Weiche Blätter glitten an Medeias Schulter entlang. Vogelstimmen mischten sich zu einem harmonischen Chor und die Sonne wurde durch das zahlreiche Laubdach gemildert, fiel in Flecken auf den Weg, der zum Heiligtum in der Mitte führte. Interessiert betrachtete Medeia schon von Weitem den hoch aufragenden, seltsam anmutenden Bau. Sie hätte auf den ersten Blick eher einen Wassertropfen darin erkannt. Selbst wenn Strabon wohl eine andere Figur darin gesehen hatte. Zustimmend nickte Medeia. „Ja, ein Hort der Wunder.“, wiederholte sie leise und betrachtete den Bau interessiert. Ob sie den Weg ersteigen konnte und wollte, dessen war sich Medeia jetzt noch nicht sicher. Doch die Kühle des Parkes verschafften ihr schon einige Kräfte mehr. „Dass dem göttlichen Alexander auch noch andere Helfer als nur die Menschlichen zur Verfügung stand, daran zweifel ich nicht. Wie sonst soll ein Mensch in seinem kurzen Leben derart viel erreichen?“ Ein wenig schauderte Medeia die Vorstellung, dass jener Mann nicht sehr viel älter als sie an dem Tag seines Todes war. Sie fröstelte kurz. „Nicht zweiköpfige Löwen, mein lieber Timokrates. Löwen so groß wie Vögel. Und Menschen mit zwei Köpfen. Wesen mit einem Auge, Menschen mit drei Augen und Frauen mit acht Armen und vier Brüsten. Alles gibt es dort.“ Wenn in Medeia die Lust zum Reisen vorhanden wäre, sie hätte womöglich es auf sich genommen all jene Wesen zu suchen. Aber Medeia war damit zufrieden über Jahre an einem Ort zu leben und die Dinge in den Schriften Anderer zu ergründen. Zudem ein komfortables Haus zu besitzen, zahllose Kleider und stets ein warmes Bett oder ein reinigendes Bad in ihrer Nähe. Nein, Reisen war nichts für die Griechin, die nicht mehr als Athen, Rom und nun Alexandria gesehen hatte. Selbst Reisen ins Hinterland von Ägypten wären ihr ein Greuel.
Und somit wäre sie jedem Forscher dankbar, sollte er tatsächlich so eine Kreatur mit sich bringen und in das Paneion oder Museion zur Schau stellen. „Lass uns dies ergründen, mein lieber Timokrates.“ Die beiden Gelehrten des Museions waren entschwunden und Medeia doch erleichtert. „Meeresungeheuer?“ Medeia lächelte freundlich und mit einem wachen Ausdruck in den Augen. Nichts deutete davon, ob sich Medeia über Timokrates amüsierte oder nicht. Aber das war schon früher so gewesen bei Medeia. „Gar der Skylla persönlich?“ Medeia schenkte ihm noch ein milderes Lächeln. „Timokrates. Ich spotte nicht. Das liegt mir fern. Gänzlich unfähig bin ich eines Solchen.“ Jetzt glitt doch ein verschmitztes Lächeln um ihre Lippen. Doch schon nickte sie leicht. „Aber Du hast Recht. Es gibt Wunder, die wir nicht mit Worten erfassen können, selbst wenn wir ihnen Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen. Und wenn man sie noch nie gesehen hat, kann man auch ihre Existenz nicht abstreiten. Höchstens auf der Ebene der Gedankenkraft und mit dem Sinn danach die Rätsel der Welt auf metaphysischer Ebene zu lösen.“
Mit jedem sehr langsamen Schritt, zu dem Medeia fähig war, näherten sie sich dem Heiligtum. Nein, einen Pinienzapfen konnte Medeia wirklich darin nicht erkennen. Sie blieb einen Moment stehen, da die Luft schwer auf ihre Brust drückte und sie kaum davon in sich einsaugen vermochte. „In der Tat. Ich war des öfteren am Museion. Und es gibt einen Park dort, der sich gänzlich mit der Chimärenforschung beschäftigt. Leider wohl noch ohne Erfolg. Aber dort gibt es auch Tiere aus dem fernen Gupta bis Kushana. Sogar Pflanzen aus dem Reich der Seide finden sich dort. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie auch noch mit Seeungeheuern von der Unterseite unserer Erdenkugel kommen würden. Manche der Gelehrten dort scheinen tollkühnen Abenteurern zu gleichen und weniger den Suchenden der Weisheit.“ Medeia konnte das nicht ganz verstehen. Am liebsten saß sie Stundenlang vor Büchern und Schriften. Oder verfasste selber ihre eigenen (mehr unnützen) Gedanken zu den gedanklichen Problemen.
Eine Bank aus Zedernholz erschien vor ihnen. Bunt und schrill war das Holz bemalt und mit zahlreichen Mustern versehen. Doch sie kam Medeia gerade Recht. Denn ihre Beine wurden wieder ganz zittrig. „Hast Du etwas dagegen, wenn wir uns kurz setzen?“ Medeia tat es einfach und atmete erleichtert auf. „Aber Timokrates, was hindert Dich daran? Eine hübsche junge Frau in Deinem Hause würde Dir sicherlich Freude bringen. Und eine solche Frau würde Dir sicherlich nicht im Wege stehen, wenn Du auch außer Haus speisen würdest.“ Medeia lächelte amüsiert. Denn natürlich war nicht das Kulinarische damit gemeint. Ihr erster Mann in Athen hatte auch bei Medeia nichts dagegen gesagt. Wobei er auch darauf angewiesen war, lag er doch auf ihrer Tasche und Medeia war die Einzige gewesen, die nicht nur das Geld ausgegeben hatte. Im Grunde war Quintus durchaus stets von Eifersucht geprägt gewesen und ihr Streit an manchen Tagen doch heftiger. Medeia gehörte jedoch nicht zu der Sorte von Frau, die sich der Eifersucht hingab. „Ich wiederum habe in der Tat erneut geheiratet.“ Der Schatten ihrer Sklavin fiel auf Medeia. „Einen römischen Praefectus.“ Mit einem Namen, da war sich Medeia sicher, würde Timokrates gewiss nicht viel anfangen können. „Ein auf und ab war es in den letzten Jahren. Aber ich habe sie in Rom verbracht. Mal am Kaiserhof arbeitend, dann, stell Dir das vor, hab ich tatsächlich noch den Weg in die Politik geschafft. Ich war sogar Aedil in Rom. Aber letztendlich verspürte ich keinen Drang mehr weiter in die Politik dort zu dringen.“ Medeia betrachtete einige exotische Pflanzen ihr gegenüber. Sie kannte sie nicht und würde sie im Museion nachschlagen lassen. „Aber ich bin im Auftrag der Schola von Rom hier. Ich bin dort Praeceptor und soll mich um das Museion von Alexandria kümmern. So werde ich wohl noch eine Weile hier bleiben.“
Sanft plätscherte das Wasser an ihnen vorbei, das Idyll beruhigte Medeia immer mehr. „Und Dir? Erzähle, wo hast Du die letzten Jahre verbracht? Hier in Alexandria oder auf einem Schiff, die Charybdis jagend?“ Medeia konnte sich das bei Timokrates durchaus vorstellen. Er hatte das Blut eines Abenteurers, eines Charmeurs und eines Trickbetrügers gleichermaßen. Genau das war es, was Medeia stets an jenen Mann fasziniert hatte. Nachdenklich betrachtete sie Timokrates. Womöglich könnte sie...? Doch, doch. Er könnte sicherlich damit etwas anfangen. „Sag, Timokrates, ist es Männern hier in der Politik erlaubt, jegliches Geschäft und Gewerbe nachzugehen?“