• Gut, für Caius wär das nicht ganz so selbstverständlich gewesen wie für Seiana. Aber er hatte inzwischen eh den Eindruck, dass er sie kaum richtig kannte, um sie gut genug einschätzen zu können. Also hielt er dazu, wie so oft in letzter Zeit, die Klappe und nickte nur. Das war alles.


    Ihren bissigen Tonfall überhörte er einfach, obwohl er ihn registriert hatte. Er war nicht herkommen, um sich mit ihr zu streiten, also würde er das auch nicht provozieren. Als Reaktion zog er den Mund einseitig kurz zu einer Grimasse nach oben und sagte sonst nichts. Er konnte nicht einschätzen, warum sie so reagierte, ob sie immer noch sauer war oder einfach nur enttäuscht oder ob sie vielleicht Angst hatte. Er hob eine Hand und fuhr sich damit durch die Haare. Eine fahrige Bewegung, die er nur machte, wenn er sich unsicher war, und in diesem Fall wusste er nicht, wie er am besten anfangen sollte.


    »Tja also...« begann er, und das war schon hart an der Grenze.
    »Ich wollte mit dir noch mal reden. Wegen... wegen uns. Und wegen ihr. Und der Hochzeit. Ähm... Also gut, Seiana, das liegt mir so gar nicht und du weißt das auch. Ich wollte dich fragen ob ich unsere Verlobung lösen kann.« Caius hasste es in diesem Moment, so wenig redegewandt zu sein. Quarto, da war er sich sicher, hätte Seiana Honig um den Damenbart geschmiert, so dass sie hinterher sicher fast glücklich mit dieser Entscheidung gewesen wäre. Er aber schlug ihr sprichwörtlich die Faust ins Gesicht. Und was das Essen mit den Flaviern nicht hatte bewirken können, schaffte diese Situation mit Seiana: Caius nahm sich vor, daran was zu ändern.

  • Tja. Also. Seianas Magen schien zu kippen, als Caius so anfing. Begann man so, wenn man sich entschuldigen wollte? Ernsthaft entschuldigen? Begann man so, noch dazu in diesem Tonfall, wenn man sich versöhnen wollte? Seiana kam nicht dazu, Antworten auf diese Fragen zu finden. Caius sprach weiter. Und das Eismeer in ihrem Inneren war wieder da. Sie hatte das Gefühl, einzufrieren, innerlich wie äußerlich. Lösen. Er wollte die Verlobung lösen. Irgendwo unter dieser riesigen Schicht aus Eis und eisigem Wasser flammte bitterer Schmerz auf.


    „Lösen“, murmelte sie, in einem Tonfall, als ob sie nicht recht wüsste, was dieses Wort bedeutete. Lösen. Die Verlobung lösen. Die…


    Sie. Sie. Sie ist anders. Sie ist mehr. Seiana schwindelte. Weil sie mit ihm ins Bett gesprungen ist. Dieser Gedanke loderte auf, so bitter und heftig, dass er sich seinen Weg durch die Eisschicht brannte und für einen Moment hell aufleuchtete in ihr, wie ein Blitz alles erstrahlen ließ und die rohe, zerklüftete Landschaft, die ihr Inneres war, gnadenlos bloß legte. Im Gegensatz zu mir.

  • Seiana wirkte irgendwie wie vor den Kopf geschlagen auf Caius. Er seufzte leise und hoffte, dass sie das nicht gehört hatte. Es tat ihm ja wirklich sehr leid. Er fühlte sich auch alles andere als gut dabei. Und noch schlechter hätte er sich gefühl, wenn er ihre Gedanken hätte hören können.


    »Ja«, erwiderte Caius ein bisschen zeitverzögert auf ihre Frage hin, denn als Frage hatte er es aufgefasst. Allerdings war er sich da nicht so ganz sicher. Er kam jetzt doch näher.
    »Seiana«, begann er, als er einen Meter vor ihr stehen blieb.
    »Ich, also, hab dich wirklich gern. Nur... Ich weiß nicht wie ich das erklären soll! Du bist erstklassig. Perfekt. Ich hab eh nie verstanden, warum du mit einem wie mir... Naja. Ich meine, du findest doch schnell wieder einen. Ähm, Mist, so hab ich das nicht sagen wollen...« Er strampelte sich verbal einen ab und sie kam ihm in keinster Weise entgegen. Recht so! Er hatte es auch nicht anders verdient (aber gewünscht).
    »Das zwischen uns war nie so tief wie mit ihr. Und sie...« Nein. Er sollte nicht das von der Schwangerschaft erzählen. Caius biss sich auf die Lippe.
    »Sie ist eben anders.« Hilflos zuckte er mit den Schultern und ließ den Kopf hängen.

  • Sie registrierte, dass er näher kam, aber sie rührte sich nicht. Sie spürte nicht einmal den Impuls, ihm auszuweichen, spürte so wenig in ihrem erstarrten Inneren, dass sie noch nicht einmal sagen konnte, ob dieser Impuls irgendwo in ihr doch schwach aufleuchtete oder nicht. Sie hörte, was er sagte. Ich hab dich gern. Sie starrte vor sich hin, ohne wirklich zu sehen, was vor ihren Augen war. Erstklassig. Perfekt. Schnell wieder einen. Warum schien Atmen auf einmal so mühsam zu sein? So als ob die Luft erst qualvoll durch eine zu enge Röhre gesogen werden müsste, bevor sie tatsächlich in den Lungen ankam… Nie so tief. Für endlos lange Momente nahm der Schwindel zu, wurde stärker. Aber sie wankte nicht. Mit eiserner Selbstkontrolle, die in diesem Augenblick viel mehr aus der Starre in ihrem Inneren gespeist wurde denn aus tatsächlich bewusster Beherrschung, verhinderte sie, ihr Körper, dass sie wankte. Sie stand einfach nur da, und eine Statue hätte regloser nicht sein können.


    „Ich bin nach Ägypten gereist. Für dich“, wisperte sie. Alles hatte sie hier stehen und liegen lassen, hatte ihre Familie vor den Kopf gestoßen, nur um zu ihm zu kommen, nur um ihm die Chance zu geben, die er hatte haben wollen. Hatte ihr Leben hier in Rom aufgegeben, noch bevor sie es wirklich hatte einrichten können. Hatte die Chance aufgegeben, einen anderen Mann zu finden… als sie noch jünger gewesen war. Aus dieser Perspektive betrachtet – die er selbst angebracht hatte – hatte sie ihm Jahre ihres Lebens geopfert. Nur damit er sich eine andere suchen konnte, weil sie ihm nicht mehr passte. Oder nie gepasst hatte. Nur damit er ihr jetzt sagen konnte, dass es nie so tief war wie mit ihr. Natürlich. Erneut die bittere Flamme, die in ihrer zynischen Heftigkeit als einzige stark genug schien, dass sie durch die Eisschicht drang. Natürlich nicht so tief. Sie hat ihn ja auch rangelassen. Im Gegensatz zu mir.

  • Langsam wurde Caius nervös. Er hatte ja schon Bauchschmerzen gehabt, hierher zu kommen. Aber das hier war....gespenstisch. Ihm flog nichts um den Kopf, keine bösen Worte und auch keine teuren Vasen. Caius wusste nicht, was er machen sollte. Seiana reagierte so überhaupt nicht. Seine Augenbrauen schoben schich zusammen. Er sah sie mit einer Mischung aus Mitleid und aufkeimender Verzweiflung an.


    Als sie dann doch was sagte, war es so leise, dass er es kaum verstand. Die Verzweiflung wich jetzt ernster Zuneigung. Es hielt ihn nur noch kurz auf seinem Platz, weil er mit sich selbst haderte und sich dann einen finalen Ruck gab. Er überwand auch den Meter zwischen ihnen noch und umarmte Seiana. Freundschaftlich, wie er sich dachte.
    »Ich weiß doch. Ich weiß«, murmelte er, eine Hand auf ihrem Rücken und eine an ihrem Hinterkopf. Es tat ihm weh, sie so zu sehen. Aber da mussten sie jetzt beide durch. Leider änderte das überhaupt nix daran, dass er keine Ahnung hatte, was er sagen sollte. Er beschloss, auf sich selber herumzuhacken, wenn Seiana das schon nicht machte.
    »Ich bin echt ein Arsch, Hm? Es tut mir wirklich leid, Seiana. Ich hoffe, du kannst mir das irgendwann verzeihen.«

  • Seianas Augen weiteten sich, als Caius plötzlich den letzten Schritt zwischen ihnen überwand und sie in den Arm nahm. Sie konnte sich nicht erinnern, wann er sie das letzte Mal so in den Arm genommen hatte. Und sie konnte damit nicht umgehen. Ganz leicht, minimal nur, erzitterte ihr Körper. Er hatte ihr gerade gesagt, er wollte die Verlobung lösen. Er sagte ihr, er wisse es. Wisse, dass sie nach Ägypten gereist war. Für ihn. Seiana glaubte, dass er keine Ahnung hatte, was das letztlich bedeutet hatte für sie. Was für ein Schritt es gewesen war. Den sie für ihn getan hatte. Caius lebte sein Leben stets mit einer Leichtigkeit, die der Hauptgrund gewesen war, warum er ihr so attraktiv erschien, bis heute, warum sie ihn so mochte. Diese Leichtigkeit trug ihn durchs Leben. Er war einfach zu Meridius gegangen und hatte mit ihm geredet, wegen ihr, ohne irgendetwas in der Hinterhand zu haben. Und hatte sich dabei kaum Gedanken gemacht. Sie war völlig anders. Sie konnte so etwas nicht. Solche Dinge waren für sie immer ein Riesenschritt, und genau so etwas war die Reise, der Umzug nach Ägypten für sie gewesen.


    Wie erstarrt stand sie da. Rührte sich nicht. Spürte seine Hände auf ihrem Rücken und an ihrem Kopf. Und plötzlich war da der Gedanke in ihrem Kopf, dass seine Hände dort nichts mehr zu suchen hatten. Nirgendwo an ihrem Körper. Das einzige, was sie ihm nicht gegeben hatte, obwohl er mehr als einmal versucht hatte, es zu bekommen. Sie versteifte sich, noch mehr als ohnehin schon. Und trat dann einen Schritt zurück, und dann noch einen. Plötzlich fror sie. „Betrachte die Verlobung als aufgelöst“, wisperte sie.

  • Caius ließ sie sofort los, als er merkte, dass sie sich nach einem kurzen Moment steif machte und zurück trat. Er machte sogar selber noch einen Schritt zurück, um noch mehr Luft zwischen sie und sich zu bringen. Er war noch ratloser als vorher schon. Verdutzt sah er sie an, als sie dann einfach so die Auflösung bestätigte. Gleichzeitig fiel ihm ein Stein vom Herzen. Allerdings war das mehr ein Kiesel, denn Seiana sah immer noch nicht so aus, als wäre sie richtig wach. Caius legte den Kopf leicht schief und sah sie an.


    »Ähm.« Er wartete, aber nichts geschah. Da flog immer noch nichts, und das machte die ganze Sachen schlimmer, als wenn was geflogen wär.
    »Bist du dir sicher, dass... Ich meine: Ist alles in Ordnung?« fragte er sie zerknirscht. Was für eine dämliche Frage! Er hob eine Hand und fuhr sich durch die Haare.
    »Dein Bruder ist sicher begeistert«, murmelte er nachdenklich.

  • Ob alles in Ordnung war? Seiana wusste es nicht. Sie wusste es einfach nicht. Das Eis in ihr ließ nicht zu, dass sie solch profane Dinge hätte überprüfen können. Fast war sie versucht, Arme und Beine zu bewegen, um ihre Körperfunktionen zu testen und wenigstens in dieser Hinsicht feststellen zu können, dass sie in Ordnung war. Sie fühlte sich in Ordnung an. Da war nur diese Starre, diese Taubheit, diese Eiseskälte in ihrem Inneren…


    Und dann kam Caius auf ihren Bruder zu sprechen. Faustus. Ihr Faustus. Der nach Ägypten reisen würde. Der sie allein ließ, in wenigen Tagen schon. So wie Caius sie jetzt allein ließ. Sie würde niemanden haben, niemanden mehr… Und wieder gab es ein, zwei Momente, in denen ihr schwindelte. Begeistert. Faustus würde begeistert sein, meinte Caius. Da lag er vermutlich richtig. Mehr noch: Faustus würde ihr vermutlich sagen, dass er Recht gehabt hatte. Dass er es hatte kommen sehen. Dass Caius keine Ehre hatte und weder sie noch ihre Familie je mit Respekt behandelt hatte. Und das war etwas, womit Faustus wohl richtig lag. Nur, Seiana wollte das nicht hören. Seiana wollte sich nicht anhören müssen, dass er, Faustus, es doch gleich gesagt hatte, und dass sie, Seiana, es damit gar nicht anders verdient hatte. Und all die Streits, die sie mit ihrem Bruder wegen Caius gehabt hatte… Umsonst. Für nichts und wieder nichts. „All die Streits mit ihm, wegen dir…“, murmelte sie vor sich hin. „Alles… umsonst. Umsonst…“

  • Alle Streits umsonst? Caius sah noch belämmerter aus als eh schon. Irgendwie nahm das total unerwartete Formen an. Fast wünschte er sich, sie würde endlich mit dem Schimpfen anfangen. Aber wie sie momentan aussah, würde das wohl nichts werden. Und außerdem hatte sie gar nicht von sooo vielen Streits erzählt. Und auch nicht von Streits, nur von...Meinungsverschiedenheiten. Ein Streit war doch ein ganz anderes Kaliber... Caius schwante Schreckliches. Seiana hatte ihm vielleicht gar nicht alles erzählt. Er schloss die Augen und unterdrückte ein Stöhnen. Wenn sie ihn nun vor ihrem Bruder regelrecht verteidigt hatte? Caius wusste ja, wie Serapio so drauf war.


    »Nicht umsonst. Ich möcht dich eigentlich hin und wieder mal sehen«, sagte er leise und schob die Brauen aufeinander zu.
    »Wenn du das möchtest.«


    Er hatte zwar noch keine Ahnung, wie sich das anfühlen würde, aber er wollte Seiana nicht loswerden und fertig. Er hatte sie ja nach wie vor lieb. Sozusagen.
    »Kann ich irgendwas tun?« bot er an, hatte aber keinen blassen Schimmer, was.

  • Wie verblüfft Caius dreinsah, als sie die Streits erwähnte, das drang dann doch zu Seiana durch. Aber sie reagierte nicht darauf. Sie hatte ihm nicht von allen Auseinandersetzungen erzählt, und auch nicht jedes Detail. Hatte ihm nicht erzählt, wie Faustus reagiert hatte. Hatte ihm nicht erzählt, dass sie sich am Abend ihrer Ankunft in Rom sogar beinahe in die Besinnungslosigkeit getrunken hatte, weil Faustus und sie so übel gestritten hatten. Und dann sprach Caius weiter. Und Seiana… fühlte sich plötzlich, als ob sie frei mitten im Raum schweben würde. Sehen. Er wollte sie sehen. Er löste die Verlobung, und er wollte sie dennoch wieder sehen? Warum? Sie verstand es in diesem Augenblick nicht. Irgendetwas in ihrem Kopf hatte eine Barriere hochgezogen, und sie verhinderte, dass Seiana tatsächlich begriff, was Caius da sagte und warum. „Du…?“ Sie starrte ihn an, und ihre Augenbrauen zuckten ganz leicht zusammen. Sie kam nicht damit klar. Sie kam mit dieser ganzen Situation nicht klar. Und das Schlimmste war vielleicht, dass sie in diesem Moment nicht differenzieren konnte, was da alles war. Aus welchen verschiedenen Schichten das Eis bestand, und Bitterkeit, die darunter brannte. Sie mochte Caius. Sie hatte ihr Leben mit ihm verbringen wollen. Sie hatte ja gesagt, als er sie gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wollte, und sie hatte es gemeint. Wie jeden Schritt, den sie ging, hatte sie sich auch diesen reiflich überlegt gehabt. Sie tat solche Dinge nicht spontan. Sie traf keine Entscheidung leichtfertig. Sie hatte überlegt, seit sie von Meridius erfahren hatte, dass Caius bei ihm gewesen war, und da der Antrag zu erwarten gewesen war, hatte sie in jenem Moment ja sagen können, ohne Zögern, ohne Zweifeln, und mit vollster Überzeugung. Sie liebte ihn nicht auf die Art, wie andere Menschen sich liebten, aber sie bezweifelte, ob sie dazu überhaupt in der Lage war. Sie hatte ihn gemocht… auf gewisse Art geliebt… so gut es ihr möglich war. Sie hatte nur nicht mehr zulassen können, schon gar nicht solange sie nicht verheiratet gewesen waren. Aber das änderte nichts daran, dass sie ihre Entscheidung ernst gemeint hatte. Dass sie tatsächlich und wirklich ihr Leben mit ihm hatte verbringen wollen.


    Aber da war noch mehr. Da war der Stolz in ihr. Eine weitere Schicht. Der Stolz einer Decima, den er getroffen hatte durch die Tatsache, dass er sie nicht wollte. Dass er eine andere ihr vorzog. Diese Verletzung ihres Stolzes brannte tief. Genauso wie die Verletzung ihrer Ehre. Und noch eine Schicht gab es, eine große. Sie musste heiraten. Es gehörte sich für eine römische Frau, zu heiraten. Und sie war alt, nicht alt, aber alt für eine Frau, die noch nie verheiratet gewesen war. Sie hatte die 20 schon länger hinter sich gelassen. Sie hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, weil sie ja verlobt war, die Hochzeit in Aussicht gehabt hatte, aber jetzt… jetzt… Eine Frau in ihrem Alter, die noch nicht verheiratet war und noch nicht einmal einen Verlobten vorweisen konnte… Seiana legte zu viel Wert auf all diese Dinge, als dass ihr das nichts ausmachen würde. Und so setzte sich Schicht um eisiger Schicht zusammen um diesen bitteren, lodernden Kern in ihr, der so tief verborgen war, dass sie ihn selbst gar nicht bemerkte, so wenig, wie sie augenblicklich die Schichten analysieren und herausfinden konnte, welche ihr wie viel Schmerz zufügte und wie sie am besten damit umgehen könnte. „Ja“, antwortete sie schließlich auf seine Frage, immer noch wie erstarrt, ein riesiges Taubheitsgefühl in ihr, bedingt durch die Kälte. „Geh.“

  • Das war natürlich eine Option. Auch wenn er die nicht gemeint hatte. Er hatte sie trösten oder es ihr irgendwie leichter machen wollen, ohne zu wissen, was wirklich in ihr vorging. Caius dachte nicht wie Seiana. Das hatte er nie und würde er wohl auch nicht mehr. Das hatten sie nie gemeinsam gehabt. Caius wollte das, was er und Seiana gehabt haben, nicht als Schwärmerei oder Verliebtheit abtun, denn das war's auch nicht gewesen. Zumindest nicht in dem Sinne, in dem man diese Worte normalerweise verstand: nichtig und nicht ernst zu nehmen. Caius hatte nämlich alles ernst gemeint, was da zwischen ihnen gewesen war. Aber er hatte erst jetzt realisiert, dass es da etwas gab, das anders war, als das, was er und Seiana gehabt hatten. Er konnte das nicht beschreiben (abgesehen davon, dass ihm einfach das Vokabular dafür fehlte).


    Zerknirscht hörte er ihre Aufforderung. Der Blick sagte ihm, dass er hier nichts weiter tun konnte. Er ließ kurz den Kopf hängen und starrte auf seine Sandalen, und ihm war klar, dass er hier nicht nur die Verlobte verloren hatte, sondern genauso seine Freundin. Und er konnte rein gar nichts tun, um das zu verhindern. Er sah hoch und ging.


    Erst an der Tür hielt er noch mal an.
    »Ich wünsche dir alles Gute, Seiana. Bis wir uns wiedersehen.«
    Und das war für Caius' Verhältnisse so ernst und theatralisch wie noch nie zuvor. Genauso fühlte er sich auch. Allerdings wurde das Gefühl langsam besser, als die Tür leise hinter ihm zugefallen war und er die casa Decima langsam hinter sich ließ, um sich dem domus Iuniana zuzuwenden.

  • Seiana regte sich nicht. Sie regte sich nicht, als Caius ihrer Aufforderung stumm folgte und an ihr vorbei zur Tür ging. Sie regte sich nicht, als er doch noch etwas sagte. Wie sie da stand, hätte sie genauso gut eine Statue sein können, und sie gab nicht den geringsten Hinweis darauf, ob sie ihn überhaupt gehört hatte. Und selbst als die Tür tatsächlich zugefallen war, dauerte es noch lange, bis sie den Kopf drehte und dorthin anstarrte, auf den Fleck, an dem er verschwunden war. An dem er die Tür zugeschlagen hatte zwischen ihr und ihm. Die Tür zu dem, was hätte sein können.


    Im Gegensatz zu ihm wurde ihr Gefühl nicht besser.

  • Klar, der ianitor hatte sich gewundert, dass Caius schon wieder hier aufkreuzte, denn vorher hatte er sich nicht allzu oft blicken lassen, und nun schon das dritte Mal in Folge. Er hatte klaglos die Tür geöffnet und Caius wieder mal ins tablinum geschickt, wo er auf die junge Dame warten sollte, wenn sie ihn empfangen wollte. Das hieß also, sie war schon mal zu Hause. Caius war nervös. Sie konnte ihn einfach warten lassen und gar nicht kommen. Und nach seinem letzten Abgang gestern war das bestimmt auch nicht so unwahrscheinlich. Also wartete Caius erstmal, in der Hand die Schriftrolle von Seiana.

  • Die Nacht war keine gute gewesen. Wie schon nach ihrem Streit mit Faustus hatte Seiana sich irgendwann Wein bringen lassen, viel Wein. Elena hatte versucht zu widersprechen, aber als Seiana kratzbürstig geworden war, hatte sie es aufgegeben. Einen besseren Schlaf hatte ihr das trotzdem nicht geschenkt – ganz im Gegenteil hatte sie das Gefühl, nur noch unruhiger geschlafen zu haben, noch häufiger aufgewacht zu sein, als es wohl sonst der Fall gewesen wäre. Andererseits: ohne den Wein wäre sie vermutlich überhaupt nicht eingeschlafen. Entsprechend litt sie nicht nur etwas unter Kopfweh, als ein Sklave ihr Cubiculum betrat und ihr mitteilte, dass ihr Verlobter – Seiana hatte sich noch nicht die Mühe gemacht, die Kunde im Haus zu verbreiten – im Tablinum auf sie warte. Und, es mochte am Kopfweh und ihrer allgemein schlechten Konstitution an diesem Tag liegen, Seiana schwindelte es. Sie sah sich im Augenblick nicht wirklich in der Lage, schon wieder mit ihm zu reden. Sie fühlte sich nicht imstande, diesmal Beherrschung zu üben. Gestern… gestern war es kein Problem gewesen, weil sie einfach… wie erstarrt gewesen war, weil sie nichts gefühlt hatte, was sich hätte zeigen können. Heute sah das anders aus. Schon allein wegen dem Wein.


    Seiana atmete tief ein – sie weigerte sich einzugestehen, dass es ein Seufzer war – und erhob sich schließlich. Sie konnte ihn nicht nicht empfangen. Es wäre unhöflich. „Sorg für Getränke.“ Sie hatte keinen großen Sinn für Höflichkeit. Sie war es gegenüber Gästen, aber gegenüber einem Sklaven brachte sie es nicht fertig im Moment. Einen Augenblick gönnte sie sich noch, in dem sie versuchte, sich zu sammeln, dann verließ sie ihr Gemach und machte sich auf den Weg ins Tablinum, das sie kurze Zeit später auch betrat. Und dort stand er. Seiana stockte eine Winzigkeit, fühlte das Eis in ihrem Inneren wieder, fühlte, wie es knackte und knarrte, dann überwand sie den Moment und schloss die Tür hinter sich. Eine Schriftrolle war in seiner Hand, und nun ahnte Seiana, warum er hier war. „C-“, setzte sie an und verstummte dann wieder. Sie hatte im Brief nicht umsonst sein Cognomen gewählt. Sie waren nicht mehr verlobt, es wäre unpassend, ihn mit seinem Praenomen anzureden. Und im Brief war das auch leicht gewesen zu tun. Nur jetzt, ihm direkt gegenüber, kam es ihr seltsam vor, ihn Archias zu nennen. Also verzichtete sie auf den Namen gänzlich. „Salve. Was führt dich her?“

  • Als Seiana kam und Caius sich umdrehte, hätte er ihr fast gesagt, dass sie scheiße aussah. Da waren dicke Ringe unter den Augen, die zwar mit Schminke kaschiert worden waren, aber noch deutlich vorstachen. Und Caius fand Seiana blass. Er hörte wohl, dass sie seinen Namen nennen wollte, dann aber abbrach, und das machte ihn sehr, sehr nachdenklich.


    »Öhm. Du erwartest jetzt aber nicht von mir, dass ich dich Decima nenne«, begann er und wollte das Ganze mit einem leicht spöttischen Lächeln etwas ins Lächerliche ziehen. Als er Seianas Gesichtsausdruck sah, kam ihm allerdings leiser Zweifel.
    »Oder?« setzte er deswegen nach und ließ den Rest erstmal einfach so stehen, ohne was zu sagen. Caius schwankte zwischen Fassungslosigkeit und Argwohn. Aber er erinnerte sich wieder an den Brief und daran, wie gefühllos der geschrieben worden war. Ein bisschen knautschte er das Dokuemtn in seiner Hand, aber sagen tat er erstmal nichts.

  • Seiana war versucht, sich über die schmerzende Stirn zu reiben, aber sie unterdrückte den Impuls im letzten Moment und strich sich nur eine nicht vorhandene Strähne hinter das Ohr. „Nein“, antwortete sie nach einem Moment. „Nein, das erwarte ich nicht.“ Aber bei ihr war das noch mal etwas anderes. Als Frau hatte sie nun mal kein Prae- und Cognomen, das eine Unterscheidung im Bekanntheitsgrad noch einmal mehr ermöglichte. Sie würde sicher nicht so weit gehen, ihn von nun an Aelius zu nennen. Aber sie hatte wenigstens vor, sich wieder an das distanziertere Archias zu gewöhnen. Nur hatte sie nicht gedacht, dass es so schwer sein würde, wenn sie ihm gegenüber stand. Dass es ihr, nach all der Zeit, die sie ihn nun schon Caius nannte, so… nun ja… falsch vorkommen würde. Sie kannten sich einfach – wenn auch lange nicht so gut, wie Seiana geglaubt hatte. Sie hätte nie geglaubt, dass Caius sie sitzen lassen würde…


    „Nun.“ Sie räusperte sich, ein wenig verlegen. Ihr Kopf schien zu dröhnen, und es fiel ihr schwer, die Fassade aufrecht zu erhalten. Höfliche Konversation zu betreiben. Seiana war dankbar, als in diesem Moment ein Sklave hereinkam und Getränke brachte. „Möchtest du etwas?“ Sie selbst ließ sich einen Becher Wasser geben, teils, weil ihre Kehle tatsächlich wie ausgedörrt schien, teils, weil sie – was ihr selten genug geschah – das Gefühl hatte, etwas zum Festhalten zu brauchen. Es hatte einen Grund gehabt, warum sie ihm geschrieben hatte. Sie fühlte sich nicht so wirklich in der Lage, mit ihm über diese Dinge zu reden. Sie hatte gehofft, das schriftlich klären und auf jeglichen weiteren Kontakt verzichten zu können.

  • Caius klappte den Mund auf und wieder zu. Seiana wirkte ja mädchenhaft! In dieser kleinen Hinterdasohrstreichgeste erkannte er die Frau wieder, die sie mal in Ägypten gewesen war. Vor Äonen! Irgendwie klang sie aber ziemlich reserviert. Caius schürzte die Lippen. Die Zeit verstrich... Niemand sagte was... Dann räusperte sich Seiana und bot ihm was zu trinken an? Damit irritiert sie ihn total. Er schüttelte nur den Kopf, als der Sklave ihm was anbieten wollte.


    »Äh, also, hör zu. Ich hab zwar keine Ahnung, warum du jetzt diese Cognomensache abziehst, aber das musst du nicht. Ich mein, wir sind doch nach wie vor...Freunde?« Caius zog die Augenbrauen zu einem Beinahe-Fragezeichen zusammen und fuhr fast nahtlos fort.
    »Ich hab deinen Brief bekommen«, sagte er und hielt das Beweisstück 1A hoch.
    »Und ich hab mich gefragt, was du damit meinst: Solltest du also keine Verwendung dafür haben, möchte ich dir anbieten, sie dir zum gegenwärtigen Marktpreis abzukaufen« las er vor und sah Seiana dann fragend an.
    »Das war ein Geschenk, und ich will die Sachen nicht zurück, die ich dir geschenkt hab. Auch wenn du dir überlegen solltest, ob du so nen Scharlatan da echt weiterbeschäftigen willst«, warf er ein und zuckte mit den Schultern. Er verstand einfach nicht, warum sie jetzt auf die Tour kam. Es gab da noch mehr Sachen in dem Brief, über die sie reden mussten, aber die Geschenkesache war ihm das wichtigste.

  • Seiana öffnete den Mund, aber es dauerte einen Moment, bis tatsächlich etwas herauskam. „… Freunde?“ Sie sprach das Wort aus, als ob es ihr nicht wirklich etwas sagen würde. Als ob sie nicht wüsste, was es hieß. Und Tatsache war, dass sie in diesem Moment wirklich nichts anfangen konnte mit diesem Begriff. Sie wusste nicht, was Caius sich vorstellte. Was für Freunde sie beide sein konnten, nach dem, was passiert war. Sie wünschte sich, ihr Kopf wäre etwas klarer, würde nur ein bisschen weniger weh tun. „Wir… was für Freunde? Was…“ Zu viel mehr außer dieser leisen Zwischenfrage kam Seiana allerdings nicht, da Caius beinahe ohne Pause weitersprach. Und jetzt hielt er den Brief hoch. Und fing an zu diskutieren über das, was sie geschrieben hatte. Was sie vorgeschlagen hatte. „Entschuldige, ich…“ Seiana wandte sich ab, ging zu einer Sitzgruppe und ließ sich nieder, und nur mit Mühe widerstand sie dem Drang, den Kopf in die Hände zu legen. „Setz dich, wenn du magst. Von was für einem Scharlatan redest du?“ Sie trank einen großen Schluck Wasser. Es ging einfach nicht anders, sie hatte den ganzen Tag schon unglaublichen Durst. Und wenigstens vorübergehend brachte das kühle Nass, das ihre Kehle hinunterrann, so etwas wie Linderung. „Hör zu.“ Sie vermied es, seinen Namen zu nennen, wieder in diese Falle zu tappen. „Das… war doch ein Verlobungsgeschenk. Und das gibt man zurück, wenn die Verlobung gelöst wurde. So einfach ist das. Ich… möchte einfach… dass da alles geregelt ist. Wie es sich gehört.“ Und es gehörte sich nicht, dass sie ein Geschenk dieser Größenordnung, diesen Werts behielt. Und davon ganz abgesehen: sie wollte ihm nichts schuldig sein. Nichts.

  • »Freunde«, bestätigte Caius, als wär das ein Wort, was jedes Kind kannte. Naja, war's ja eigentlich auch. Seiana schien nur irgendwie anderer Meinung zu sein. Sie sprach das Wort aus wie man Hundehaufen sagen würde.
    »Ja....oder nicht?« Damit hatte sie Caius nun verwirrt. Für ihn waren Beziehungskisten nur dann schwierig, wenn man mit wem befreundet sein wollte, mit dem man schon mal in der Kiste gelegen hatte. Aber Seiana und er hatten mehr als ein paar Küsse nicht getauscht, deswegen dachte er... Caius sah Seiana hinterher, wie sie sich hinsetzte, und er ging mit, um sich gegenüber hinzusetzen.


    »Ich mein dieses Milchgesicht. Den griechischen Bastard da... Crios. Der hat's echt nicht drauf.« Wobei Caius das in diesem Fall und mit den Entwicklungen letztlich doch nocht so tragisch fand, aber das wollte er Seiana nicht unbedingt erzählen. Seiana wirkte irgendwie abgespannt. Caius knautschte den Brief noch mal kurz in der Hand.
    »Blödsinn. Die behältst du. Ich will die gar nicht. Und dein Geld will ich auch nicht. Fang gar nicht damit an«, sagte er mit zusammengezogenen Augenbrauen und schüttelte den Kopf. Energischer ging es bei ihm nicht.


    »Ich hab da auch noch was. Äh... Also, wegen meiner Eltern. Denen muss ich noch schreiben. Das mach ich aber besser selber. Du kennst ja meine Mutter.« Caius rollte an dieser Stelle demonstrativ mit den Augen.
    »Die dreht durch. Das willst du dir sicher nicht geben.«

  • Freunde. Er schien das ernst zu meinen. Aber Seiana konnte nicht wirklich etwas damit anfangen, nicht in Bezug auf ihn, nicht so, nicht… Sie konnte es sich einfach nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte. Sie waren verlobt gewesen, bei den Göttern! Seiana war darauf eingestellt gewesen, ihr Leben mit ihm zu verbringen – was er nun einfach so über den Haufen geworfen hatte. Man konnte nach so etwas nicht einfach so… Freunde sein. Sie verstand ja sogar, dass er das irgendwie konnte, aber wie stellte er sich das denn bitte bei ihr vor, wie stellte er sich vor, dass sie das können sollte? Seiana zweifelte in diesem Augenblick ein wenig an Caius’ Geisteszustand. Oder war sie es, die so falsch lag? Oder begriff er tatsächlich nicht, was er ihr mit der Auflösung der Verlobung angetan hatte, wie sehr er sie damit getroffen hatte, und das auf weit mehr als nur einer Ebene? Himmel, er hatte damit ausgedrückt, dass er eine Iunia für besser, für geeigneter hielt als seine Ehefrau als eine Decima. Er hatte damit ausgedrückt, dass er Axilla für besser und geeigneter hielt als sie. Oder war es genau das? Wollte er, dass sie Freunde waren, damit er dennoch die Vorteile nutzen konnte, die eine Verbindung zu ihr und ihrer Gens hatte? Es wollte nicht in Seianas Kopf, dass Caius tatsächlich einfach nur befreundet sein wollte mit ihr. Dass er sie nach wie vor einfach nur gern hatte. Denn wenn er sie genug mochte, um mit ihr befreundet sein zu wollen: warum hätte er dann die Verlobung lösen sollen? Was wäre eine bessere Voraussetzung für eine Ehe gewesen als das – eine Verbindung, die beiden Familien Vorteile brachte und bei der die Partner sich noch dazu mochten?


    Sie drehte sich im Kreis, und sie wusste es, und die Kopfschmerzen machten es nicht besser. Also zog sie es vor, zu dem Thema Freunde nichts mehr zu sagen. Beim nächsten Thema allerdings runzelte sie leicht die Stirn. „Crios? Was ist mit Crios? Ich habe bisher einen recht guten Eindruck von ihm, muss ich sagen. Wieso weißt du überhaupt etwas von den Angestellten?“ Für einen Moment sah sie ihn fragend an, dann verschloss sich ihr Gesicht – und ihr Inneres. „Und ich will die Taberna nicht geschenkt von dir“, sagte sie nachdrücklich. Und verschloss sich gleich noch ein kleines bisschen mehr. „Es geht nicht darum, was ich mir geben will. Es geht darum, was sich gehört. Wenn du nicht möchtest, dass ich ihnen schreibe, respektiere ich das, aber dann bitte ich dich, ihnen meine Entschuldigung zu übermitteln. Und mein Angebot, einen Teil der Kosten zu tragen für diese Feier.“

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