“Mama?“ klagte die Stimme eines kleinen Kindes durch die brennende Ruine. Menschliche Ohren konnte sie nicht hören. Die meisten Menschen waren nur auf das beschränkt, was sie sehen und anfassen konnten, auf die Dinge, die ihnen begreiflich waren. Der Tod war für sie so erschreckend, so endgültig, dass sie seine wahre Bedeutung, seine wahre Größe nicht erfassen konnten. Darum hörten die wenigsten von ihnen auch das, was nach dem Tod von einem Menschen blieb.
Aber Mercurius war ein Gott, und Mercurius hörte. “Mama? rief es nochmal. Und er kam. Wie er bei jedem Tod kam. Leise, ruhig, pflichtbewusst. Es war seine Aufgabe, die Toten zu sammeln und zu Pluto zu bringen, damit er sie in seinem Reich aufnehmen konnte. Er war der einzige Gott, der in allen Reichen wandern konnte, seien es die Gefilde der Götter, der Menschen, des Meeres oder der Unterwelt. Daher war dies seine Aufgabe, da er als einziger sie alle erreichen konnte. “Mama, ich kann dich nicht sehen!“
Mercurius folgte dem Weinen. Das Feuer, das brannte, konnte ihm nichts anhaben. Seine Flammen schienen erstarrt, als er ruhig durch die brennende Ruine trat. Hinter einem umgestürzten Flechtkorb sah er das Mädchen, vielleicht vier Jahre alt, wie es sich versteckte und weinte. Dass seine fleischliche Hülle zu seinen Füßen lag, blutend und zerschmettert, bemerkte das Kind nicht. Mercurius, der es sonst immer so eilig hatte, ließ sich Zeit. Denn was war Zeit schon für einen Gott? Oder einen Geist? Gemessen am Leben einer Fliege war ein Augenblick eine Stunde. Was war also dieser Augenblick gemessen an der Unendlichkeit eines göttlichen Daseins? Nichts.
“Komm mit mir, Kind“ sagte er sanft und streckte dem Kind die Hände entgegen. Das Mädchen blickte auf aus verweinten Augen, die keine Tränen mehr vergießen konnten. Ich kann meine Mama nicht finden.“ “Ich helfe dir suchen. Sie kommt auch mit auf die Reise.“
Das Kind zögerte, einen Herzschlag, eine Unendlichkeit, und ergriff seine Hand. Sie ließen den brennenden Korb und die tote Hülle hinter sich und gingen weiter durch das Haus. “Mama hat gesagt, ich soll mich verstecken.“ “Ich weiß. Sie hat dich sehr lieb.“
Sie kamen durch die Küche, wo Mercurius einer verwirrten Haussklavin die Hand entgegenstreckte. “Der Schmerz ist vorbei. Komm mit.“ Sie war ein wenig verwirrt, sah sich um. “Warum?“ fragte sie nur. Warum, fragten fast alle. “Weil es deine Zeit war. Weil es so Sinn macht“, antwortete Mercurius, wie immer. Und auch, wenn sie noch nicht verstand, kam auch sie mit.
Sie gingen weiter, kamen noch an weiteren Seelen vorbei. Manche verwirrt, manche ärgerlich, manche weinend. Aber alle kamen sie mit. Im Atrium waren am meisten. Hier klagten sie am lautesten, weinten, schrien, hatten den Schrecken ihres Lebens noch mitgenommen in ihren Tod. Bis Mercurius sie berührte, einen nach dem anderen, ihnen die Ruhe wiedergab, den Frieden, die Zuversicht.
“Mama!“ rief das kleine Mädchen und flog seiner Mutter in die Arme. Mama, ich hab dich so lieb!“ Mercurius wartete, ließ Mutter und Kind sich vereinigen, ihre gegenseitige Liebe sich berühren, und kam dann langsam zu ihnen. “Kommt mit“, sagte er nur sanft und reichte auch der Mutter seine Hand.
Alle folgten sie ihm. Auch der Mann an der Wand, von seinen Leiden endgültig getrennt, folgte ihm. Das kleine Mädchen fragte: “Wohin gehen wir?“
“Dahin, wo alle Seelen gehen. Zu meinem Onkel, dem reichen Vater, Dis Pater.“ antwortete Mercurius wahrheitsgemäß.
“Ist es da schön?“ fragte das Mädchen.
Mercurius zögerte kurz, wog seinen Kopf hin und her. War es schön in der Unterwelt? “Es ist anders als das Leben. Gerechter, als das Leben. Es ergibt Sinn. Daher, ja, es besitzt Schönheit.“
Der Geist nickte, auch wenn er nicht verstand. Aber er würde es verstehen. “Werde ich meine Freunde wiedersehen?“
“Wenn es ihre Zeit ist, sicher.“
“Wann ist es ihre Zeit?“
“Bald, Kind. Du wirst die Wartezeit nicht bemerken.“
Ein Wind blies noch einmal über die Ruine, und dann waren Mercurius und all die Seelen, die hier auf ihn nur gewartet hatten, verschwunden.