Das Leben war so ungerecht! Ich bestand wie Marc aus Fleisch und Säften, ich liebte und begehrte wie er, ich durfte so wenig mit ihm schlafen wie er mit mir und mir ging es mit dieser erforderliche Zurückhaltung so schlecht wie ihm. Ich atmete schwer aus, so als würde ich die Last von uns beiden alleine tragen, und im Grunde verhielt es sich auch so. Ich spürte, dass er nicht länger bereit war, Zurückhaltung zu üben. Gleichzeitig wusste ich, dass er sein Wort gegenüber meinem Vater nicht brechen würde. Die Lösung hieß irgendwie, aber nicht Deandra, es war üblich, statthaft und doch verletzte es mich zutiefst.
Das Leben war ungerecht. Ich hatte auch Wünsche, große Sehnsüchte, und was wurde aus mir?
Die in Warteposition verweilende Sehnsucht, das gewaltsam gestoppte Verlangen, die aufgeschobene Teilerfüllung und diese trüben Gedanken trugen dazu bei, dass sich Resignation mit Begehren und Traurigkeit mit Leidenschaft mischte, ein Cocktail, der so gut wie unverdaulich war. Während Marc an seinem ersten Brief arbeitete, überlegte ich, welche Möglichkeit es für mich gab, die mein Leiden mildern würden, denn anders konnte man es nicht bezeichnen. Gab es Mittel zur Betäubung? Zur körperlichen und geistigen Ruhigstellung? Ein Abreagieren an anderer Stelle war für mich indiskutabel. Ich nahm mir vor, gleich morgen zu einem Medicus zu gehen.
Die Zeit tropfte schwerfällig dahin und ließ mir viel zu viel Raum für trübe Gedanken. Ich überlegte, wo ich die beiden Ärzte, die mich bereits kannten, treffen würde. Einer, so glaubte ich mich zu erinnern, war Meridius’ Leibarzt und als solcher sicherlich mit dem Legaten abgereist. Blieb noch der Legionsarzt. Ein Schmunzeln huschte bei dem Gedanken über mein Gesicht, ich würde ihm mein Leid schildern und dabei erklären, dass es nur daraus resultierte, weil ich mit dem Tribunus seiner Einheit noch nicht verheiratet bin. Die Vorstellung war derart witzig, dass ich lachen musste. Zu spät fiel mir ein, dass dieses Beben sicherlich unpraktisch beim Briefe schreiben war, daher hielt ich sofort inne, indem ich die Atmung stoppte und auf seine Reaktion wartete. Offensichtlich hatte ich Glück gehabt, der erste Brief war erledigt, ich atmete erleichtert aus.
Ich dachte, jetzt musste Rühren erlaubt sein, außerdem wurden mir langsam die Arme schwer, weil sie in viel zu hoher Position verweilen mussten. Ich streckte die Glieder und auf seine Frage, ob es noch gehen würde, antwortete ich mit einem wenig aufschlussreichen: „Na ja…“
Eine Idee schoss mir durch den Kopf: Ich hatte nur zugesagt, mich ruhig zu verhalten, nicht aber die Arme in unbequemen Höhen zu belassen. Die neue Position war unterhalb des Bauchnabels und nicht nur bequemer, sondern auch reizvoller, was meine Gedanken nunmehr wieder stärker an Marc band. Ich atmete einmal tief durch, legte die Wange an seinen Rücken und streichelte imaginär seinen Bauch. So kurz davor und doch unerreichbar weit. Ich seufzte.
Wieder begann eine Wartezeit, die ich diesmal mit der Erforschung der Frage nutzte, warum sich körperliche Sehnsucht zu einer echten Plage steigern konnte. Vermutlich, so meine Hypothese, begehrte man das, was man nicht haben durfte oder konnte, umso mehr. Trotzdem erklärte das noch lange nicht, warum ein anderer Mensch mit seinem Körper ein solches Empfinden auslösen konnte. Warum entstand überhaupt diese Fixierung auf einen Menschen, der anders gebaut war? Was machte die große Anziehung gerade dieser anderen Bauweise aus? Alles Fragen, die ich mir auf Anhieb nicht zu erklären wusste. Währenddessen grassierten wieder die Kurzatmigkeit, das Herzrasen und der Aufruhr, dessen Ursprung nicht mehr zu orten war, weil er sich inzwischen überallhin ausgebreitet hatte.
Stunden mussten vergangen sein, wenn ich mein Gefühl danach gefragte, da war Marc endlich mit dem nächsten Schriftstück fertig. Es stellte sich heraus, dass es der Brief an meinen Vater war, vermutlich deswegen hatte die Fertigung soo lange gedauert. Regelrecht verblüfft, hob ich den Kopf, als mir das Pergament zur Fertigstellung nach hinten gereicht wurde.
„Ich könnte, aber du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich das auch mache.“
Ich nahm das Schreiben entgegen, lehnte mich zur Seite, um an die Kommode zu gelangen. Dort lag der Brief gut, wie ich fand. Einmal die Hände gelöst, nutzte ich die Chance und setzte die nächste Umarmung noch tiefer an. Tief genug.