Tarkyaris hielt still, als Tiberios ihm die eigene Tunika hinter das Kreuz legte, so dass der Fürst bequemer saß. Diese simple Geste nahm viel von der körperlichen Anspannung des Tempelfürsten und wie es die Gesetze wollten, schwand auch die Anspannung des Geistes um ein kleines Stück, als der Körper sich entspannte.
Kaum war es zu glauben, doch die Finsternis, aufsteigend aus den Tiefen, wich im Licht der weißen Haut. In der Nacktheit des Tiberios lag nichts Obszönes. In einer Leichtigkeit und Natürlichkeit bewegte er sich, als würde Kleidung etwas sein, dessen er nicht bedurfte. So erinnerte sie Tarkyaris an die sphärische Unschuld der Sklavenkinder, die noch zu klein waren, ihren Eltern zu helfen und sich unbeschwert von Pflicht und Kleidern ihres Lebens freuten, wenn die Sonne warm auf Cappadocia schien, während er selbst sich in seinen Pflichten schon als Kind angekettet fühlte, als sei er unfreier, als seine eigenen Sklaven es waren. Die schwerste Kette von allen hatte er eigenhändig durchtrennt und atmete seither freier, genoss die Fahrten mit dem Schiff in ferne Lande und das Leben, welches er in diesen begrenzten Zeiten führte. Doch die Ketten, die sein Herz und seinen Geist gefangen hielten, waren nicht mit herkömmlichen Mitteln zu durchtrennen.
Träumerisch versunken in bittersüßer Wehmut schwelgte er in den Worten des Sklaven und der Traum, der ihn zart umsponn, endete erst, als Tiberios Tarkyaris ansprach. Doch dieser antwortete zunächst anders, in keiner Relation zur Fragestellung:
"Edles Geschöpf, das du bist. Dich zu verkaufen, fällt mir nun nicht mehr leicht, da du dich in deiner Gänze offenbart hast. Zum Zeichen meiner Wertschätzung möchte ich dir jedoch vor unserem Scheiden einen Rat mit auf deinen Weg geben.
Dem Hyakinthos bist du nicht unähnlich und bedenke stets - die Besten sterben jung. So ist es in Legenden, so ist es real. Nicht, weil die Götter ihre Favoriten ungeduldig bei sich wissen wollen, wie man es gemeinhin erzählt, sondern weil die Neider sie zu Fall bringen. Die mindere Brut, die vor Niedertracht nicht ertragen kann, dass jemand so gut, so fähig und so schön ist, wie sie es niemals sein werden! Neid ist die gefährlichste Eigenschaft der Menschen, noch vor dem Hass. Hüte dich, Tiberios. Nicht vor mir, sondern vor denen, die schlechter sind als du. Niemand ist ein so verbissener Feind wie Rivale, dessen Herz von Neid vergiftet wurde. Also halte die Augen stets offen."
Über Neid und Niedertracht war auch Tarkyaris keineswegs erhaben, doch hatte er von Kindesbeinen an gelernt, sich hinter den plumpen Gefühlsregungen zu beherrschen bis hin zur völligen Maskerade, unter der er selbst sich nicht mehr fand. Er war Tarkyaris, der Tempelfürst, auf dem Meer nannte man ihn Rex - doch wer die Person hinter all diesen Funktionen war, das wusste er selbst nicht mehr. Eine Ahnung glaubte er zu spüren, als er die Unbeschwertheit des Sklaven sah, eine Rückversetzung in die eigene Kindheit, als noch mehr Mensch in ihm übrig gewesen war als heute.
"Von der Schönheit meiner Heimat möchtest du hören. Wohlan, so höre. Man sagt, Wind und Feuer haben Cappadocia geformt. Sein Antlitz ist trocken und staubig, wild und zäh. Die Tempelstaaten sind darin gleich Sternen am finsteren Firmament, Lichtblicke peregriner Zivilisation. Cappadocia ist außer Achaia vielleicht die einzige Provinz, die nach ihrer Eroberung keine Romanisierung nötig hatte, da es nichts gibt, was die Römer uns lehren könnten. Wir kannten die Zivilisation bereits, als der Gründervater Roms noch an den Zitzen einer Wölfin hing.
Kein anderes Land wird von den Göttern so geliebt wie das unsere. Und so mag es nicht verwundern, dass die Söhne der Götter dort ihre Wohnsitze errichteten. So auch Aias, der das Priestergeschlecht der Teukriden begründete. Erkennst du den Namen? In vorhellenischer Zeit wurde in Cappadocia der Wettergott Tarku verehrt, an dessen Stelle später Zeus Olbios trat. Der Göttervater, blitzeschleudernd - es ist die selbe Entität. Der Name, unter welcher wir sie ehren, ist ihr einerlei. Zeus und Tarku sind eins, doch der Name Tarku ist älter und edler.
Nach Tarku benannte sich auch das Geschlecht der Teukriden, das in Olba residierte und vor dreihundert Jahren praktisch ganz Kilikien beherrschte. Hast du gewusst, dass Olba das finale Refugium des letzten Seleukidenzweiges war? Das Heiligtum selbst erhielt unter Kaiser Tiberius Stadtrechte und wurde Polis. Allerdings verloren die Teukriden ihren Einfluss wieder, als Vespasian die Provincia Cilica errichtete und die Verwaltung auf römische Weise umstrukturierte und die Grenzen neu zog. Du siehst, die Geschichte Cappadocias ist so wechselhaft und wandelbar wie die Elemente, die unser Land formten. Doch wir haben gelernt, ebenso wandelbar zu sein.
Und bald, lieber Tiberios, wirst du beweisen, dass du selbige Kunst beherrschst, wenn ein neuer Herr für dich gefunden wurde und ein neuer Lebensabschnitt für dich beginnt."