Beiträge von Claudia Aureliana Deandra

    Seit Priscas Ankunft in Germanien hatte sich vieles für mich geändert. Ich verbrachte so viel Zeit wie möglich mit ihr, was sich nach der Todesnachricht meiner Adoptiveltern noch mehr verstärkte. Wir teilten ein vergleichbares Schicksal, die Wunden waren annähernd gleich frisch, vor allem aber mochte ich ihre Art. Sie hatte etwas Liebes an sich, ich konnte mich ihr anvertrauen, denn ihr Wesen war offen und herzlich. So war es nur natürlich, dass ich auf der Reise entweder ihre oder Corvis Gesellschaft suchte, wobei sie es im Gegensatz zu ihm besser verstand, mich aufzuheitern.
    Manchmal grübelte ich darüber nach, warum er sich so verändert hatte, aber ich konnte mir seine Distanz nicht erklären. Eigener Fehler war ich mir nicht bewusst, und auch die Vermutung, Helena könnte sich zwischen uns gedrängt haben, verwarf ich nach einiger Zeit wieder. Ließ ich den Abend, an dem er sie mir vorgezogen hatte, einmal außer Betracht, verhielt er sich im Grunde untadelig. Helena allerdings mied ich weitestgehend, denn ohne ihre Eigenmächtigkeit, wäre die Bilanz dieses Tages für mich trotz seiner unbeherrschten Art deutlich erfreulicher gewesen.


    Die Tage brachten Ablenkung, um nach einer gewissen Verarbeitungszeit nicht mehr fortwährend an den Verlust der Eltern denken zu müssen, aber in den Nächten holte mich tagtäglich die Angst und das Gefühl, verlassen zu sein, ein. Ich fürchtete mich beständig vor dem Alleinsein, ging immer später ins Bett, stand zeitig auf, bekam dunkle Schatten unter den Augen und wirkte selbst in den stillen Momenten des Tages bedrückt. Von Prisca Geborgenheit zu erwarten, wäre zu viel verlangt gewesen, denn erstens trug sie an einer ähnlichen Last und zweitens konnte eine Frau bestenfalls in der Rolle als Mutter Nestwärme und Schutz spenden. Ich seufzte und kehrte in die Wirklichkeit zurück.


    Ein Blick aus dem Fenster überzeugte mich davon, dass wir in naher Zukunft keine Station erreichen würden. Allerdings meldete sich ein gewisses Bedürfnis bereits seit geraumer Zeit in kurzen Abständen. Vermutlich würde mein Anliegen daher nicht unbedingt auf Verständnis stoßen, aber zu ändern war es nicht. Ich schob den inzwischen recht dünnflüssigen Stuhlgang auf die Eier der Straßenstation am Morgen. Ich rekelte mich verlegen, um zugleich die verkrampften Glieder etwas zu lockern, warf einen weiteren Blick nach draußen und beschloss, nicht mehr länger abzuwarten.


    „Ich müsste mal wieder ein inzwischen dringendes Bedürfnis stillen.“


    Zunächst blickte ich zu Prisca, anschließend zu Corvi, der vor sich hindämmerte.

    Ich musste schmunzeln, als Prisca ihre Zweifel bezüglich ihrer Hilfsmöglichkeiten bei der Gartenplanung anmeldete. Leise lachend winkte ich ab.


    „Ach, notfalls erklären wir allen erstaunten germanischen Besuchern, dass wir den neuesten Trend aus Italia berücksichtigt haben, und den Besuchern, die sich damit auskennen, sagen wir einfach, dass unser Garten germanisch geprägt ist. Fertig.“


    Ich folgte ihrem Blick zum Bett, und obwohl ich zuvor gewiss nicht die Absicht hatte, ungewöhnliche Ideen auszubrüten, schoss mir eine spontan durch den Kopf, die mich in gewisser Weise selbst überraschte. Bevor ich sie jedoch äußern konnte, sprach sie weiter, erwähnte das Frühstück und wies auf den benötigten Nachtschlaf hin. Ich nickte, denn damit kehrte sie wieder zu meiner Idee zurück, die ich im Kopf behielt, als sich Prisca erhob und Worte der Verabschiedung fand.


    Ich stand ebenfalls auf und wollte ihr gerade meinen Vorschlag unterbreiten, als sie mich sprachlos machte. Es rührte mich, wie sie ihren Dank wegen meiner Worte ausdrückte, die nach meiner Auffassung selbstverständlich gewesen waren. Ich blickte auf die entgegengestreckten Hände und plötzlich schossen Erinnerungen an Situationen und damit verbundene Gefühle durch meinen Geist. Mir wurde bewusst, wie einsam ich die meiste Zeit in Germania war, wie ich unter der Reserviertheit oder gar Feindschaft litt, die mich tagsüber hier umgab. Die Stunden, in denen Marc hier sein konnte, waren knapp bemessen, sie stellten die einzigen Lichtblicke dar.


    Sentimental wie ich war, traten mir Tränen in die Augen. Na so was. Ich wollte doch erst vor Momenten diejenige sein, die Ablenkung verschaffte, die beistand, vielleicht sogar Trost spenden konnte. Plötzlich jedoch hatte sich das Blatt gewendet. Ich fühlte mich klein, schutz- und anlehnungsbedürftig. Sanft schob ich meine Hände in ihre, und während ich den Blick hob, verließ eine Bitte statt des geplanten Angebotes meinen Mund:


    „Darf ich heute Nacht bei dir bleiben?“

    Das Leben um mich herum pulste nicht mehr und ich befand mich im Zentrum dieses Stillstandes, aber zum Glück war ich nicht allein. Ich fühlte Arme und eine Schulter, spürte Körperwärme. Meine gesamte Aufmerksamkeit, die Sinne, waren auf seinen Herzschlag, den ich als Pochen spürte, und seinen Atem gerichtet, der regelmäßig über mein Haar strich. Solange ich dieses Leben wahrnahm, befand ich mich selbst noch auf der hiesigen Seite des Flusses, solange diese Zeichen anhielten, gab es Leben um mich herum, auch wenn alles andere abgestorben schien. Und je intensiver ich mich gedanklich mit ihm auseinandersetzte umso umfassender war es mir möglich, seine Eröffnung über Mutter und Vater zu verdrängen. Nach nichts anderem strebte ich derzeit.


    Ich registrierte nebenbei, dass meine gesamte Enttäuschung ihn betreffend, die ich in den letzten Tagen gepflegt, sogar gehortet, in die ich mich regelrecht hineingesteigert hatte, plötzlich gegenstandslos war. Dieser Wandel kam nicht dadurch zustande, weil ich ihm verziehen hatte, auch nicht deswegen, weil ich seine Reaktion, sein Verhalten nun besser verstand. Allein die Tatsache, dass er JETZT da war, dass er zum Glück meine Dickköpfigkeit ignorierte, dass er sich so viel Zeit nahm, ließ den angestauten Groll in den Hintergrund treten. Plötzlich machte er wieder alles richtig, wie damals als Bruder. Ich klammerte mich augenblicklich an die Ergründung des Gedankens, ob er nun in meinem Empfinden mehr Bruder oder doch mehr Liebster war, weil ich mit aller Macht vermeiden wollte, auch nur im Entferntesten an die Zukunft ohne Eltern denken zu müssen.


    Irgendwann trat jemand heran, fragte etwas, auf das ich glücklicherweise nicht eingehen musste. Er regelte es, das war gut so. Ich bemerkte überrascht, dass ich mir von ihm also auch fürsorgliche Vatereigenschaften wünschte. Würde er es schaffen, Bruder, Vater und gleichzeitig Liebster zu sein? War das nicht doch etwas Unmögliches, was ich erhoffte oder zumindest vorübergehend brauchte? Und als hätte er meine Gedanken erraten, zog er mich zu sich auf den Schoß und drückte mich. Oh, man konnte, wenn man wollte, sich vieles einreden, und ich wollte mir einreden, dass sein promptes Handeln ein Zeichen, eine Antwort auf meine Frage war. Sein Flüstern war nach meiner Auffassung die Bestätigung. Zum ersten Mal seit der überbrachten Nachricht rührte ich mich aus eigenem Antrieb. Ich legte meine Arme um seinen Hals und den Kopf in die Beuge zur Schulter, schloss erstmalig die bis dahin unablässig aufgerissenen Augen, was ein Hineinhorchen ermöglichte, das sich nunmehr gegen die errichtete Abwehrmauer wendete. Die Gefühle der Liebe und der Trauer brachen gleichzeitig über mich herein, nahmen mein Denken gefangen, lösten die emotionale Verkrampfung und spülten den angestauten und neuen Schmerz heraus.


    „Danke“, wisperte ich unter Tränen und reichlich verspätet, denn er trug mich bereits zur Villa zurück.


    Aber was fängt man mit seinem Leben an, wenn Mut und Kraft fehlen? Wenn selbst die Grundbedürfnisse nach Essen und Trinken kaum mehr spürbar sind? Ich brauchte ein Ziel, vielleicht eine Aufgabe, und natürlich brauchte ich Halt.


    Bald nachdem Corvi den Platz auf der Bettkante gegen den Fußboden eingetauscht hatte, fühlte ich verstärkt die Leere und die Einsamkeit, obwohl er noch immer anwesend war. Ich rang lange mit mir, ob ich nun meinerseits auf ihn zugehen sollte, merkte nicht, wie mich diese Gedanken wieder hilfreich vom aktuellen Scherz ablenkten, fasste mir endlich ein Herz, auch wenn es mich große Überwindung kostete, und rutschte an ihm heran. Der Körperkontakt beruhigte mich langsam und ich fiel irgendwann in den Schlaf.

    Zitat

    Original von Gaius Flavius Catus


    Danke :)
    Das ist ja wohl ein Grund, das ich mich mal ernsthaft mit dem Gedanken beschäftige.
    Schau mer mal ...


    Moooment, noch nicht dicht machen. :D
    Catus, dann melde dich aber, okay? Könnte vielleicht sogar was wegen einem Platz in einer, ev. sogar zwei Patriziergentes regeln. Man hat ja inzwischen so seine Beziehungen. 8) Würd mich freuen. :)


    Und Corvinus, du Artorier, lästere nicht an der Optik meines Corvis rum. Der ist so wie er ist perfekt. :P:dafuer: :D ;)

    Der Alltag in Mogontiacum war derart unspektakulär, sodass selbst ich bereits dem Laster der Neugierde verfallen war, das ansonsten keineswegs zu meinen Charaktereigenschaften gehörte, aber jetzt dazu diente, Abwechslung in mein Leben zu bringen. Ich hätte zu gerne mehr über Helenas unglückliche Liebe erfahren, verstand auch nicht, warum sie schwieg, denn ich würde denjenigen ja doch nicht kennen. Oder vielleicht doch? War er vielleicht im Reich bekannt? Aus meiner Sicht gab es jedenfalls keinen nachvollziehbaren Grund, nicht wenigstens ganz allgemeine Angaben zu machen. Mich hätte interessiert, wie alt sie damals war; wie lange sie gebraucht hatte, um darüber hinweg zu kommen.
    Helena war und blieb mir ein Rätsel, sie pflegte zwischen uns die Distanz, und ich wusste beim besten Willen nicht, welchen Anlass ich ihr dazu gab. Ich war mir keiner Schuld bewusst, also schob ich die Diskrepanz zwischen uns auf ihre Mentalität. Sehr viel später erst kam eine weitere Deutung für ihr Verhalten hinzu, die vieles im Nachhinein erklärte.


    Derzeit tappte ich aber noch vollkommen im Dunkeln, war unbekümmert, gerade naiv. Der Blick, mit dem ich sie noch immer maß, resultierte einzig aus Neugier, er kannte kein Misstrauen. Nachzubohren wäre aber einerseits nicht höflich gewesen und andererseits auch meiner unwürdig, da sie sich nun einmal verschließen wollte, also wendete ich den Blick nach rechts und lauschte ihren nachfolgenden Worten. Es war unverkennbar, sie lenkte bewusst ab.


    Wäre sie hier, als sie die Möglichkeit dazu hatte, aufrichtig gewesen, vieles wäre anders gekommen. Ihre Schwärmerei hätte mich niemals verunsichert, im Gegenteil: Ich hätte es schätzen können, dass sie um Haltung bemüht war. So belastete aber ihr Schweigen, das ich als Unaufrichtigkeit deutete, unser Verhältnis mehr und mehr. Ich wurde irgendwann argwöhnisch, missdeutete abendliche Besuche in Marcs Zimmer, machte mir eine eigene Wahrheit, die letzten Endes sogar dazu führte, dass ich Marcs Offenheit ihr gegenüber als Entgegenkommen wertete.


    Der weitere Rückweg verlief schweigend, wie der Rest des Tages, so manche Mahlzeit, der überwiegende Teil der kommenden Wochen. Unsere Wege hatten sich an diesem Tag im Garten des aurelischen Anwesens getroffen, waren unbedeutend lange parallel verlaufen, um sich dann doch wieder voneinander zu trennen. Die einzige Gemeinsamkeit, die uns verband, trennte uns voneinander: Marc.

    Nach Prisca Erklärung war ich überzeugt davon, nicht gestört zu haben, was nicht nur beruhigend, sondern auch erfreulich war. Es ließ sich nicht vermeiden, ich verglich sie mit Helena. Prisca wich mir nicht aus, sie vertröstete mich nicht, schaute mir in die Augen, wenn sie sprach, was mir den Glauben an Offenheit und Aufrichtigkeit wieder zurückgab. Eine Basis, auf der Vertrauen wachsen konnte, und obwohl der Tag von einer traurigen Nachricht überschattet war, entlockte mir ihr großzügiges Angebot, das sie ausgerechnet im Moment eigener Niedergeschlagenheit machte, ein Lächeln, das ich nicht einmal unpassend fand. Wie sollte man auch anders reagieren, wenn sie – selbst am Boden – schon an ihre Hilfe in Notlagen anderer dachte?


    Ich beugte mich vor und legte meine Hand auf ihre.


    „Erst einmal geht es ganz alleine um dich. Ich möchte nicht hoffen, dass ich je deine Hilfe in einer ähnlichen Lage bräuchte, dennoch herzlichen Dank für das Angebot.“


    Meine Gedanken wanderten flüchtig zu Mutter, bevor ich mich energisch zur Ordnung rief. Ich verbot mir zuletzt, diese Thematik auch nur zu streifen.


    „Aber wenn ich einmal einen Rat bräuchte, dann werde ich gerne zu dir kommen“, sagte ich mit Überzeugung, während ich die Hand zurück auf meinen Schoß legte. Das Lächeln verblieb auf meinen Lippen, während ich für mich feststellte, dass wieder einmal Trauriges und Erfreuliches nahe beieinander lagen. Eines Tages würde ich mich an Priscas Angebot erinnern und dankbar sein.


    Als sie die noch immer nicht zu meiner vollen Zufriedenheit erfolgte Gartenumgestaltung ansprach, lachte ich leise.


    „Stimmt, der Garten bekommt seit längerem meinen Zeitüberschuss zu spüren“, erwiderte ich, nachdem sie geendet hatte. „Gemeinsam dürfte es sicherlich noch mehr Spaß machen. Ich habe da noch einige Ideen, die noch nicht vollständig ausgegoren sind, aber das könnten wir ja morgen besprechen. Du wirst sicherlich von der Reise erschöpft sein.“


    Zusätzlich sorgte ich mich zwar auch darum, ob Prisca wohl gut würde einschlafen können, aber ich sprach diese Sorge nicht an, denn wir waren gerade auf unverfängliche Themen gekommen. Sie sollte lieber damit zu Bett gehen.


    „Frühstücken wir morgen zusammen?", fragte ich, um ihre Gedanken auf die Zukunft, weg vom Vergangenen und Gegenwärtigen zu lenken. Ein leichtes Kopfnicken, verbunden mit einem Lächeln, hob die eingefügte Bitte innerhalb der gestellten Frage heraus.

    Aintzanes Anwesenheit drang erst in mein Bewusstsein, als sie mich ansprach. Ich blickte sie verwundert an, weil ich ihre Annäherung nicht bemerkt hatte. Von einem tiefen Einatmen begleitet wischte ich mir die nasse Spur auf der rechten Wange fort, ehe ich wieder geradeaus schaute. Die akkurate Abdeckung der Gesichtshaut war verwischt. Noch vor Wochen wäre mir das nie passiert, heute dachte ich nicht einmal darüber nach.


    Ich ließ die an mich gerichteten Worte lange nachklingen, bevor ich antwortete. Ein angedeutetes Kopfschütteln schickte ich voraus.


    „Nichts ist in Ordnung“, murmelte ich.


    Mehr bekam ich nicht heraus. Was ich fühlte, konnte ich ohnehin nicht in Worte fassen, manchmal nahm eine gähnende Leere viel mehr Raum in meinem Innern ein als ein möglicher Gedanke, den ich als Erklärung hätte äußern können. Dass meine Adoptiveltern nicht mehr am Leben waren, wusste jeder. Diese Tatsache zu akzeptieren, fiel mir unglaublich schwer. Viel schlimmer war aber das Empfinden, dass mein Lachen, meine Zuversicht und mein Glück scheinbar mit ihnen gegangen waren.


    „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich je wieder unbeschwert und glücklich sein kann“, erklärte ich mit leiser Stimme, die durch das Vibrieren der Stimmbänder unnatürlich hoch klang. „Es gibt nichts, worauf ich mich freuen kann.“


    Ein Frösteln erfasste mich, wodurch zu der Kälte im Innern eine äußere Gänsehaut kam. Ich fasste nach der Palla, die sich bei genauerem Hinschauen als Militärmantel erwies, und zog den festen Stoff enger um mich. Ein kleines Lächeln huschte mir über das Gesicht, als mir klar wurde, wer mich mit dem wärmenden Kleidungsstück versorgt hatte. Nunmehr hatten meine Augen ein Ziel und schauten nicht mehr in eine unbestimmte Ferne. Während Aintzane über eine Antwort nachdachte, schaute ich möglichst unauffällig zu ihm. Der Tod unserer Eltern hatte uns nicht näher zusammengebracht, sondern eine Kluft entstehen lassen, die – einmal vorhanden – nur mit Anstrengung zu überwinden war. Einerseits fühlte ich mich aus der Entfernung sicherer, Schlechtes konnte mich so nur erschwert treffen, aber andererseits plagte mich auch die Sehnsucht nach seiner Nähe. Ich hätte seine Aufmerksamkeit gebraucht und ihm gerne welche gegeben, nichts wäre derzeit eine bessere Ablenkung gewesen, aber bei aller Kenntnis, die ich besaß, war es kaum möglich, hinter die Maske der überdimensionalen Beschäftigung zu schauen, um zu ergründen, wo denn nun eigentlich seine Wünsche lagen.


    Daher seufzte ich resigniert, was auf Aintzane wohl als Untermauerung der zuvor gesagten Worte erscheinen würde.




    edit: Zusatz.

    Seit der Nachricht über den Tod meiner ehemaligen Adoptiveltern verfolgten mich nachts Albträume und tagsüber glaubte ich in manchem Rücken, den meiner Mutter oder meines Vaters zu erkennen. Doch immer dann, wenn ich den Schritt beschleunigte, um mir zu beweisen, dass meine Trauer völlig unnötig war, musste ich enttäuscht erkennen, dass ich nur einem Wunschtraum hinterher gelaufen war. Zurück blieb ein bedrücktes Gemüt, dem Lachen ebenso fehlte wie Zuversicht. In mir und um mich herum war Leere. Ich suchte verzweifelt nach einem Halt, fand aber keinen.


    Mit ernstem Gesicht trat ich an dem einst von mir herbeigesehnten und heute so gleichgültig erlebten Abreisetag vor die Villa, betrachtete flüchtig das auf dem Boden verstreute Geschirr, ließ den Blick anschließend über die emsig hantierenden Sklaven streifen und setzte mich ganz entgegen patrizischer Art auf einen nahmen Feldstein, der fast so hoch wie ein Hocker war. Ich schlug die Beine übereinander, stützte einen Ellbogen auf das Knie und legte das Kinn in den Handteller. Der leichte Wind strich durch mein Haar und mir schien, als sei er der einzige, der mich umgab, berührte, der mir beistand. Ich war einsam, schrecklich einsam. Gespräche mit anderen erledigte ich mechanisch, sie füllten mich nicht aus. Mir schien, es gab nichts, worauf ich mich freuen konnte. Zumindest konnte ich nichts sehen.


    Mein Blick war in die Ferne gerichtet, die Gedanken weilten offensichtlich auch an einem anderen Ort, denn im Gegensatz zu früher beließ ich die in das Gesicht gewehten Haarsträhnen wo sie waren. Mutter hätte sie mir zur Seite gestrichen. Durch die Erinnerung löste sich langsam eine Träne und rann die Wange hinab, bevor sie auf meinen Schoß plumpste. In meiner Fantasie war es meine Mutter, die mir die Palla um die Schultern legte, und nicht die Sklavin, der mein unvollständiges Ankleiden aufgefallen war. Ich seufzte leise, aber vernehmlich. Auch wenn ich nie alleine war, fühlte ich mich stets einsam.

    Meine Ahnung bestätigte sich, es ging Prisca tatsächlich nicht gut. Ich wollte geduldig warten, bis sie von alleine berichtete, drängen entsprach nicht meiner Art. Der von mir gehaltene Blickkontakt, den ich nur beim Platznehmen unterbrach, signalisierte jedoch in Abweichung zu meiner Schweigsamkeit meine Aufnahmebereitschaft. Mir fiel erst jetzt ihre Abgespanntheit auf. Sie beinhaltete mehr als die Erschöpfung von einer anstrengenden Reise und einem nicht minder anstrengendem ersten Tag in Mogontiacum.


    „Oh, … das … wusste ich nicht …“, stammelte ich, denn ich fühlte mich plötzlich meiner Souveränität beraubt. Es wäre von mir vermessen gewesen zu glauben, ich könne auch nur im Ansatz nachempfinden, wie schwer es war, den Verlust eines Elternteiles beklagen zu müssen. In gewissen Weise hilflos klangen Priscas Worte in mir nach.
    Ich konnte mir denken, warum Marc den schlimmen Krankheitszustand von Priscas Mutter mir gegenüber verschwiegen hatte. Er hätte mich nur an unsere Mutter erinnert, der es gleichsam schlecht, sehr schlecht sogar ging, was ich aber bisher mit Erfolg verdrängen konnte.


    „Es tut mir jetzt so leid, dass ich gestört habe. Wie unpassend muss dir mein Besuch zu dieser Stunde erscheinen.“


    ‚Wie ungeschickt’, dachte ich bereits, als das letzte Wort verklungen war. Aber was sagte man am besten in so einem Fall? Dass man versteht? Unmöglich, ich konnte es nicht nachempfinden. Dass man mitfühlt? Aber konnte ich das denn tatsächlich? Einwas jedoch ging ohne Zweifel: Hilfe anbieten.


    „Prisca, ich fürchte, ich kann nicht einschätzen, wie du dich fühlen musst, denn mir ist nie Vergleichbares passiert. Sicher, ich stelle es mir schrecklich vor, und doch wird meine Vorstellung kaum an die Realität heranreichen. Wenn du aber Ablenkung brauchst oder jemanden, der zuhört, jemanden, der einfach da ist, um mit dir gegen die Einsamkeit zu kämpfen, dann zögere nicht und sag mir Bescheid. Vielleicht lebt sich die Folgezeit leichter, wenn man weiß, man ist nicht allein.“


    Es war eine Vermutung, mehr nicht. Mir zumindest würde es helfen, aber ich wusste, die Menschen waren verschieden und ich kannte Prisca nicht. Flüchtig dachte ich über die Todesursache nach, die sie erwähnt hatte. Hm, Aussatz. Das war keine feine Angelegenheit und zudem ein grausamer Tod. Unwillkürlich trat ein kummervoller Ausdruck auf mein Gesicht, der jedoch durch meine anschließende Forschung in ihren Gesichtszügen wieder verschwand. Prisca schaute mich wieder direkt an. Sie wirkte unsicher, als sie erwähnte, Marc solle nach dem Wunsch ihrer Mutter ihr Tutor sein. Diese Unsicherheit, die fast entschuldigend wirkte, war es, die mich über die weitere Vereinnahmung meines Verlobten durch andere hinwegsehen ließ. Sie hatte es sich nicht ausgesucht. Während andere weibliche Wesen Marcs Nähe offensiv suchten, schien es ihr sogar unangenehm zu sein, für Umstände zu sorgen. Das machte sie sympathisch, mehr noch als je zuvor.


    „Ja, es ist doch gut, wenn du von nun an bei uns bleiben sollst“, erwiderte ich leise. „Marcus wird dir eine große Hilfe sein. Du wirst sehen, er ist sehr fürsorglich. Er kümmert sich um jeden einzelnen, fast mehr noch als um sich selbst.“


    Ein sanftes Lächeln umspielte meine Lippen. Hätte ich Prisca näher gekannt, würde ich sie vermutlich jetzt umarmen, aber so blieb ich in meinem Korbsessel sitzen und blickte sie mit einem aufmunternden Kopfnicken an.

    Mehr oder weniger neben mir stehend nahm ich die Situation wahr, in der sich Marc umdrehte und auf mich zukam. Ich wollte seine Nähe nicht und war doch unfähig, etwas dagegen zu tun. Glaubte er im Ernst, mich nun trösten zu können? Nachdem er mich vor Tagen derart zurückgestoßen hatte? Was hieß hier eigentlich: ‚Ich konnte es dir doch nicht sagen.’? Er hätte es nicht nur können, sondern auch tun müssen! Stattdessen hatte er seine Unfähigkeit in einen Schlag in mein Gesicht umgewandelt. Das Bewusstsein dessen stand mir nicht klar vor Augen, aber es drückte sich in meinem Wunsch nach körperlichem Abstand aus, der jedoch von ihm nicht wahrgenommen oder ignoriert wurde. Aufstehen war mir in diesem Moment nicht möglich.


    Ich spürte die Berührung an meiner Schulter und machte eine halbherzige Fortbewegung, die jedoch nicht ausreichte, um seine Hand zum Abrutschen zu bringen. Halbherzig deswegen, weil ich hauptsächlich damit beschäftigt war, die unfassbare Neuigkeit wie auch immer zu verstehen, was mir bislang nicht einmal im Ansatz gelungen war. Derart konfus, weil ich die Nachricht vom Tod beider Elternteile im Grunde erst gar nicht in mein Denken eindringen lassen wollte, gelang es ihm, mich zu überrumpeln. Wider Willen bemerkte ich, wie eine Seite in mir seine Geste, in der er mich heranzog, als angenehm, ja sogar hilfreich empfand. Ich protestierte still gegen seine vollständige Umarmung, die, so gut sie sich auch anfühlte, meinem Vorhaben entgegenwirkte, ihn längerfristig für sein Fehlverhalten büßen zu lassen.


    Wäre ich in der Lage gewesen, klar zu denken, hätte ich mich gefragt, was tat er denn da? Ich wollte doch fortlaufen, meinen Schmerz für mich alleine spüren! Er hatte es mir auch nicht gestattet, an seinem Schmerz Anteil zu nehmen. Dieser Stachel saß tief in meinem Herzen. Ich wollte ihn zudem deutlich spüren lassen, wie tief verletzt ich doch wegen der Zurücksetzung hinter andere Verwandte oder die Gleichsetzung mit ihnen war.
    Weiter hätte ich mich gefragt, warum verhielt er sich denn so? Wusste er denn nicht, dass er damit meine Abwehr gefährdete? Ja, sie sogar niederreißen würde? Sie zusammenbrach?
    Aber ich war nicht in der Lage zu denken, mich selbst auszuforschen. Mir war in diesem Moment nicht bewusst, dass ich zwischen Corvi, meinem ehemaligen Bruder, und Marc, meinem Liebsten, trennte. Eine Trennung, die wiederum ungerecht war, denn auch als Bruder hätte er mich nicht ausgrenzen dürfen und gerade tröstete er auch in seiner Rolle als Mann. Und doch erschien er mir als Bruder nahezu vorbildlich, praktisch schon unfehlbar, als Verlobter hingegen machte er unglaubliche Fehler. Diese Unterscheidung hing aber in meinem Empfinden nur mit meiner Zuordnung seines Verhaltens in Vergangenheit und Gegenwart zusammen.


    Ja, ich war ungerecht, verknüpfte wüst, denn in meinem Kopf herrschte Krautsalat. Ich hatte die Eltern meiner Kindheit verloren, zwei Elternteile von den verschiedenen, die ich inzwischen besaß, und doch die einzigen, die von Bedeutung waren. Eine Lücke, die kaum von jemand anderen zu füllen war. Und doch würde ich in naher Zukunft permanent nach Ersatz suchen, denn größer noch als die Trauer war die Angst, die mich erfasste. Plötzlich erschien mir das Leben feindlich gesinnt, es trug bösartige Züge. Wie sollte ich nur den Boden unter den Füßen zurückerlangen?


    Ich fühlte mich mehr und mehr in seinen Armen geborgen, gab die innere Verkrampfung auf, ließ auch körperlich locker. Und obwohl normalerweise liebevolle Zuwendung bei mir stets jede noch so mühsam aufrechterhaltene Fassade zum Einsturz brachte, weil eben nichts so Tränen lösend wie Trost war, blieben genau diese aus. Ich starrte mit aufgerissenen Augen auf die gegenüberliegende Sitzbank, fühlte mich leer, wie noch nie zuvor, in Teilen abgestorben, verloren, haltlos, obwohl ich gehalten wurde. Aber er konnte nicht Vergleichbares geben, was ich verloren hatte, konnte momentan nur notdürftig auffangen. Ich befand mich in einem Loch, dessen Wände mir derart hoch erschienen, als müsste ich für alle Zeit darin gefangen bleiben. Eingeschlossen, einsam, zur Untätigkeit verdammt, lebendig begraben.

    Sein Erscheinen hatte mich aufgerüttelt: Ich hörte wieder die leisen Geräusche der Natur, auch wenn meine Aufmerksamkeit im Grunde ungeteilt bei ihm war. Mir war klar, dass eine abweisende Geste einen Rückzug zur Folge haben konnte, und hätte er derart reagiert, wäre er in meiner Wertschätzung weiter gesunken. Aber er blieb, was ich allerdings durch keinerlei Reaktion honorierte, aber mit allen Sinnen, die für ihn nicht erkennbar waren, wahrnahm. Warum sollte ich auch diese aus meiner Sicht größte Selbstverständlichkeit honorieren? Er hatte – wiederum aus meiner Sicht – sogar eine ganze Menge wieder gutzumachen, falls es überhaupt wieder gutzumachen war. Ich merkte in diesem Moment, dass ich – völlig untypisch für mich – nachtragend war. Und ich bemerkte, dass er mich zu einem Teil verloren hatte. Nicht wegen der unwürdigen Behandlung im Bad, da wären Entschuldigungen sicherlich heilsam gewesen, sondern wegen der von mir empfundenen Gleichsetzung mit jedem beliebigen anderen Familienglied. Ich spürte weder eine sich abhebende Vertrautheit noch eine besondere Fürsorge, keine gehobene Achtsamkeit und vor allem auch keine besondere Wertschätzung. Der einzige Unterschied zu anderen bestand vielleicht darin, dass ich körperliche Reaktionen auslösen konnte, aber das war mir zu wenig. Ich wollte nicht nur als Frau, sondern auch als Mensch eine besondere Stellung innehaben. Es war die in der letzten Zeit praktizierte Demonstration, dass er genau diese von mir erhoffte besondere Stellung offensichtlich nicht empfand, oder zumindest nicht zeigte, die mich abwehrend, ja geradezu bockig und verschlossen gemacht hatte. Mir wurde in diesem Moment klar, dass es seines Einsatzes bedurfte, um mich wieder für ihn offen werden zu lassen.


    Es war unnötig, die Augen von dem anvisierten Baumstamm abzuwenden, im Augenwinkel verfolgte ich, dass er den Pavillon betrat. Ich registrierte durchaus sein Verhalten, auch wenn ich desinteressiert erschien. Und ich registrierte nicht nur, ich wertete förmlich aus. Jedes Fehlverhalten, oder das, was ich als solches empfinden würde, konnte die Mauer in mir höher ziehen. Er hielt eine räumliche Distanz ein, und als solche wertete ich sie auch. Daher verpuffte die zweite Entschuldigung noch wirkungsloser als die erste, er sprach sie weder in meine Richtung noch mit besonderer Überzeugung aus. Ich verhärtete innerlich bereits noch mehr, als mich seine nachfolgenden Worte erreichten. Aber es waren nicht einfach Worte, eine Mitteilung oder sonst was, es war die Vernichtung pur.


    Das Leben schien mit einem Mal erstarrt, die Zeit stillzustehen, der Raum um mich verschwand, machte einem Vakuum Platz, das mir die Luft aus den Lungen presste, jegliches Gefühl und jede Kraft raubte. Mutter! Ich wusste ja, dass es ihr schlecht ging. Ich hatte sogar ab und an versucht, mich an einen bevorstehenden Tod gedanklich zu gewöhnen, aber es war unmöglich, sich tatsächlich vorzubereiten. Die Nachricht schlug ein, aber nicht nur das. Geradezu ängstlich harrte ich aus, weil Marc im gleichen Atemzug Vater erwähnte. Nur eben wie er es tat! Eine Form von Panik, etwas wie eine schlimme Vorahnung breitete sich in mir aus. Ich wollte es nicht hören, was er zu sagen hatte, und doch wartete ich regelrecht begierig darauf, dass er weiter sprach. Nichts ist schlimmer als Ungewissheit, doch er nahm sie mir bald.


    Die gefassten Arme lösten sich, ohne dass ich es wollte, die Beine rutschten von der Sitzfläche ab und ich fing den Oberkörper gerade noch mit den Armen ab, die Hände in das Holz der Bank gekrallt. Ich spürte, wie der Mund austrocknete, die Gedanken einfrohren. Eine Kraft – ich wusste nicht, woher ich sie nahm – hielt meine Gestalt in ihrer Sitzposition, unfähig sich zu rühren, funktional am Leben, ich stand unter Schock.

    Ich hatte mich seit jenem unschönen Erlebnis im Balneum und den darauf folgenden Ereignissen zurückgezogen, war still geworden, ernst, sprach nur das Nötigste und mied so gut es ging jeden Kontakt. Zwar hatte ich mich immer wieder dazu gezwungen, mich gedanklich nicht ausschließlich mit ihm und seinem Verhalten zu beschäftigen, sondern vielmehr eine Mauer zwischen ihm und mir zu errichten, um zu mir zurückzufinden, aber nicht immer gelang mir das. Immer wieder tauchten Gedanken, manchmal auch Bilder in Form von Momentaufnahmen oder gefallene Worte auf, die für mich nach wie vor unverdaulich waren.


    Über die würdelose Behandlung, die mir zuteil geworden war, hinaus hatte mich jedoch am allermeisten die Tatsache getroffen, dass er Helena weitaus besser behandelt hatte als mich. Ich war nicht nur verletzt, ich war gekränkt, unglaublich enttäuscht, und ich wäre es selbst dann gewesen, wenn er sie in vergleichbarer Weise wie mich behandelt hätte. Nach meinem Verständnis stand ich keinesfalls auf derselben Ebene wie Helena oder sonst wer aus der Gens, und ich würde mich von ihm auch nicht auf eine Einheitsebene runterziehen lassen. Diese für mich unglaublich erniedrigenden Handlungsweise erzeugte Wut. Wut auf ihn, weil er mich stets im gleichen Atemzug mit anderen nannte, so als wäre ich ein x-beliebiger Bestandteil seines Lebens, der ich noch nicht einmal zu den Zeiten war, als wir noch Geschwister waren. Wut auf mich, weil ich mir das bislang gefallen ließ. Wut, weil er sich im Ton vergriffen hatte. In letzter Zeit konnte ich mich sowohl in diese Wut als auch in tiefe Traurigkeit hineinsteigern. Letztere machte allerdings bedrückt, ich fühlte mich kraftlos. Spürte ich Wut in mir, spürte ich Kraft.


    Heute allerdings waren die Gefühle zu diffus, um richtig eingeordnet werden zu können. Ich wollte allein sein, vor allem das. Zu mir drang weder das Zwitschern der Vögel durch noch das Rauschen der Blätter, die sich anmutig im sommerlichen Lüftchen bewegten. Mein Blick war in eine unbestimmte Ferne gerichtet, ich hatte die Arme um die angezogenen Beine geschlungen und das Kinn auf ein Knie gelehnt. Zeitweise verließ ein schwerer Atemzug meinen Körper, aber ansonsten saß ich bis zu jenem Moment teilnahmslos da, in dem seine Stimme zu mir drang.


    Mein Kopf ruckte herum, ich blickte ihn einerseits überrascht, andererseits ohne jeden Ausdruck an. Was sollte ich auch empfinden? Freude? Ganz bestimmt nicht, trotz der Entschuldigung. Viel zu tief saßen die Verletzungen. Trauer über sein Verhalten? Mit dem er klar gemacht hatte, dass ich manches, aber sicher nichts Besonderes war? Nein. Mein Stolz ließ nicht zu, dass ich mir diese Blöße gab. Sollte ich die unterdrückte Wut zeigen? Sodass er wusste, er hatte mich getroffen? Die Macht besaß, mich zu treffen? Nein! War ich nichts Besonderes für ihn, sollte er auch nie erfahren, dass er etwas Besonderes für mich war, oder besser gewesen war.


    Und obwohl das Herz protestierte, boxte sich mein Verstand durch. Ich drehte den Kopf wieder in die vorherige Blickrichtung, fasste die Arme fester und schwieg.

    Ich blieb trotz der langen Pause, die entstand, vor der Tür, was ansonsten nicht meiner Art entsprach. Lauschen verabscheute ich ebenso wie Heimlichkeiten oder gar Intrigen, aber ich war mir nicht schlüssig, ob aus dem Zimmer leise Geräusche klangen oder ich einer Einbildung erlegen war. „Hmm.“


    Ich löste den Blick vom Fußboden und schaute auf das Türblatt, das bald darauf aufschwenkte und den Blick auf eine unsicher lächelnde Prisca freigab, die etwas zerknittert aussah, was ich darauf zurückführte, dass sie bereits geschlafen haben musste.
    Ihre Stimme klang matt, mit der sie Erklärungen lieferte, aber sie wirkten durcheinander und passten auch nicht zu meiner Vermutung.


    „Salve, Prisca“, entgegnete ich, lächelte wegen der sonderbaren Vorstellung, die ich nicht im Ansatz verstand, glaubte, es lag an meinem Vorstoß und fügte daher sogleich an: „Es tut mir leid, wenn mein Besuch dich verlegen macht. Das war nicht meine Absicht.“


    Dann jedoch kam mir ein Gedanke, während ich das Cubiculum betrat. Ihr Verhalten, das sich in den hektisch hervorgebrachten Worten offenbarte, erinnerte mich an früher. Ich hatte mich immer dann ähnlich verhalten, wenn ich mich von jemand erwischt gefühlt hatte.
    Ich grübelte, bei was ich Prisca wohl überrascht haben könnte, aber mir wollte nichts rechtes einfallen. Wieder einmal stellte ich fest, dass mir durchtriebene oder misstrauische Gedanken fremd waren, denn die Fantasie spuckte nichts Brauchbares aus, das eine Erklärung für den von ihr offenbar empfundenen Überraschungseffekt sein könnte. Also suchte ich erneut den Blickkontakt, weil mir die Augen meines Gegenübers stets mehr als dessen Worte sagten. Ich kannte Prisca nicht so genau, um beurteilen zu können, wie sie im Normalfall aussah. Als einfühlsamer Mensch, der ich schon immer war, lag aber die Vermutung nahe, dass es ihr womöglich nicht gut ging, sie nicht nur von der Reise erschöpft war, sondern Schmerzen oder gar Sorgen haben könnte.


    „Ich hätte dir jetzt gerne gesagt, wie hübsch du doch geworden bist, aber …“ Ich äußerte das versteckte Kompliment leise, weil mir die normale Sprache nicht angemessen erschien. Mein Blick streifte über ihr Gesicht, in dem so gar keine echte Freude zu entdecken war. Das Weiß ihrer Augen wies einen rosa Schimmer auf, mehr war jedoch im diffusen Licht nicht zu entdecken. „… geht es dir gut? Soll ich vielleicht doch lieber morgen wiederkommen? Oder …“ Flüchtig wog ich ab, ob ich zu weit vorpreschen würde, wenn ich sie meine Beobachtung wissen lassen würde, aber mir lag zumeist jeder Gedanke auf der Zunge, und da ich gegen keine Höflichkeitsregeln verstieß, also äußerte ich ihn doch. „… oder möchtest du reden?“


    Jetzt war ich es, die Prisca unsicher anblickte.

    „Das wird aber Zeit!“, empfing ich meine langjährige Sklavin. Bereits beim Öffnen der Tür hatte ich die Wanderung unterbrochen. Durch hastiges Winken nötigte ich Samira, endlich einzutreten und die Tür zu schließen.


    „Du musst für mich etwas erledigen. Es ist delikat, diskretes Vorgehen ist unabdingbar und es eilt.“


    Ich winkte sie heran und wartete, bis ihr Ohr in Hörweite für Flüstern war. Mein Anliegen war schnell erklärt, schwieriger würde die Umsetzung sein, und obwohl mir das Heikle der Situation bewusst war, eilte ich zu der Kommode in Fensternähe, zog das unterste Schubfach auf und griff nach einem prallen Geldbeutel.


    „Du reist sofort ab. Pack deine Sachen, das Geld ist ausreichend für eine zügige Überfahrt und die Erledigung meines Auftrages. Bei sorgfältiger Ausführung soll es dein Schaden nicht sein. Geh jetzt!“


    Ich folgte meiner Sklavin noch bis zu Tür, so als könne ihr diese kurze gemeinsame Wegstrecke Kraft für den restlichen Gang geben, auch wenn das ein Trugschluss war. Meine Hände halfen unnötigerweise nach, als sich die Tür schloss, ich behielt sie sogar noch länger am Holz, lehnte mich sogar an.
    Der Auftrag war erteilt, es gab kein zurück. Viel zu lange war ich in Germania von distanziert bis feindselig eingestellten Menschen umgeben gewesen. Es gab Neider, ich spürte es mehr und mehr. Ihr Vorgehen wurde immer dreister, fast hielten sie sich länger in seiner Nähe auf als ich, wurden sogar geduldet ...
    Niemand der mir zur Seite stand, keine Freundin, keine Schwester. Die Luft wurde mir zusehends knapp, ich hielt es bald nicht mehr aus. Samira war ein Hoffnungsschimmer, auch wenn ich noch nie in meinem Leben etwas derartig Böses in Auftrag gegeben hatte.


    Ich legte die Handflächen aneinander und presste sie vor den Mund. Nein, ich wollte Marc keinen Vorwurf machen, auch wenn er es vermocht hätte, mich von all der Last zu befreien. Aber er war blind für die verschiedenen Vorgehensweisen der verschiedenen Frauen, und ich verdrängte den Gedanken daran, dass es deswegen so war, weil es ihm ja vielleicht sogar gefiel. Ich schluckte bei dem Gedanken.


    Plötzlich spürte ich den übergroßen Wunsch, alles hinter mir zu lassen – Helena, Camryn und ja, auch Marc. Das war kein Leben, wie ich es mir vorgestellt hatte. Zögerlich setzte ich mich auf den Rand des Bettes und versank in Gedanken.

    Ob es an der Langeweile hier in Mogontiacum lag oder doch eher an den unbefriedigenden Entwicklungen, ich wusste es nicht, aber nach längerer Zeit der Niedergeschlagenheit, der teilweisen Frustration und dem Wunsch, mir wieder Luft zum Atmen zu verschaffen, reifte zunächst ein Plan und schließlich der Entschluss, ihn umzusetzen.


    Ich ließ heute nach Samira schicken, denn bei ihr wusste ich, sie war nicht nur zuverlässig, sondern auch diskret. Vor allem auf diesen Aspekt legte ich vermehrt Wert, war mein Vorhaben doch heikel genug. Ungeduldig ging ich in meinem Zimmer auf und ab, weil der Plan jetzt wiederum nicht schnell genug umgesetzt werden konnte. Wo blieb sie denn bloß? Durchaus entnervt blieb ich stehen, starrte die geschlossene Zimmertür an und begann erneut mit der Wanderung.


    "Samira, nun mach schon!", grummelte ich, ohne im Schritt nachzulassen.

    Verwundert ruckte mein Kopf zurück und betrachtete das undurchsichtige Holz der Tür, als ich zunächst das Krächzen und in unmittelbarer Folge den Hustenanfall hörte. War Prisca etwa krank angereist? Womöglich schwer krank? War das vielleicht der Grund ihres überraschenden Aufenthalts? Andererseits fand ich das auch unwahrscheinlich, denn wer schickt schon einen auf der Lunge oder den Bronchien kranken Mensch nach Germania? Nein, das konnte nicht sein. Hm, aber mysteriös fand ich die Umstände doch.


    Wieder näherte ich mich mit dem Ohr der Holzfüllung und lauschte für kurze Zeit. Da sich aber nichts regte und ich auch nicht noch länger untätig herumstehen wollte, hob ich erneut die Hand, um zart anzuklopfen.


    „Prisca? Ich wollte dir nur ein Willkommen wünschen. Oder soll ich morgen wiederkommen? Hier ist Deandra.“


    Unwillkürlich verglich ich Prisca mit Helena, weil ich bislang noch kein Bild von ihr hatte. Vielleicht war meine Idee doch nicht so gut, womöglich war Prisca in gleicher Weise reserviert und liebte es, sich zurückzuziehen. Anders konnte, oder besser wollte ich mir Helenas Verhalten nicht erklären. Aber ich wollte nicht urteilen, bevor mich die Realität nicht eines besseren belehrte. Vielleicht hatte ich ja auch Glück und Prisca ähnelte Epicharis. Gespannt wartete ich auf ein weiteres Zeichen von ihr.

    Priscas Ankunft wurde mir erst spät gemeldet. Vermutlich lag es daran, weil ich, um der germanischen Einsamkeit zu entgehen, entweder kaum in der Villa oder zurückgezogen auf meinem Zimmer weilte. Ich vermisste eine Freundin, dachte in letzter Zeit immer häufiger an Epi, an Italia und fragte mich, ob Prisca ähnlich wie Helena war.
    Zwischen mir und Helena stand etwas, ich konnte es nicht benennen, aber ich spürte es. Wir verstanden uns, aber eine innige Nähe wollte nicht aufkommen, wobei mir nicht klar war, an wem die Zurückhaltung lag. Auf die Idee, sie könnte romantische Gefühle für Marc hegen, kam ich nicht. Dafür verhielt sie sich zu geschickt und ich war vermutlich zu naiv.


    Es war nicht nur Höflichkeit, die mich den Entschluss fassen ließ, Prisca wenigstens noch begrüßen zu gehen, sondern auch eine Portion Neugier. Ich wollte mir ein Bild von der neuen Bewohnerin machen, wollte herausfinden, ob sie eine liebe oder eher eine furchtbare Person war, also schritt ich zielstrebig auf die Tür zu ihrem Cubiculum zu, verhielt den Schritt und hob bereits die Hand, um an das Holz zu klopfen, als ich nochmals innehielt.


    Tja, was wusste ich eigentlich über Prisca? Im Grunde gar nichts, nicht einmal, warum sie jetzt bei uns wohnte. Gesprächsthemen würden wir also genug haben, und in Anbetracht meiner übermäßigen Langeweile kam mir die Abwechslung zudem recht gelegen.


    Meine Hand zögerte daher nur kurz, bevor ich zweimal mit den Knöcheln an das Holz tippte. Hoffentlich hatte sie es gehört und schlief noch nicht, es war immerhin schon recht spät. Ich lauschte mit auf den Boden gerichtetem Blick, um auch das kleinste Geräusche hinter der Tür wahrnehmen zu können.

    In gleicher Weise, wie Arsinoe fast schon postwendend wusste, dass nach Camryn und Sofia sogar Deandra lautstark aus dem Bad geworfen wurde, sprach es sich unter den Sklaven, deren Neugier inzwischen angestachelt war, schnell herum, dass Helena nicht nur den Herrn in seinem Schlafzimmer aufsuchte, sondern von ihm auch noch geduldet wurde. So kam es, wie es kommen musste: Meine Leibsklavin überbrachte die Neuigkeit, die ich zwar nicht hören wollte, um deren Übermittlung ich aber sogar gebeten hatte.


    Der Abend hatte kaum begonnen, das Abendessen war noch nicht eingenommen, und doch gab es für mich nichts Anziehenderes als mein Bett. In die ohnehin bedrückte Stimmung, die immer dann entstand, wenn ich nicht an seiner Seite stehen durfte oder, noch schlimmer, er nicht an meiner Seite stand, schlug diese Nachricht wie ein Steingeschoss ein. Die Tränen schossen nicht in Sturzfluten, sondern sammelten sich langsam, dafür aber mit bemerkenswerter Beharrlichkeit.