Flaccus Xenophanei suo s.
Es freut mich, zu hören, dass du gut in Alexandria angekommen bist, doch mehr noch, da du dich offensichtlich nicht im Geringsten verändert hast und noch ganz der Alte bist. Du schreibst, dass dir tausende Gedanken im selben Moment kommen und mir geht es nicht anders. Ich befinde mich schon seit geraumer Zeit in der Obhut des Purgitius Macer, eines der Konsuln dieses Jahres, der mich gleichsam als Tutor in das politische Leben der Stadt einführt. Mit derselben Kraft und Ausdauer, die diese Aufgabe verlangt, widme ich mich jedoch (du kannst beruhigt sein!), auch meinen Studien. Besonders am Abend wende ich täglich einige Stunden zur Lektüre auf, zweifellos die angenehmste Zeit des Tages. Denn so ehrenvoll und wichtig der Dienst am Staat und den Göttern auch sein mag, er ist ein officium, und als solches mit viel Anstrengung und Arbeit verbunden. Umso mehr freue ich mich, wenn ich zu späterer Stunde, mindestens jedoch nach der cena, wieder eine philosophische Schrift, etwas wissenschaftliches, oder auch einfach ein bisschen Lyrik, zur Hand nehmen, und bis in die tiefe Nacht hinein studieren kann, um die vielfältigen Pflichten und Sorgen des Tages etwas beiseite zu lassen.
Es freut mich außerdem, dass du dich auch in dieser Hinsicht nicht verändert hast: noch immer macht es dir anscheinend Freude, deinen Mitmenschen ihre Einfältigkeit nur allzu deutlich vor Augen zu halten. Gerade in der Geometrie gibt es durchaus gefinkelte Aufgaben, an denen selbst die größten Köpfe nur allzu oft zu verzweifeln scheinen. Doch, wie immer, hast du natürlich recht: aus Fehlern lernt man am meisten. "Fehler", sage ich, und mir kommt eine merkwürdige Begegnung in den Kopf, die ich vor einigen Wochen machen durfte und die einige Fragen in mir aufgeworfen hat, die ich bisher mit niemandem, denn keiner hier in Rom steht mir besonders nahe, besprechen konnte. Ich möchte dir als Freund davon erzählen, und bitte dich, mir auch als solcher mitzuteilen, was du davon hältst: Es war zum ersten Mal bei einer Feierlichkeit anlässlich der Verlobung einer Verwandten, als ich eine junge Frau sah, "eine junge Frau", habe ich geschrieben, und doch erschien sie mir in jenem Moment, und auch jetzt noch, wenn ich mich an diesen Abend erinnere, mehr einer Göttin, einer Nymphe, jedenfalls einem überirdischen Wesen zu gleichen. In ihrer Erscheinung lag etwas Sonderbares, etwas auf seltsame Weise Unfassbares, das, mich gänzlich in seinen Bann ziehend, alle anderen Gedanken nichtig und nebensächlich werden ließ. So genau habe ich selbst jetzt noch den Anblick vor Augen, dass ich ihn dir kurz beschreiben möchte: Sie ist von mittlerer Größe, sowie schlank und von überaus anmutiger Gestalt. Ihr Haar umfloss zum Teil ihre Schultern, den Rücken hinab, zum Teil war es kunstvoll geformt und mit goldenen Fäden und Blätternd durchwirkt. Ihr Kleid schien aus feinster Seide zu sein, in einem angenehmen Grün gehalten, nach griechischer, nicht römischer, Mode, äußerst locker und verspielt. Ihr linkes Bein umrankte eine zierliche Efeuranke, die den bezaubernden Anblick abrundete. Du kannst dir die plötzliche Faszination für jene junge Frau, als sie, einer Nymphe gleich, den Raum betrat, sicherlich vorstellen. Doch die Faszination hielt, ganz entgegen meiner Art, an, und im Laufe des Abends kam ich mit der jungen Frau ins Gespräch. Ihre Worte waren von anregendem Witz und schienen den bezaubernden Eindruck noch zu verstärken, als unser Gespräch auf sonderbare Weise gestört wurde. Flavius Piso, mein Onkel, gekleidet in eine Trauertoga, und sichtlich betrunken, mischte sich ein und beendete die zauberhafte Begegnung auf gleichsam barbarische Weise. Die junge Frau wollte mir jedoch nicht aus dem Kopf gehen, sodass ich sie zu einem weiteren Treffen in die Villa einlud, wo wir ein durchaus anregendes Gespräch (auch über Alexanria, denn dort hatte sie einige Zeit verbracht) führten, das jedoch zunächst von einem Gewitter unterbrochen wurde und, ähnlich dem früheren Treffen, ein seltsames Ende nahm. Denn als wir uns in der Bibliothek befanden, begann sie mit einem Mal etwas von Homer zu singen, schlicht und berührend, sodass auf seltsame Weise alle Erinnerungen an Nikodemos - o hättest du ihn doch nur einmal persönlich kennengelernt! - du weißt, was jener für mich bedeutet, plötzlich lebendig wurden, und mich erneut die Trauer um dessen viel zu frühen Tod übermannte. Eine einzelne Träne benetzte mein Antlitz und ich frage dich, ist das nicht eine normales Zeichen der Trauer? Haben nicht selbst die großen Helden um ihre Lieben geweint? Jedenfalls schien die Atmosphäre mit einem Mal auf sonderbare Weise beklemmend und unangenehm, sodass unser Gespräch nicht mehr lange anhielt. All dies ist schon einige Zeit her, doch die junge Frau will mir immer noch nicht so recht aus dem Kopf gehen. Als Freund habe ich dir diese Geschichte erzählt, und so erbitte ich nun auch deinen Rat als Freund. Zweifellos ist mir ihre Gesellschaft überaus angenehm, doch weiß ich nicht recht, wie ich mich verhalten soll. Ist es rechtens, Zeit mit einer jungen Frau (ich vergaß zu erwähnen: sie ist verwitwet), zu verbringen, wenn es der hedone dient, soll ich also der Lehre Epikurs oder aber eher den strengen Sitten der Alten folgen, nach deren Meinung eine junge Frau doch so wenig Kontakt mit anderen Männern als ihrem Ehemann haben sollte?
Deine Erzählung von Kleobis und Biton hat mich jedenfalls nachdenklich gestimmt, und ich bin im Moment noch zu aufgewühlt um in der nötigen Klarheit darüber zu schreiben. Zweifellos mag es oft zutreffen, dass jung stirbt, wen die Götter lieben, doch kenne ich durchaus auch Menschen die in Würde, Ehre und Glück alt werden. Du siehst, ich bin mir über diese Frage selbst noch nicht ausreichend im Klaren, um eine eindeutige Position zu beziehen, doch ich werde dir wohl das nächste Mal berichten, zu welchem Schluss ich gekommen bin. Wieder ist der Brief lang und doch viel zu kurz geworden, denn noch viele Fragen schwirren durch meinen Kopf und unzählige Dinge, von denen ich dir noch erzählen möchte. Lass' dir nicht viel Zeit für deinen Brief, denn ich erwarte ihn schon jetzt in kaum erträglicher Spannung. Berichte auch von Alexandria, vom Museion und all' den Wundern dieses Ortes, deren Kunde bis hierher nach Rom dringt, und so unglaublich erscheint, dass ich selbst sie kaum als wahr erachten kann. Mögen die Götter dir auch weiterhin wohlgesonnen sein und deine Wege behüten. Vale.