Er wusste nicht genau, wie lange es bereits her war, dass er hierher gekommen war, doch merkte er langsam, wie seine Beine einschliefen. Er hatte sich in der letzten Stunde kaum bewegt und nur hin und wieder hatte ihm einer der Arbeiter einen etwas verwirrten Blick zugeworfen. Die Vögel schienen sich am heutigen Tage von der Stadt fernzuhalten, obwohl es Frühling war und es wieder deutlich wärmer wurde. Die ersten Tiere sollten längst wieder in den nördlicheren Bereichen zurück sein.
Er blinzelte und kniff dann die Augen zusammen. Es dauerte noch eine Weile, ehe einige schwarze Punkte am Horizont auftauchten. Keiner von ihnen schien zuerst Anstalten zu machen, in Richtung der Baustelle zu fliegen, doch nach wenigen Minuten löste sich ein Tier aus dem Schwarm, scheinbar von irgendetwas angelockt, und in seine Richtung.
Der Vogel lenkte in eine weitläufige Kreisbahn ein, deren Mittelpunkt nicht genau zu bestimmen war, die aber die Baustelle streifte. Das Tier raste lautlos am Rande seines Sichtfeldes vorbei, um dann nach vielleicht einer Minute wieder in ihm aufzutauchen. Ohne seinen Kopf zu bewegen folgte Tiberius dem Verlauf des Fluges mit seinem Blick. Die Kreisbahn verschob sich langsam, so dass die Baustelle mehr in den Mittelpunkt rückte. Der Vogel schien das etwas nicht zu finden, dass ihn angelockt hatte. Es schien Tiberius kurz, als sei er im Begriff, wieder zum Schwarm zurückzukehren, doch dann schlug er mit den Flügeln, gewann rasch an Höhe, so dass Tiberius den Kopf verrenken musste, um ihn über sich zu sehen, und setzte dann den Flug in kleineren Kreisen und mit höherer Geschwindigkeit fort. Das Raubtier suchte seine Beute.
Der Vogel öffnete den Schnabel und schien einen Schrei ausstoßen zu wollen, tat es aber nicht, sondern beugte den Kopf, ging in den Sturzflug und verlor rasch an Höhe, den Schnabel zum Reißen des Beutetiers geöffnet, die Krallen zum tödlichen Griff bereit. Nun verschwand das Tier wieder aus Tiberius' Blickfeld, doch er wandte sich nicht um, blickte nur starr weiter nach Süden. Er vermutete, dass es ohnehin wieder sein Sichtfeld durchqueren würde, um zum Schwarm zurückzukehren, der immer noch am Horizont entlang zog.
Seine Vermutung bestätigte sich. Der Vogel tauchte wieder auf, ein blutiges fleischiges Etwas in seinen Klauen. Lautlos raste er zurück zu seinen Artgenossen, das tote Beutetier machte ebenfalls kein Geräusch. Nur eine kleine Feder aus dem Kleid des Vogels, vielleicht vom Beutetier abgerissen, löste sich und sank langsam auf die Erde herab.
Tiberius löste sich mit einem Ächzen aus seiner starren Haltung und ging - nicht rennend, aber zielstrebig - dorthin, wo die Feder hinzufallen schien. Bei seinem Lauf stolperte er beinahe über einen Pflasterstein, der noch nicht richtig fest gemacht worden war, doch schritt er unbeirrt weiter, bis die Feder den Boden berührte. Sie war auf einem kleinen Haufen noch nicht weggeräumter Bruchsteine eines abgerissenen Gebäudes gelandet. Er beugte sich herab und nahm das kleine Stück mit einem Lächeln auf. Er richtete sich wieder auf und wandte sich an einen Arbeiter in der Nähe.
"He!", rief er, "Mein Name ist Tiberius Annaeus Sophus. Ich bin ein Augur aus Rom. Wie komme ich zum Duumvir?"