Pulsschlag und Roma wäre öde wie….“
Mein Blick fiel auf Diocles, der eine Platte heranschleppte:
„…wie das Kaff, woher mein Scriba stammt...was war es doch gleich, Diocles….Perinthus? Byzantium sagst du, na egal, es ist sehr unwahrscheinlich, dass das man das je Hauptstadt des Imperiums nennt, nicht wahr?“
Diocles hatte keine Ahnung, warum ich von Byzanz sprach und schlug die Augen nieder.***
Die Köchin hatte als prima mensa Kaninchen mit schwarzen Oliven und einen Lammeintopf vom Milchlamm mit Linsen kreiert, was er und sie natürlich mundgerecht geschnitten auftischten, dazu gab es Falerner, und der ministrator vini wartete artig, bis der Gast das Mischungsverhältnis bestimmte. Ich würde mich dem aus Höflichkeit anschließen.
"Du meinst, eine Lehre wird immer gegeben, auch wenn sie im Konträren liegt, verehrter Conservator?", griff ich den nächsten Gedankengang des Annaeus auf:
"Ja, wenn ich so überlege, teile ich diese Erfahrung, und doch gibt es auch Werke, die schon von vorne herein in lehrreicher Absicht geschrieben sind. Leider habe ich Vergilius da ein wenig in Verdacht, da er dem göttlichen Augustus so dankbar war, aber er ist ein zu großer Künstler, als dass er in die Falle reiner Moral getappt wäre. Vielleicht mag ich es einfach nicht, wenn man mich a priori dazu bringen möchte, etwas zu denken."
Ich lächelte nun:
„Zauberei und Geister, klingt für mich gut! Auf der Bühne liebe ich das, in der Realität nicht, die magoi machen mir Angst. Aber warum sollte eine Lehre nicht auch in völlig phantastischem Zeug liegen, gegeben durch den Charakter der Protagonisten und nicht dadurch, dass der Autor lehrt?
Ich selbst mag Erzählungen von Fahrten wie die des Odysseus oder des Aeneas mit den Beziehungen zwischen treuen Gefährten und dem Auftreten böser Feinde, die letztendlich überwinden werden können. Je aussichtsloser die Situation, je größer die Findigkeit, um so besser. Der eine kommt wieder heim, der andere findet seinen Bestimmungsort, der eine sucht
etwas, der andere möchte… das habe ich freilich auf der Bühne leider noch nicht gesehen - vielleicht etwas loswerden.
Ich meinte übrigens nicht soziale Zensur, sondern die der Obrigkeit. Um bei deinem Bild zu bleiben, für mich ist sie dunkel wie die Nacht, und ich danke Iuppiter dafür, in aufgeklärten Zeiten zu leben, in denen das geistige Leben nicht erstickt wird.
Aber vielleicht kannst du mich über die verschiedenen Schattierungen von Grau aufklären?“,
hier bezog ich mich auf den letzten Satz des hochgeschätzten Conservator.
Ich hob den Becher und verteilte mit den Fingerspitzen einige Tropfen:
„Für Bacchus - prosit“
*Ich sehe das Bessere und heiße es gut, dem Schlechteren folge ich.“ –Ovid, Metamorphosen 7,20
** eine Übertragung von "bad boy", audax im Sinn von tollkühn und dreist
*** Mit Spieler abgesprochen
- Auch hier sind Anachronismen versteckt