Freudestrahlend lässt sich Lucilla mit dem Brief ihres Neffen auf einer Liege im Peristyl unter einem kleinen, lauschigen Kirschbaum in einem großen Tontopf nieder. Als erstes nimmt sie den bunten Schal und lässt ihn durch ihre Finger gleiten. Ein feiner Stoff ist das, sicherlich hat sich Faustus dafür in Schulden gestürzt. Diese herrlichen, prächtigen Farben! Eigentlich ja viel zu grell für Rom, aber in Anbetracht des anbrechenden tristen Herbstes würde Lucilla die Mode in Rom einfach völlig auf den Kopf stellen. Und dann im Winter würde jede Frau in Rom, die etwas auf sich hält, händeringend auf den Mercatus nach diesen leuchtenden Farben suchen. Ein selbstzufriedenes, fast ein bisschen hinterhältiges Lächeln rutscht auf Lucillas Gesicht - das wäre eine Freude.
Doch vor dem Winter kommt der Herbst und vor dem Herbst kommt der Brief, den Lucilla nun anfängt zu lesen. "Liebe Tante Lucilla - herrje, das hört sich ja an, als wäre ich schon jenseits von Gut und Böse. Zum Glück bin ich nicht seine Großtante, das wäre ja was ... Pah, kein Haar krümmen, das wirst du mal sehen!" Mit einem unterdrückten Lächeln liest Lucilla weiter und freut sich über die Versicherung, dass es Faustus gut geht. Dann aber zieht sie die Augenbrauen zusammen. "A jeh, als wüsste nicht jeder Mensch, welcher Feldherr da in den Krieg zieht. Es ist doch unglaublich, für wie beschränkt unsere Generäle den Feind immer halten."
Trotzdem ist es in jedem Krieg das gleiche. Lucilla kennt es zur genüge, sie hat schon mehr geschwärzte Briefe aus irgendwelchen Kriegen bekommen als sie zählen kann, da immer irgendwer von den Decima im Krieg steckt. Sie würde Faustus schreiben müssen, dass es keinen Sinn hat, Namen zu nennen. Aber auch das würde seinen Enthusiasmus kaum trüben, denn dass er ganz freudig all dem entgegen geht, das liest man aus seinem Brief heraus. Ein typischer Decima eben, immer gut gelaunt und durch nichts unterzukriegen. Tatsächlich ist Lucilla sehr stolz auf ihn, wie auf jeden ihrer Soldaten, obwohl sie das natürlich niemals offen zugeben würde.
Dass der zuständige Postleser die Ortsangabe zwischen Euphrat und Tigris nicht gelöscht hat, kommt Lucilla etwas merkwürdig vor. Auf der Landkarte sieht das Gebiet gar nicht so groß aus, als dass man das vernachlässigen könnte. Oder ist die Legio I vielleicht gar nicht zwischen Euphrat und Tigris, Faustus hat sich nur geirrt und das ganze ist zur Verwirrung des Feindes im Brief geblieben? Oder ist es übersehen worden? Herrje, wie soll man denn da einen verlässlichen Artikel für die Acta Diurna draus machen?
Bei der Erwähnung der Seereise muss Lucilla lächeln. Obwohl viele Leute immer an Übelkeit und Brechreiz denken, wenn sie ans Meer denken, hat Lucilla noch keinen Decima erlebt, dem die See nicht gefallen hätte. Wahrscheinlich waren ihre Vorfahren in Tarraco Fischer, bevor sie angefangen haben Pferde zu züchten. Lucilla ist das Meer zwar nicht mehr ganz so geheuer, aber das hat nichts mit dem Meer zu tun, sondern mit einem gewissen unverschämten Piraten und seinem dämlichen Fluch. Das Krähennest jagt ihr daher eher einen Schauer über den Rücken und für einen Moment glaubt sie ein leises Flüstern zu vernehmen. 'Du bist der Fluch, Lucilla!' Sie schaut auf, doch es ist nur der laue Sommerwind, der durch die Blätter des Kirschbaumes streicht.
Lucilla schüttelt den Kopf um ihre Gedanken zu klären und kommt sich ziemlich albern vor. Das Kapitel Quintus Tullius hat sie abgeschlossen. Nachdem sie den nächsten Absatz gelesen hat, überlegt sie, wer der Centurio sein könnte, von dem Faustus erzählt, der sie kennt, dessen Name aber wie die übrigen geschwärzt ist. Eigentlich kennt Lucilla gar nicht so viele Soldaten, vor allem nicht aus der Legio I. Aber nachdem sie auf der Hochzeit von Medeia und Plautius gewesen ist, ist sie sich da nicht mehr so sicher. Vielleicht ist es sogar Matinius Plautius? Nein, das geht ja gar nicht, als Centurio darf man nicht heiraten, der war irgend etwas anderes. Da würde sie nochmal genauer nachfragen müssen, irgendwie würde Faustus schon den Namen hinschreiben können, und wenn er ein Buchstabenrätsel daraus machen müsste.
Faustus Reisebericht löst direkt Fernweh in Lucilla aus. Farben, Düfte, Leben - ja, das kann sie sehr gut nachvollziehen, dass ihm das gefällt. Am liebsten würde sie sofort ihre Reisekiste packen und nach Parthia aufbrechen. Vor allem nachdem er auch noch so von den Märkten schwärmt, das muss ja das reinste Paradies sein. Schon allein deswegen, weil sich die Parther vor der römischen Streitmacht verstecken. Ein feiges Pack ist das wohl!
Mit dem Hintergedanken, Faustus nicht nur die letzte und die nächste Ausgabe der Acta Diurna mit einzupacken, sondern auch noch ein paar besondere Grüße aus der Heimat, nimmt Lucilla ein Stück Papyrus und fängt an, eine Antwort zu schreiben.