Der Tempel des Mars Ultor ist Victor längst vertrauter als die Falten in seiner Toga und trotzdem ist er immer wieder beeindruckend. Das Gefühl wird vielleicht dadurch verstärkt, dass Vic schon einige Tage lang nicht mehr hier gewesen ist. Gemächlich geht er die Stufen zum Tempel rauf und bleibt zwischen den Säulen stehen. Er berührt den geriffelten Stein und grinst zufrieden vor sich hin. Mit oder ohne Renovierung, diese Säulen würde noch in tausend Jahren stehen.
Mit seiner kleinen Kiste unter dem Arm tritt der Septemvir an die große Tempeltür und schiebt sie ein Stück auf. Zu seinen Zeiten als Sacerdos waren die Türflügel schon am frühen Morgen geöffnet worden, doch der neue zuständige Sacerdos hält das anscheinend anders. Vic geht ins Tempelinnere, bleibt hinter der Tür stehen und zieht den unverkennbaren Duft von verbrannter Räuchermischung ein. Sein Blick wandert nach oben, zur fernen Decke und augenblicklich überkommt ihn das Gefühl unproportionaler Bedeutungslosigkeit. Zu der Zeit, als Victor noch nicht täglich in Tempeln unterwegs war, hatte er sich oft gefragt, warum die meisten aedes im Vergleich zur Höhe eher schmal und wenig tief sind. Später dann hat er die Wirkung immer wieder an sich selbst erlebt. In der Aula Regia, der gewaltigen Audienzhalle des Kaisers, kommt man sich nur klein und verloren vor. In einem Tempel dagegen ist man der Kultstatue und der durch sie repräsentierten Gottheit aufgrund der geringen Bodenfläche immer nahe, obwohl man sich auch hier durch die enorme Höhe klein vorkommt, aber eben unproportional klein. Dazu kommen dann sicherlich auch noch praktische Erwägungen, denn die Kultstatuen sind nunmal, egal ob sitzend oder stehend, eher hoch, als tief und breit.
In seine Gedanken versunken reinigt sich Victor die Hände am Becken neben der Tür und wendet sich anschließend der Statue des Mars Ultor zu. Er stellt seine Kiste auf den Boden und öffnet sie. Dann zieht er einen Zipfel seiner Toga über den Kopf, nimmt etwas Aloeholz und streut es über die Räucherkohle.
"Hoi, Mars." Vic wartet, bis sich der Rauch etwa in Höhe der Hüfte des Mars verteilt und unsichtbarer Bestandteil der Luft wird. "Ich hab heut nur ein paar kleinere Bitten. Zuerst mal," er holt zwei Opferkekse aus der Kiste hervor, "das Übliche in Bezug auf Sev und Al. Mut, Stärke, Kampfkraft, Sieg und so weiter." Die Kekse wandern auf die mensa. "Jo, und dann... also, es geht um meinen Cousin Decius." Vic zögert, nimmt aber doch zwei weitere Kekse. "Nuja, wie soll ich das sagen... also ich glaub mit ihm stimmt was nicht. Er hat noch nie mit ner Lupa, und... also anscheinend noch nichtmal sonst und denkt nichtmal dran, obwohl er schon weit über das Jungenalter hinaus ist." Stille breitet sich im Tempel aus, nur unterbrochen vom leisen Knistern der Räucherkohle. Die ganze Sache ist Vic ziemlich peinlich, denn so ein Cousin ist sogar vor den Göttern peinlich. Er legt hastig die Kekse auf den Gabentisch. "Also um was ich Dich bitten will ist Folgendes: ich denk, dem Jungen fehlt es vielleicht nen bisschen an der sprichwörtlichen Manneskraft und eventuell könntest Du da ein bisschen nachhelfen. Nur nen Schubs in die richtige Richtung, nen kleiner Anstoß, dat würd sicher schon genügen." Wieder breitet sich Stille aus, dieses mal durchbricht sie Vic mit einem Räuspern. "Jo, und dann... also, dann hab ich noch ne persönliche Bitte. Ich werd demnächst meinen ersten Bericht vor dem Collegium vorbringen müssen. Nuja, und du weißt ja, ich werd nicht still halten können. Ich hab mein Leben Dir gewidmet und ich werd nicht aufhörn zu Kämpfen, auch nicht als Septemvir. Ich weiß zwar, das mit den Worten is nicht so Deins, aber vielleicht kannst du mir trotzdem irgendwie nen bisschen beistehen. Ich werd mich auch bemühen, moderat zu bleiben."
Bevor sich wieder Stille ausbreiten kann, legt Victor drei weitere Kekse auf den Tisch und holt schließlich eine kleine Amphore aus der Kiste. Er öffnet sie gekonnt und gießt den Inhalt in eine Opferschale. "Auf Dich, Mamarce! Du kannst Dir gar nicht vorstelln, wie öde so ein Officium ist, und wie klein. Genauso hoch wie breit, wie tief."