Zu Händen der Artoria Medeia, wohnhaft in der Casa Artoria, gelegen in der ewigen Stadt Rom
Hast Du Dir, Schöne, nicht stets die Flügel gewünscht, die Dich über alle zu erheben imstande waren, die Dich frei machten von den Bedürfnissen, Wünschen und Begierden anderer, die Dich in eine Welt führen könnten, in der alles anders ist, die durch Deine Vorstellungskraft allein begrenzt sein würde?
Hast Du Dir, Schöne, nicht auch bisweilen beim Anblick Roms gewünscht, es könnte bisweilen einem Ort gleichen, der Dir nicht minder vertraut ist wie das Gewirr der Gassen und Straßen der als ewig bezeichneten Stadt?
Hast Du Dir, Schöne, nicht schon einen Teil dieser Welt geschaffen, ihn mit Musik, Bildern, lebendigen Erinnerungen gefüllt und immer wieder aufs Neue geschaffen, Erinnerung und Zukunft miteinander mischend, bis alles eins sein würde?
So mancher würde Dir ein Gedicht widmen, ein Schmuckstück schenken, Dich zu Banketten oder Festen einladen, um Dich mit dem sorgfältig ausgewählten Mahl zu beeindrucken, mit der Wichtigkeit der Gäste, mit persönlicher Macht oder mit Geschmack ausgewählter Möbel und Sklaven. Verzeih, meine Schöne, dass ich dies Dir noch nicht zu offenbaren vermag, mein Geschenk an Dich soll ein anderes sein, ein persönlicheres, das Dir allein gehören soll, und nur Dir gewidmet ist. Ich schenke Dir eine Erinnerung, die mir lieb und teuer ist, und so Dich meine Worte noch immer zu fesseln vermögen, folge mir mit Deinem Geist auf eine Reise, die Dir vielleicht vertraut sein wird. Schließe im Geiste Deine leuchtenden Augen, nimm Dir ein klein wenig Zeit un gönne Dir einen Traum, der immer für Dich da sein soll, wenn Du inmitten der hitzigen Enge Roms Dich nach ein wenig Freiheit sehnst.
Es ist Sommer, ein sehr heißer Sommer, der in Rom die Menschen aus den insulae treibt, da es in ihnen noch viel heißer ist als außen, überall hört man das Schnattern der Marktweiber, der Müßiggänger, jener, die sich von Brot und Spielen laben und dem kurzfristigen Vergnügen nachhängen, wo immer es ihnen möglich ist. Ein kühler Wind jedoch, gleichsam labend und erfrischend, ist es, der Dich aus Deinem cubiculum entführt, dessen zartem Griff Du folgst, als könntest Du wahrhaftig fliegen, nur getragen von den weichen Schwingen der Luft. Du erhebst Dich durch das Fenster über Deine casa, denn der Wind trägt Dich mit sich, Du fühlst diesen kühlen Atem des Stratos auf Deiner Haut, wie er Dich umschmeichelt, lockt und neckt zugleich, als spieltet ihr dieses Spiel schon tausend Sommer lang. Rote Ziegeldächer siehst Du von dort, wo Du Dich befindest, das Glitzern der Wasserleitungen, deren kühles Nass den dürstenden Menschen der ewigen Stadt Kühlung schenkt, Du siehst die Tempel hell und ehrfurchtgebietend emporragen, die Bauten, die den Menschen von den Kaisern und Ahnen geschenkt wurden - selbst den Palast des Imperators überquerst Du mit einer Leichtigkeit, als könnte Dich nichts hier mehr halten.
In der Ferne siehst Du das Meer azurblau glitzern, die Sonne umgarnt Dich ebenso zärtlich wie verlangend mit ihrem brennenden Blick, doch der Wind nimmt dich hinfort, über das würzig duftende Land hinweg, auf dem Du die Olivenbäume, die Zypressen und knorrigen Obstbäume nur noch als grüne und braune Gebilde aus der Ferne erkennen kannst, das wogende, gelbgrüne Gras der Ebenen wechselt sich mit dem graubraun der fernen Gebirge ab, und fast scheint es Dir, als könntest Du den Schnee auf den Gipfeln noch erahnen, der sich dort, von Wolken umkränzt, selbst im Sommer noch befindet. Wolkenhaft gleitest Du über die provincia Italia hinweg, erkennst die Städte an ihren winzig klein gewordenen roten Dächern, zusammengeballt wie die Ameisen, wenn sie einen Haufen bauen, doch trägt Dich der Wind weiter gen Süden, über das Meer hinweg, auf dem sich römische Flotte und Piraten tummeln, doch dies berührt Dich wenig, windet sich Dein luftgleicher Leib doch in der sanften, zärtlichen Berührung des Windes, wird durch jene mit einem zarten Kribbeln erfüllt, das sich über Deine Haut bewegt, Dich jedes hauchzarte Detail dieser Berührung fühlen lässt, als sei Dein ganzer Körper nur noch dazu geboren, zu fühlen, zu empfinden, sich diesem Rausch der Höhe zu überlassen, als seiest Du dafür geboren.
Behutsam lässt Dich der Wind tiefer gleiten, denn wieder hast Du Land erreicht, dieses Land, das ansonsten nur eine Erinnerung ist für Dich, eine Zeit, der Du vielleicht längst entwachsen bist, Schöne, und mit tausend Windfedern schlagen Deine Flügel, tragen Dich über die zerklüftete Küste hinweg, über kleine Dörfer, stolze städte, die einst die Wiege dessen waren, das uns heute als Kultur, als erstrebenswertes Ideal gilt, von jener Sprache umhüllt, die wir auch heute noch zu sprechen und zu schreiben lernen, da sie so viel lauthafter und melodischer ist als es unsere Zungen täglich formen. Du erkennst dieses Land, vielleicht nicht vom Blick, doch vom Gefühl her, Du kennst den Duft der Gräser, die sich im Sommer über das Land ziehen, karge Plätze mit Leben erfüllen, Du hörst das Rauschen des Windes in den Wipfeln der Bäume, als Du vorüberfliegst und Dein ureigenstes Echo sie berührt, die Äste beben in Deiner flüsterleisen Luftbewegung, als könnten sie Dich damit bei sich behalten, doch weiter fliegst Du, bis auf einem Hügel die vertraute Silhouette des Tempels erscheint, den Du nur zu gut kennst, thronend über einer Stadt, in der tausend Meinungen und abertausend Stimmen nicht genug sind, um sie zu beschreiben, denn ein jeder ist hier Philosoph.
Nur einmal noch hörst Du das Streiten der Weisen und nicht so Weisen auf der agora, das Feilschen der Händler mischt sich mit den plappernden Stimmen der einfachen Frauen zu einer vertrauten Melodie, Du siehst die Reichen gewichtig einher stolzieren mit ihrem geölten Haar, den gestutzten Bärten, wie sie junge Römer mitleidig und überlegen zugleich belächeln, die zum Lernen in diese Stadt gekommen sind, während die Straßenkinder eifrig versuchen, aus den nachlässig befestigten Beuteln die Sesterzen zu stehlen, alles geht seinen Gang, der vertraut und gleichzeitig gleichtönig ist, als würde sich dies auch in tausend Jahren nicht verändern. Und doch, als Du das Lächeln eines jungen Paares beobachtest, beider Tuniken kurz in Deiner windhaften Berührung flattern lässt und ihre Stirn und Arme kühlst, erinnerst Du Dich auch an die schönen Stunden, die Stunden der Feste, des Lachens, des Staubes an den Sandalen, der prallen Oliven, die auf dem Markt stets frisch zu kaufen waren, der süßen Trauben, deren vollreifer Geschmack die Sinne mehr zu betören weiß als die komplizierteste Speise, der erfrischende Geschmack kühlen Wassers nach einem heißen Tag ... und kühl erscheint Dir auch der Wind, der Deine Stirn umfängt, als Du aufwachst, Dich vielleicht umblickst und Dich fragst, ob dies ein Traum war, oder eine Realität, die Dir mit Worten geschenkt wurde - und vielleicht willst Du, Schöne, eines Tages einen weiteren Traum, eine Erinnerung teilen?