Beiträge von Titus Aemilius Nero

    Einer hörte zu ... einer sah und registrierte alles.


    "Salve", grüßte Tisander von hinten eine Stimme über den Karrenrand so freundlich, als würden sie sich auf dem Forum begegnen. Es war eine merkwürdig kehlige Stimme, die klang, als müsste ihr Besitzer sich dringend räuspern, doch klang diese Stimme immer so, was wohl daran lag, dass Nero noch vor dem Stimmbruch angefangen hatte zu rauchen.


    Im Schutz des Karrens und der Soldaten, die ihn bewachten, verfolgte Nero das Gefecht wie eine der blutigen Darbietungen, die er so liebte. So nah dran am Tod war er noch nie gewesen. Sein Hirn war abgestumpft von einer Kindheit ohne Liebe, von den Eindrücken von Tierhatzen, Hinrichtungen und Gladiatorenkämpfen aus den für die Patrizier reservierten Plätzen, von wo aus er all die Details in der Arena hatte wahrnehmen können. Weniges vermochte sein Herz noch zu erreichen, doch das hier war intensiv. Nero zitterte, sein Herz raste, er keuchte vor lauter Angst und war extrem erregt. Mit dem Handrücken wischte er sich den kalten Schweiß aus den Augen, um besser sehen zu können, als wenige Meter vor ihm seinem Vetter der Schädel gespalten wurde!


    "Hast du das gesehen?!", keuchte er Apollinaris zu, ohne zu wissen, ob sein einziger Freund ihn überhaupt hörte. Fassungslos starrte er auf den am Boden liegenden Verwandten. Er rührte sich nicht mehr. Die Wunde an seinem Hinterkopf ließ nur einen Schluss zu. Bassus, der allseits geliebte Bassus - war tot!

    Nero, noch eben in Tagträumen versunken, traf die Realität wie eine Flutwelle. Das Gefecht riss seine Wahrnehmung aus den Angeln, trat die Tür seiner Sinne ein und brach mit gefletschten Zähnen hindurch. Erstarrt saß er auf seinem Pferd, unfähig, genügend geistige Reserven für eine Entscheidung zu mobilisieren. Wie eine lebende Zielscheibe prangte er auf der Straße. Um ihn herum tobte ein Orkus aus Tod und Verderben.


    Jemand rief seinen Namen. Die Stimme seines Vetters ... das Gesicht von Bassus blickte in seine Richtung. Für einen Moment trafen ihre Blicke sich. Diesmal lag keine gegenseitige Ablehnung in der visuellen Begegnung. Die Hirnmasse eines gespaltenen Schädels spritzte Nero ins Gesicht, als Bassus für ihn und Apollinaris eine Bresche schlug und noch immer saß Nero auf seinem Pferd. Die übrigen Männer waren abgestiegen. Er wusste nicht, warum. Die ganze Situation entzog sich dem logischen Begreifen. Gerade eben hatte er noch daran gedacht, wie die Soldaten einen Barbaren zu Tode malträtierten - nun war sein Traum Wirklichkeit, etliche Male repliziert, wie um die Grenzen des für ihn Erträglichen zu evidieren.


    Mit den Fingerkuppen strich er sich die klebrige Substanz von der Stirn und betrachtete sie, ehe er sie abschüttelte. Die Zeit war zersplittert. Nero stand im Zentrum, von dem aus sich die Risse knackend ausbreiteten, um die Menschen zu verschlucken, und starrte auf das Geschehen. Vor ihm öffnete sich ein Weg, gesäumt von Toten und Schwerverletzten.


    Mechanisch folgte Nero dem Befehl, glitt vom Pferd und wandelte über die rote, nasse Straße wie ein Traumwandler, während er eine Darmschlinge mit dem Fuß mit sich zog, bis sie herunterrutschte, weil ihr Besitzer noch am anderen Ende hing. Langsam kletterte Nero auf den Karren.

    "Wir könnten mal irgendwas Brutaleres singen", fand Nero. "Das klingt alles zu fröhlich. Ich dachte, Kriegsgesänge würden sich anders anhören. Wie soll man bei so was in Kampfstimmung kommen?"


    Sollte sich doch jemand über seine Meinung aufregen, er würde Onkel Nepos ausführlich erzählen, wer ihn alles drangsalierte. Nur bei Bassus würde er vorsichtig sein, es war keine gute Idee, den Sohn allzu offensichtlich vor dem Vater schlechtmachen zu wollen. Und auf den Onkel freute Nepos sich sehr. Irgendein Gastgeschenk würde er ihm gern mitbringen, nur was? Was schenkte man jemandem, der schon alles besaß?


    "Irgendwas mit Feinde erschlagen wäre ein gutes Lied. Oder was stellt man eigentlich mit Gefangenen an? Gibt es darüber Lieder?"


    Die Vorstellung fand er lustig. Wie die Soldaten einen wehrlosen Gefangenen malträtieren, das würde Nero gern mal beobachten. Schade, dass sie keinen dabeihatten. Nach wie vor war der Ritt mit der Truppe für Nero nichts anderes als ein Abenteuer. Jetzt, wo sie kurz vor dem Ziel waren, packte ihn langsam die Euphorie. Warum beschwerten sich eigentlich alle über den harten Soldatenalltag? An den wunden Hintern würde man sich gewöhnen oder Hornhaut bekommen und ansonsten war doch alles gar nicht so schwer. Eigentlich war es rückblickend doch ganz lustig. Er lächelte Apollinaris vergnügt zu. Ja - Nero empfand Vergnügen! Das erste Mal seit sehr, sehr langer Zeit. Bei der Erkenntnis strahlte er regelrecht. Wenn jetzt noch Bassus von einem Blitz getroffen wurde und als Kohle vom Pferd fiel, wäre alles perfekt. Doch die Wolken öffneten sich und schickten Sonnenstrahlen. Die Regentropfen auf den Rüstungen funkelten wie Glasperlen, seinen sadistischen Fantasien zum Hohn.


    "Mal sehen, wie Onkel Nepos so wohnt", sinnierte er. "Ob wir es uns in seinem Anwesen gutgehen lassen oder die Stadt unsicher machen. Ich lade dich ein, sobald ich wieder bei Kasse bin. Lange sollte es nicht mehr dauern, dann sinken wir in ein heißes Bad und stopfen uns mit was zu Essen voll."

    Hatten sie gedacht, Nero auf diese Weise abhängen zu können? Bleich saß er im Sattel, adressierte ein kaum merkliches Anheben der Mundwinkel an Bassus. Ihm fiel auf, was für ein Milchbubi sein Vetter war, zwischen den Prätorianern und den Reitern der Alae nicht mehr als ein Junge, dem der Name seines Vaters ein Kommando verschafft hatte. Zu gern würde Nero sehen, wie das Musterkind sich die gebleichten Zähne an der Realität ausbiss - oder wie sie ihm ein Germane ausschlug.


    Es war Nero gelungen, von einem der Equites Geld zu schnorren und sich mit Opium zu versorgen. Er teilte es sich ein, denn er wusste, der Ritt würde noch eine Weile dauern. Der Schmerz pochte in weiter Ferne, nur ein leises Gewittergrollen am Horizont, ein harmloses Wetterleuchten, das von Urgewalten kündete, die sich anderswo entluden. Ihm ging es gut. Jeder Schritt seines Pferdes schnitt eine Scheibe aus der Zeit.


    Zeit war ein dreidimensionaler unsichtbarer Körper, den er spüren und atmen konnte. Kronos war mit ihm.

    Sehr langsam rutschte Nero von dem Pferd, das man ihm zur Verfügung gestellt hatte. Die Stirn gegen das Tier gelehnt, blieb er eine Zeitlang stehen, keuchend vor Schmerz, während die Soldaten sich um alles kümmern. Dumpf drang die Stimme Fango zu ihm durch, der ihm Salbe andrehen wollte, worauf er nicht reagierte, und von Apollinaris, der abreisen wollte. Abreisen! Heute!


    "Wir können nicht zu Onkel Nepos aufbrechen", hörte er sich selbst sagen. "Es geht heute nicht mehr."


    Es war ihm unmöglich, in seinem Zustand auch nur eine Meile länger zu reiten oder zu gehen. Er war froh, dass sie heute in einer Unterkunft nächtigten und nicht in den Zelten. Doch jede Dienstleistung und jedes feuchtfröhliche Vergnügen fiel ins Wasser, obwohl er sich gern dem Wein hingegeben hätte. Er hatte ja kein Geld! Ohne zu klagen, ließ er sich im Schneckentempo von einem der Soldaten zu dem Quartier führen, dass er sich mit Apollinaris teilen sollte. Irgendein Scherzkeks hatte ein Doppelbett für sie beide bestellt, vermutlich Bassus.


    Wenn die Kälte seines Vaters irgendeinen Nutzen gehabt hatte, so war es jener, dass sein Sohn genau so kalt geworden war. Er ärgerte sich nicht über die Dreistigkeit. Körper und Geist hielten in diesen Tagen, die nur aus Nässe und Schmerz bestanden, eine Art Winterschlaf und wie ein Traum, durch den er wandelte, zog die Wirklichkeit an ihm vorbei. Schweigend und ohne ein Bad kippte er in das Bett, nicht willens, auch nur einen Finger zu rühren, um sein Elend zu mildern, indem er die nassen Kleider ablegte und ein heißes Bad nahm. Schon als Kind hatte er stoisch gewartet, bis das Unheil vorübergezogen war, anstatt zu weinen oder etwas dagegen zu tun. Seine einzige Stärke war vielleicht sein Durchhaltevermögen. Und so hatte der verweichlichte Nero diesen Ritt mit einer Zähigkeit ertragen, die ihn selbst überraschte.


    Wieder war Kronos der Schlüssel zu allem Guten - der Herr der Zeit. Wenn Nero die Gegenwart nur lang genug ertrug, würde er bald in einer besseren Zukunft ankommen, in der Onkel Nepos ihn wie der Vater begrüßte, den er niemals gehabt hatte.

    Und ob Nero schritthielt, schon allein aus Prinzip. Er hasste diesen Ritt, er hasste dieses Wetter und am meisten hatte er seinen Vetter zu hassen gelernt. Nero wünschte ihm alles Schlechte, während er gegen die Schmerzen auf seinem Gesäß ankämpfte. Die Soldaten hatten vermutlich Hornhaut in diesen Regionen, doch Nero hatte weiche, zarte und empfindsame Patrizierhaut, die ihm bis aufs Fleisch heruntergescheuert worden war. Das erste Mal wünschte er sich die Sklavin Maria herbei, die ihm die schmerzende Haut salben würde. Er hätte nie gedacht, sie je zu vermissen, eifersüchtig, wie er war, weil Vater sie mehr schätzte als ihn. Der Entzug potenzierte seine miese Laune. Wenn Bassus vom Pferd fiel, würde er an ihm vorbeireiten oder über ihn hinweg. Doch das verwöhnte Musterkind war nicht nur der Liebling von Vater, sondern auch der Liebling der Götter, so dass Nero nicht damit rechnete, dass Bassus ihm diesen Gefallen erwies. Mit verkniffenem Gesicht schluckte er die Schmerzen herunter und hielt durch, um Bassus keine Gelegenheit zu Freude und Triumph zu geben.

    Wie recht Apollinaris hatte. "Die meisten Menschen sind mistig", urteilte Nero. "Eigentlich fast alle." Und meinte vor allen Dingen sich selbst.


    Nero rutschte an Apollinaris heran. Von unten kroch erneut die Kälte nach oben, weil dieses Stück der Tannenzweige nicht von seinem Körper gewärmt worden war bislang. Er war dankbar für die heißen Steine und fragte sich, warum keine der nichtsnutzigen Sklavinnen aus Vaters Haushalt ihm je einen heißen Stein gebracht hatte, wenn er sich die Seele aus dem Leib schlotterte. Sicher, sein Raum war gut geheizt wie die ganze Casa Aemilia, doch Nero war besonders kälteempfindlich und hätte Fürsorge wie dieser mehr als nötig bedurft.


    "Der Trick mit den Steinen ist gut", murmelte er mit klappernden Zähnen. "Dieser Fango würde einen guten Sklaven abgeben."


    Er sollte sich irgendwann einen eigenen kaufen, damit nicht immer die von Vater an ihm herumfummelten, die ihn nur aushorchen und schikanieren wollten. Leider stand ihm seine Abneigung gegen diese Bevölkerungsgruppe im Weg - nun auch noch das fehlende Geld. Es war alles Lepidus´ Schuld.


    Als Nero das erste Mal seit Tagen wieder richtig durchgewärmt war, schlief er trotz der wieder aufgeflammten finsteren Gedanken so fest, als wäre er selbst einer der Steine.

    Apollinaris und Nero waren in einem der Zelte untergekommen, dass sie sich mit den Soldaten teilten. Sie hatten ihm gezeigt, wie er sich aus einer dicken Schicht von Tannenzweigen eine Unterlage bauen konnte, damit er nicht direkt auf dem Boden lag. Die schlimmste Kälte kam von unten, hatten sie ihn gewarnt. Nero fror trotzdem erbärmlich und die Brandschale stank mehr, als Wärme zu erzeugen.


    Der Medicus der Familie meinte einst, Neros Herz würde zu schwach schlagen, woher auch seine extreme Blässe, seine kalte Haut und seine Trägheit kämen. Er hatte Nero regelmäßige Bewegung verordnet, was dieser natürlich nicht umgesetzt hatte. Nun schmerzte ihm sein ganzer Körper von dem Gewaltritt und er zitterte am eingerollt unter seiner im Regen nass gewordenen und nach Tang stinkenden Decke. Ihm war in den Nächten schmerzlich bewusst geworden, dass er viel zu dünne und zu wenig Kleidung dabei hatte.


    Einen Vorteil hatte das Elend jedoch - weil Neros Geist unentwegt damit beschäftigt war, sein gegenwärtiges Leid zu beklagen, vergaß er für die Zeit seine Vergangenheit, seinen Vater, seine unsäglichen Geschwister, die Subura und er vergaß sogar seine Mutter. Alles, wonach er sich sehnte, war ein warmes, trockenes Bett und ein heißes Getränk, während seine Zähne lautstark klapperten und sein Atem in einem tremolierenden Zischen seinen Körper verließ.

    Sein Vater, den Bassus in den Himmel lobte, hatte wahrlich ganze Arbeit geleistet. Selbst der Caesar, der Nero gar nicht persönlich kannte, beschimpfte ihn. Dagegen konnte er schwerlich etwas sagen, er wartete einfach, bis der saure Regen vorüber war und Caesar samt Vetter sich verkrümelten. Man mochte es dem zur Passivität neigenden Nero nicht zutrauen, doch die Blicke, die er beiden hinterherschickte, brannten vor Hass.


    Erst, als Apollinaris sich neben ihn stellte, wurde Nero innerlich ruhig. "Lass gut sein", sagte er und legte ihm eine Hand auf den Arm. "Es bringt nichts."


    Nero musste es wissen. Er hatte in seinem Leben alle Strategien durchprobiert, die ein Jugendlicher aufzubieten imstande war: Trotz, Wut, Verzweiflung. Seine Hilferufe, die lauten wie die leisen, waren ungehört verhallt und hatten ihn in jemanden verwandelt, der wusste, dass es vollkommen gleichgültig war, was er tat. Keine seiner Handlungen mündete in Resultat, die Wogen brachen sich an Lepidus´ schroffem Fels. Am Ende war das Resultat jeder Handlung eine Niederlage.


    Nein, Nero kämpfte nicht. Er wartete darauf, dass der Kampf vorüber zog.


    Der einzige Gott, der ihm je geholfen hatte war Kronos, für den das römische Äquivalent Saturn eine unbefriedigende Analogie bildete. Nero bevorzugte das hellenische Original:


    Kronos, die personifizierte Zeit, die ihre Kinder fraß.


    Der Tag würde kommen, da auch Aemilius Lepidus nicht mehr war. Er war alt, konnte kaum noch laufen. Und Neros Bruder lebte ein gefährliches Leben als Soldat, genau wie sein Vetter. Nero brauchte nur zu warten und würde eines Tages als Pater familias die Augen aufschlagen, ohne dass er einen Finger hatte rühren müssen.


    Er schenkte Apollinaris ein frostiges Lächeln, ohne dass diese Kälte Apollinaris galt. Sie fand nur gerade den Weg aus Neros Inneren auf sein Gesicht. Sein Herz war mit der Morddrohung zu einem Eispalast gefroren. Ohne zu murren, ohne zu diskutieren oder auch nur etwas zu empfinden begab Nero sich zu dem ihm zur Verfügung gestellten Pferd.

    Nero geriet ob des Schlags gegen seine Schulter ins Straucheln und wäre fast gestürzt. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, verstand er, warum Bassus ihn hinter das Gebüsch geschleift hatte. Dessen andere Hand ruhte bedrohlich auf dem Griff seines Schwertes. Eine logische Konsequenz der Entwicklungen, nahm er an. Nero sah sich erstmalig, doch wohl nicht unvorhersehbar, mit einer Morddrohung aus den Reihen der eigenen Familie konfrontiert.


    ... Familie ...


    Bassus würde nur das tun, wofür Lepidus nicht die Verantwortung zu übernehmen gedachte. Nero sah dem Vetter in die Augen. Sie beide könnten nicht unterschiedlicher sein. Der eine brünett und voll soldatischem Schneid, geboren um zu führen. Der andere blond, bleich und schlaff bis in den letzten Finger. Nero senkte das Kinn ein wenig und blickte Bassus weiterhin in die Augen. Er machte einen Schritt nach vorn, direkt in den warnenden Finger hinein.


    "Wenn du es zu Ende bringen willst, dann tu es jetzt", zischte Nero.

    Nero, der dermaßen unsportlich war, dass seine Muskulatur gerade für die täglichen Verrichtungen genügte, wurde von Bassus mitgeschleift wie ein Sack. Er hätte keine Gegenwehr leisten können, um eine würdigere Behandlung einzufordern, selbst wenn er das versucht hätte. Dem angewiderten Blick begegnete Nero mit einem stoischen Gesichtsausdruck und senkte die Lider.


    "Vater weiß nichts von meiner Reise. Es interessiert ihn auch nicht, was ich tue, solange es nicht in seinen heiligen vier Wänden geschieht, wo ein Weintropfen auf dem Marmor landen könnte. Warum sollte ich ihm mitteilen, wohin ich gehe? Es ist ihm egal."


    Er rieb sich den speckigen Oberarm, der weh tat an der Stelle, wo Bassus ihn gepackt hatte. "Apollinaris ist mein Bester."


    Den er erst seit ein paar Tagen kannte, doch das sagte er nicht dazu. Nero wechselte die Freunde wie die Socken. Er konnte das nicht verhindern. Bei den meisten wusste er nicht mal, wie sie hießen oder kannte sie nur mit irgendwelchen Spitznamen. Wobei er bei Apollinaris hoffte, dass er ihm etwas länger erhalten bleiben würde, aber na ja.


    "Woher soll ich wissen, dass du hier mit dem Caesar hockst? Der braucht sich nicht mit uns befassen, das habe ich deinem Reiter auch gesagt. Ihr könnt uns hier verschimmeln lassen, wir kommen zurecht, nur hätte ich in dem Fall vorher gern meine Truhe wieder. Apo und ich sind auf dem Weg nach Germania, aber ohne irgendwelchen Tand. Deswegen haben wir keine Sklaven, keine Sänfte und nichts dabei, sondern sind nur mit einer Gepäcktruhe aufgebrochen. Wir beabsichtigen, Onkel Nepos zu besuchen."


    Den Onkel Neppi.

    Dass man sie nicht mit Freudentränen in den Augen willkommen heißen würde, war Nero klar gewesen. Aber das?


    Nero suchte den Blick von Bassus, wollte ihn wenigstens begrüßen. Doch die Reiter machten sich fertig für den Ritt und er war nicht sicher, ob sein Vetter überhaupt bemerkte, dass er ihm etwas sagen wollte. Andererseits war es Bassus vermutlich sowieso egal. Als Subpraefectus Alae hatte er Besseres zu tun, als mit seinem Vettern zu sprechen.


    Nero tat es leid für den Reiter, der sich mit ihnen abgeplagt hatte und nun dafür auch noch eine drüber bekam. Nero beschloss, ihm unauffällig etwas Geld in irgendeine Tasche zu stecken, wo er es später finden konnte. Doch kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, fiel ihm auf, dass all sein Hab und Gut sich in der Truhe befand, die nun bei der Post lag. Er hatte kein Geld bei sich, keine Wertgegenstände, nur seine Decke als Rolle hinter sich auf dem Pferd liegen, war jetzt vollends auf die Gnade der Soldaten angewiesen, bis sie Mogontiacum erreichten, wo die Truhe hoffentlich sicher ankam. Was auch immer geschah - er und Apollinaris duften nicht zurückfallen. Reiten konnten sie zum Glück beide ganz gut. So war die teure Ausbildung am Ende doch zu etwas nütze. Wenn das sein Vater hören würde.


    Er schenkte Apollinaris ein erschöpftes Lächeln. Hier hatten sie ihr Abenteuer.

    << RE: Cubiculum - Titus Aemilius Nero


    "Ich habe alles, wir können abreisen. Du kannst deine Sachen mit in die Truhe packen, Apo. Sie hat zwei Henkel, so können wir sie gemeinsam tragen, jeder auf einer Seite."


    Nero dachte einen Moment lang an Aemilius Lepidus. Er hatte seinem Vater keine Nachricht hinterlassen. Niemand wusste, wo er hingehen würde, auch wenn die Sklaven sahen, dass er mit einer Truhe an der Porta stand. Sollte er irgendwem Bescheid sagen? Oder einen Tabula mit einer Notiz hinterlassen? Ein Anfall von pubertärem Trotz fegte diesen Gedanken restlos beiseite. Lepidus war es gleichgültig, wie Nero sich fühlte oder wohin er ging. Vielleicht starb Nero ja, das hatte Lepidus dann davon. Die Aussicht seines möglichen Todes weckte nichts als Gleichgültigkeit in Neros Herz. Nur für Apollinaris, der sich aufrichtig zu sorgen schien, tat es ihm leid. Diesen einen Versuch wollte er darum noch wagen. Die Reise zu Onkel Nepos würde eine Reise in seine Zukunft sein oder ihr Ende.


    "Lass uns aufbrechen", sagte er zu Apollinaris.

    << RE: Die Elenden - Einmal Abgrund und zurück


    Die gelbe Wolldecke mit den dünnen, orangefarbenen Streifen lag ordentlich zusammengelegt auf dem Bett. Nero strich über die Fransen an den Rändern. Als Kind hatte er mit ihnen gespielt, wenn er nicht einschlafen konnte. Die Ausstattung in seinem Raum war Qualitätsware, aber alt. Er konnte sich von nichts trennen, das seine Mutter ihm hinterlassen hatte. Sogar die Spielsachen aus Kindertagen hatte er behalten und so wirkte der Raum fast wie am ersten Tag. Der Gedanke, dass seine Mutter dieses Zimmer hatte einrichten lassen für ihr Kind, für ihn, damit er sich darin wohlfühlte, schnürte ihm die Kehle zu.


    Wie hätte Neros Kinderzimmer ausgesehen, wenn sein Vater es ihm eingerichtet hätte? Eine Kerkerzelle? Oder jener seelenlose Luxus, mit dem die Oberen ihre Häuser ausgestalteten, mit dem sie prahlten, ohne ihn zu lieben? Kalte Marmorsäulen, Statuen mit ausdruckslosen Gesichtern, die den Betrachter aus toten Augen ansahen, über die man lange Geschichten erzählen konnte, die das Herz nie erreichten? Vermutlich ... denn Lepidus würde nie den guten Ruf seiner Familie riskieren und so mangelte es Nero an nichts und gleichzeitig an allem.


    Nero legte die Decke einmal längs zusammen und formte eine Rolle, die er unsicher betrachtete. Wie sollte er sie transportieren, unter dem Arm? Den ganzen Weg nach Germania? Eine langärmlige Tunika legte er dazu, denn man sagte, es sei kalt im Norden. Vielleicht sollte er alles in einer Art Sack verstauen? Oder sollten sie besser doch eine Sänfte nehmen? Einen Kamm benötigte er auch, einen Striegel und Hautöl. Hilflos blickte er am Ende auf all die Dinge, die er mitnehmen wollte und die nun vor ihm auf dem Bett ausgebreitet lagen. Nero begann vor Stress zu zittern. Mit der Faust wischte er seine Tränen fort.


    Am Ende schleppte Nero - in etwas gewandet, das er für Reisekleider hielt - eine Truhe, die er kaum tragen konnte, bis zur Porta, wo Apollinaris wartete, dem Neros Vater Hausverbot erteilt hatte.


    RE: Porta - Eingang der Villa >>

    Nero lächelte noch immer mit geschlossenen Augen.


    "Das Essen hört sich abenteuerlich an. Ich bin anderes gewohnt, das wird eine interessante Erfahrung. So was wie Abenteuerurlaub für verwöhnte Patrizier. Besonders, weil mein Vater mir das Taschengeld gestrichen hat, so kann ich nicht mogeln, wir müssen selber sehen, wie wir uns durchschlagen. Du bist ja genau so pleite. Mal sehen, wie weit wir kommen, ehe wir durchgefroren, verprügelt und ausgeplündert wieder nach Hause wanken. Und ob Onkel Nepos uns überhaupt erkennt, wenn wir in Germania ankommen!"


    In seinen Wunschvorstellungen rief Nepos sie beide besorgt ins Innere, scheuchte Sklaven los, um ihnen ein heißes Bad und etwas zu Essen zu bereiten. Nero würde ihm sein tonnenschweres Herz ausschütten und Nepos würde ihm anbieten, ihn aufzunehmen und ihm der Vater zu sein, den er nie hatte. Und Apollinaris würde als Freund von Nero natürlich auch stets willkommen sein. Nun setzte Nero sich doch auf und blickte putzmunter hinab auf Apollinaris, der mit wirren Locken aus der Bettwäsche schaute.


    "Lass uns aufbrechen, Apo!"

    Nero atmete langsam und lange aus. Ein Lächeln trat auf sein pickliges Gesicht, während sein Körper erschlaffte. Das erste Mal seit sehr langer Zeit war er entspannt und glücklich. Er hatte das Gefühl, dass Apollinaris ihn verstand und ob seiner Art nicht verabscheute, sondern ihn mochte. Er wollte scheinbar noch nicht einmal dafür bezahlt werden. Nero würde ihn trotzdem bezahlen, sicher war sicher, er wollte seinen Freund nicht verlieren.


    "Wenn wir ausgeschlafen haben holen wir mein Gepäck und dann reisen wir los."


    Nero schloss die Augen. Er würde keineswegs schlafen, er würde genießen, dass sie hier lagen, den Frieden und die Wärme in sich aufnehmen, die von Apollinaris ausgingen.

    Nero blieb liegen wie ein Stein, während Apollinaris sich räkelte und so vielleicht signalisierte, dass er aufstehen wollte. Unter die warme Decke, die sie sich teilten, zog ein Strom kalter Luft. Nero bekam eine Gänsehaut. Die weißblonden, fast unsichtbaren Härchen stellten sich auf seinen Armen und Beinen auf. Weil er die Sklavenschar verabscheute, war sein Körperhaar nicht gezupft. Er wollte sie nicht so nah an sich heranlassen; außerdem tat das Zupfen weh. Nur beim Gesicht, den Zähnen und den Nägeln ließ er sich widerwillig helfen.


    "Willst du schon aufstehen und die Sachen packen?", erkundigte Nero sich. "Hast du viel Gepäck?"

    Erleichterung beschwichtigte das aufgebrachte Gemüt Neros. Sein Körper entspannte sich und er legte einen Arm über Apollinaris. Es war nicht so, dass er annahm, nun seinen Vater nicht mehr fragen zu müssen, doch ward ihm das Gefühl einer Gnadenfrist gegeben. Es musste nicht jetzt stattfinden, nicht heute.


    "Wir schaffen das schon", sagte er aufmunternd, ohne auch nur im Mindesten zu meinen, was er sagte. Er wollte einfach, dass sie noch ein wenig zusammen hier liegen blieben, ehe er zurück zur Villa Aemilia musste. "Du weißt, was man benötigt an Gepäck. Was braucht man, wenn man eine Reise unternimmt? Was hast du alles aus deiner Heimat mitgenommen, als du nach Roma gekommen bist?"

    Nero ließ zu, dass Apollinaris ihn an sich heranzog, als wäre er eine große hässliche Puppe. Er sehnte sich so nach Zuneigung, dass er die wenigen Brocken, die ihm manchmal hingeworfen wurden, alle nahm, gleich von wem sie stammten. Da er weder schön noch charismatisch war und von zich Sklaven und Leibwächtern abgeschirmt war, wenn er die Zeichen seines Standes trug, sodass auch der Wohlstand und Name seiner Familie nicht als Lockmittel taugte, geschah es selten, dass jemand sich seiner annahm. Meist übersah man den bleichen, pickligen jungen Mann mit dem weichen Körperbau einfach. Jetzt hielt er ganz still und sog die Nähe in sich auf wie trockener Erdboden den Sommerregen. Lange wagte er nicht, sich zu bewegen oder etwas zu sagen, aus Angst, dass Apollinaris ihn plötzlich wieder losließ.


    "Vielleicht kann ich dir helfen", sagte er schließlich ganz langsam und leise. "Bei deiner Karriere. Das meinst du doch? Anders sind Ruhm und Ansehen nicht möglich. Ich habe selber keine Karriere gemacht, aber der Name meiner Familie könnte dir trotzdem als Türöffner helfen. Wenn ich Vater frage, setzt er dir vielleicht ein Empfehlungsschreiben auf."


    Vater fragen. Nero rutschte das Herz bis hinab zu den Füßen. Er drehte sich in die Umarmung seines einzigen Freundes außer den Zwillingen hinein. Bei dem Gedanken, mit einer Bitte an Aemilius Lepidus heranzutreten, bekam er Herzrasen.