Seit Priscas Ankunft in Germanien hatte sich vieles für mich geändert. Ich verbrachte so viel Zeit wie möglich mit ihr, was sich nach der Todesnachricht meiner Adoptiveltern noch mehr verstärkte. Wir teilten ein vergleichbares Schicksal, die Wunden waren annähernd gleich frisch, vor allem aber mochte ich ihre Art. Sie hatte etwas Liebes an sich, ich konnte mich ihr anvertrauen, denn ihr Wesen war offen und herzlich. So war es nur natürlich, dass ich auf der Reise entweder ihre oder Corvis Gesellschaft suchte, wobei sie es im Gegensatz zu ihm besser verstand, mich aufzuheitern.
Manchmal grübelte ich darüber nach, warum er sich so verändert hatte, aber ich konnte mir seine Distanz nicht erklären. Eigener Fehler war ich mir nicht bewusst, und auch die Vermutung, Helena könnte sich zwischen uns gedrängt haben, verwarf ich nach einiger Zeit wieder. Ließ ich den Abend, an dem er sie mir vorgezogen hatte, einmal außer Betracht, verhielt er sich im Grunde untadelig. Helena allerdings mied ich weitestgehend, denn ohne ihre Eigenmächtigkeit, wäre die Bilanz dieses Tages für mich trotz seiner unbeherrschten Art deutlich erfreulicher gewesen.
Die Tage brachten Ablenkung, um nach einer gewissen Verarbeitungszeit nicht mehr fortwährend an den Verlust der Eltern denken zu müssen, aber in den Nächten holte mich tagtäglich die Angst und das Gefühl, verlassen zu sein, ein. Ich fürchtete mich beständig vor dem Alleinsein, ging immer später ins Bett, stand zeitig auf, bekam dunkle Schatten unter den Augen und wirkte selbst in den stillen Momenten des Tages bedrückt. Von Prisca Geborgenheit zu erwarten, wäre zu viel verlangt gewesen, denn erstens trug sie an einer ähnlichen Last und zweitens konnte eine Frau bestenfalls in der Rolle als Mutter Nestwärme und Schutz spenden. Ich seufzte und kehrte in die Wirklichkeit zurück.
Ein Blick aus dem Fenster überzeugte mich davon, dass wir in naher Zukunft keine Station erreichen würden. Allerdings meldete sich ein gewisses Bedürfnis bereits seit geraumer Zeit in kurzen Abständen. Vermutlich würde mein Anliegen daher nicht unbedingt auf Verständnis stoßen, aber zu ändern war es nicht. Ich schob den inzwischen recht dünnflüssigen Stuhlgang auf die Eier der Straßenstation am Morgen. Ich rekelte mich verlegen, um zugleich die verkrampften Glieder etwas zu lockern, warf einen weiteren Blick nach draußen und beschloss, nicht mehr länger abzuwarten.
„Ich müsste mal wieder ein inzwischen dringendes Bedürfnis stillen.“
Zunächst blickte ich zu Prisca, anschließend zu Corvi, der vor sich hindämmerte.