Cubiculum | Manius Flavius Gracchus

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~

    Leise und unscheinbar plätscherte das Wasser silbernfarben dahin, Tropfen um Tropfen rann aus dem Winkel des leblosen Auges, schwebte hinab in den purpurfarbenen Ozean, und warf dort unbändige Wellen auf, die in schäumender Weise das kahle Ufer zu umarmen suchten. Fremdartig verlief die ausgedachte Spur vor ihm im Sande und doch passte jeder Schritt, passte die Form seines Fußes in jede vorgeformte Mulde. In freudigem Entzücken küssten die granularen Körner die oberen Schichten der Haut unter seinen bloßen Füßen, drängten sich freudig beieinander in die Zwischenräume seiner Zehen, um einzugehen in ihrem trockenen Hader in das Zaudern seines Körpers hinein. Mauvefarben umhüllte ihn der Hauch der Bedrängnis, umschmeichelte seinen Körper, der an Konsistenz verlor, denn als der Himmel sich bäumte und die Schatten sich überwarfen, waren Füße längst nicht mehr angebracht, da der Weg verloren war. Nur mehr ein Wort blieb von ihm, die Idee eines Gedankens, und ein ferner, leiser Name aus der Vergangenheit, der in entzücktem Reigen um die pergamentenen Säulen sich wandte, um darauf sich zu ergießen ihn orphischer Manier. Schwebend, in einer tragenden Schwere, fließend, in stofflicher Konsistenz, erwachte die Glut im Inneren des Vulkanes und entzücktes sich in persistierendem Gleichmut, bis dass er jeden Berg spüren konnte, das Gewicht des Felsens, die endlose Höhe, jeden Baum hören, das leise Flüstern der Blätter, das Rascheln der Wurzeln im Grund. Er war sich jedes Ozeans bewusst, der endlosen Tiefe, der blaufarbenen Weite, und er schmeckte jedes Meer, das bitter kalte, algige Wasser, er sah den Frühling ankommen, er sah den Sommer erblühen, er sah den Herbst ausharren und den Winter einschlafen. Er war jeder Wald, endlos verworrenen, er war jeder Baum, vom Keim bis zum Ahn, er war alles, er war in sich, war alles, war jeder Ozean, jedes Land, er war jedes Meer, jeder Atemhauch. Er war ...

    ~~~


    ... bis zum Anbrechen des Morgens, denn mit dem Öffnen der Augen, mit der Rückkehr in die festen, unumstößlichen Dimensionen seiner Realität war er schlicht und einfach nur Gracchus. Wie jeden Tag zuvor.

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  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~

    Er war ein junger Bursche, gerade angekommen in Achaia, und alt genug eingeweiht zu werden in die Geheimnisse des Lebens. Der Septemvir Valerius Victor, jener Mann, welcher ihn in die Strukturen des Cultus Deorum hatte eingeführt und darob das Paradigma eines Lehrmeisters war, trat vor seine jungen Schüler hin und erhob den Zeigestab.
    "Wehrte discipuli, am heutigen Tage werden wir die Gattung Flavius ein wenig näher in Augenschein nehmen. Zuerst einmal sammeln wir die Anforderungen, welche gemeinhin durch die Gesellschaft und die Familie an ein Exemplar eines vollwertigen Flavius, Flavius maior, gestellt werden. Dies wären da ein umfassendes Maß an Bildung, ein ausreichendes Maß an persönlichem Ehrgeiz die Familie öffentlich in Perfektion zu repräsentieren, ein stets aufs härtester trainierte Körper, denn mens sana in corpore sano, die gerade, aufrechte Haltung und das stolz empor gereckte Haupt, eine makellose Karriere, eine überaus favorable Bindung zur Gattin aus ebenbürtigem Hause und mindestens einen Nachkommen, welcher die Linie in eben so adäquater Weise fortführt. Sieht sich der Flavius außer Stande, eines dieser Kriterien zu erfüllen, so rutscht er zu einem Flavius minor ab, ein leidlich von Gesellschaft und Familie geduldetes Exemplar, welches allenfalls aus Mitleid noch als niederrangiges Mitglied der Familie toleriert wird. Betrachten wir nun eingehend einige Exemplare der Gattung Flavius."
    Valerius Victor klappte eine überdimensional große Schreibtafel in Lebensgröße auf und Felix trat aus ihrem Inneren hervor, hinterließ den Abdruck seines Körpers im weichen Wachs.
    "Flavius Felix"
    , setzte Valerius an.
    "Der äußerst erfolgreiche Senator, ein wenig nachlässig mit seinem Körper, doch die besten Jahre liegen bereits hinter ihm, und für seine Nachkommen hat er längstens Sorge getragen, denn neben seiner prächtigen Karriere hat er zwei prächtige Söhne vorzuweisen und lässt es darum weder an gesellschaftlicher, noch an familiärer Akzeptanz mangeln."
    Der Septemvir klappte erneut die Wachstafel auf und Aristides stolperte daraus hervor.
    "Flavius Aristides, stets korrekt, auf dem besten Wege zu politischer Karriere, der Körper durch hartes, militärisches Training wohl geformt und die Sinne stets beieinander, wenn auch nicht immer geradeaus gerichtet."
    Valerius drehte Aristides an der Schulter, so dass sie ihn von allen Seiten konnten bestaunen.
    "Standbild des perfekten Vaters und mehr als nur in der Lage, intelligente, prächtige Nachkommen zu zeugen, so dass auch seine Akzeptanz außer Frage steht."
    Erneut öffnete sich die Wachstafel, Furianus trat daraus hervor, den Kopf stolz erhoben.
    "Senator Flavius Furianus, ich muss wohl nicht erwähnen, wie erfolgreich seine Karriere ist, und es versteht sich von selbst, dass er hierbei über jeden Zweifel erhaben ist. Sein Durchsetzungsvermögen gleicht aus, was an guter Kinderstube und Weitsicht fehlt, seine Ehe wurde bereits arrangiert und es steht außer Frage, dass er in Kürze mit wundervollen Nachkommen gesegnet sein wird."
    Ein letztes Mal öffnete sich die große, wächserne Schreibtafel und entließ Aquilius aus ihrem Inneren, hinterließ eine geschmeidige Form, deren unausgefüllte Leere bereits Begierde in ihn zu erwecken vermochte. Jedoch, er schluckte diese herab, konzentrierte sich auf den Körper und die zugehörigen Erläuterungen des Valerius Victor.
    "Der Flavius maior in seiner Perfektion, Flavius Aquilius. Ein wohl gestalteter Körper in all seiner Güte, bis ins letzte Detail adorabel, Verstand und Esprit, mühelos erringt er die Herzen der Gesellschaft, wie auch der Familie. Er zeugte bereits erfolgreich einen Sohn, der wenngleich er auch ein Bastard sein mag, bester Beweis ist, dass Aquilius zukünftig seine Linie in vielfältiger und zahlreicher Art und Weise fortzusetzen wird wissen. Dies, meine lieben discipuli, ist ein Flavius maior, wie er euch allen als Vorbild dienen sollte. Die vollkommene Perfektion indes erreicht er mit einer adäquaten Gattin, welche nicht notwendigerweise die seine sein muss, da er in der Lage ist, jeden Ehemann aufs beste zu ersetzen, explizit und insbesondere einen solchen, welcher nicht seinem Standard entsprechen kann. Womit wir die Spitze der Perfektion nun hinter uns lassen müssen, und uns mit einem kurzen Überblick jene traurigen Geschöpfe zu Gemüte führen wollen, welche wenn überhaupt nur noch den Titel Flavius minor verdienen."
    Der Setpemvir öffnete eine gewaltige Pergamentrolle, pinnte diese an der Wand fest. Mit seinem Zeigestab deutete er auf das erste, aufgemalte Bildnis.
    "Flavius Domitianus - dessen Name ich nicht einmal nennen dürfte, wenn dies kein Traum wäre -, fehlgeleiteter, dem Wahnsinn anheim gefallener Kaiser, welcher die Dynastie der flavischen Kaiser zu Grabe trug. Zwar zeugte er ein Kind, doch jenes war ebenfalls minderwertig und zu schwach zum Leben, weshalb er keinen Erben hinterließ."
    Valerius deutete auf das nächste Bildnis.
    "Flavius Animus, selbst ernanntes Oberhaupt der Christen, unzweifelhaft ebenfalls vom Wahnsinn besessen, Verrat an der Familie, ohne einen einzigen Nachkommen."
    Mit einem lauten Klacken traf Valerius' Zeigestab auf das nächste Bild.
    "Quintus Flavius Gracchus, Verbrecher und Versager auf ganzer Linie, Abschaum der Gesellschaft, durch Fremdverschulden zwar, doch tut dies in der allgemeinen Bewertung nichts zur Sache. Möglicherweise ein Nachkomme, jedoch unwahrscheinlich, vermutlich makelbehaftet."
    Ein maliziöses Lächeln schlich sich auf das Gesicht des Septemvirs.
    "Schlussendlich mit weitem Abstand das rangniederste Exemplar des Flavius minor, Manius Flavius Gracchus."
    Der Zeigestock schlug hart auf das Pult vor ihm, so dass augenblicklich er zusammenzuckte.
    "Gescheiterte Existenz von Anfang bis Ende, ebenfalls Versager auf der ganzen Linie."
    Das Gesicht Valerius' schob sich näher vor ihn, seine Augen wurden bedrohlich größer und funkelten gefährlich als ein rotfarbenes Glühen in ihnen aufloderte.
    "Mäßige, langatmige Karriere, zu tumb, eine Ehe zu führen, treibt seine Frau und seinen Geliebten gleichermaßen in den Abgrund, und zu guter letzt, was ihn gänzlich disqualifiziert, ist er nicht einmal in der Lage, zu vollbringen, was einen Mann zum Manne macht. Keine Nachkommen ist er fähig zu zeugen, der Versager, nicht einen winzig kleinen Nachkommen, nicht die Spur eines Erben, zwingt seine Frau zu ewigem Darben, Abschaum der Gesellschaft, egoistischer Verbrecher an der Ehe! Du!"
    "I-ich"
    , stotterte er und wünschte sich zu jenem unbedeutenden Staub zu zerfallen, welcher seinem Wert entsprach. Zu allem Überflusse bemerkte er schlussendlich, dass er splitternackt vor der Klasse stand, welche in größter Belustigung sich an diesem Umstande erfreuten und mit schallendem Gelächter ihn quittierten.

    ~~~


    Unruhig wälzte Gracchus im Schlafe sich umher, strampelte die Decke von sich und schaffte es gar, das Kissen aus dem Bett zu schieben, so dass sein Sklave Sciurus endlich sich anschickte, eben dies wieder in Ordnung zu bringen. Als jedoch dieser seinem Herrn den Kopf anhob, um das Kissen darunter zu schieben, erwachte jener und blinzelte verwirrt in die Dunkelheit.
    "Mnh?"
    , war der einzig unverständliche Laut, welcher seiner Kehle entrinnen mochte.
    "Nichts, Herr."
    "Hmn."
    Die Decke wieder über sich, drehte Gracchus sich um und schlief weiter.

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  • Der Abend war weit voran geschritten, der Tag fand einen kühlen Ausklang in dunkler, mondloser Nacht, in welcher nur Verbrecher und Verrückte durch Rom würden ziehen, nebst den tollkühnen Mannen, welche den Vigiles sich hatten verschrieben. Als er sein Cubiculum betrat, beschäftigte Gracchus' Körper sich noch mit der nachgehenden Verarbeitung des Abendessens, doch seine Gedanken waren längst voraus geeilt, denn Sciurus hatte von einem Brief berichtet, welcher noch am frühen Abend die Villa hatte von jenem Landgute her erreicht, auf welchem Minervina fern der Stadt weilte, ihren Kopf zu klären. Er fand das Schreiben auf dem kleinen Tisch nahe des Fensters, öffnete es, noch ehe er auf einem der einfachen, doch edlen Stühle hatte Platz genommen, so dass sogleich die Enttäuschung ihn traf, denn jener Brief war nicht von Minervina selbst unterzeichnet. Sie hatte keinen einzigen Brief ihm nach ihrer Abreise gesandt, zürnte ihm augenscheinlich noch immer ob seiner harschen Worte bezüglich ihrer Unvernunft, und was er wusste, dies nur von dem Verwalter des Landgutes, welcher ihm ab und an nichtssagende Worte über ihr nihilistisches Nichtstun berichtete. Er war es auch, welcher jenen Brief hatte aufgesetzt, welchen Gracchus eben in Händen hielt, zu lesen ansetzte. Zutiefst bedauere er den erneuten, schweren Schicksalsschlag der Flavia, sprach sein Beileid den Hinterbliebenen aus, insbesondere den Brüdern, so dass bereits eine eiserne Faust um Gracchus' Herzen sich legte und es zwischen eisigen Fingern zu zerdrücken suchte, noch ehe er die festgeschriebenen Worte hatte gelesen, was geschehen war. Nicht absehbar war es gewesen, so die Worte des Verwalters auf dem feinen Pergament, völlig unvermittelt und unvorhersehbar war die Entscheidung der Dame Flavia über die Villa herein gebrochen. Das rotfarbene Blut war noch warm gewesen als ihre cubicularia sie hatte in ihren Räumlichkeiten aufgefunden, den verzierten, aegyptischen Dolch in ihrer Brust steckend, ein zufriedenes, schmerzloses Lächeln auf ihren Lippen. Mit jedem Wort, welches langsam in seinen Geist sickerte, schlug Gracchus' Herzen ein wenig schneller, bis dass es sich regelrecht zu überschlagen suchte, sein Mund öffnete sich, Luft in die vakuumgefüllten Lungen zu ziehen, doch es war ihm als müsse er ersticken. Ein Zittern erfasste Besitz von seinem Köper, Hitze und Kälte zugleich ließen ihn schaudern, den Blick verwischen und blümerant ihm vor Augen werden. Irgendwo war der Tisch, ein Stuhl, doch Gracchus schaffte nur mehr rücklings der Wand zu zustreben bis dass sein Körper dort gegen harten Widerstand prallte, seine Beine unter ihm nachgaben und er an der Wand entlang zu Boden sank. Einzig ein einzelner Satz noch war allzu deutlich, ließ nicht sich verwischen als wäre er geprägt in das Pergament, ließ sich nicht auslöschen, nicht aus dem Brief, nicht aus seinen Sinnen.
    In ehrenvoller, römischer Art setzte sie ihrem Leben ein Ende durch den Dolch in der Brust.
    Das Blatt entglitt Gracchus' zitternden Händen, segelte auf den Grund des Zimmers und blieb prangernd dort liegen, vorwurfsvoll, stumm wispernd, vernichtend in seiner Anklage. Langsam zog Gracchus seine Knie an sich und umschlang sie mit den Armen, wiegte seinen bebenden Körper und starrte mit furchtgeweiteten Augen in die endlose Leere. Er hatte sie umgebracht. Er hatte sie in den Tod getrieben. Nun auch sie.

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  • Knisternd züngelten die Flammen der Öllampen in die warme Luft des Raumes, ließen die Schatten der kargen Einrichtung tanzen, tauchten sie gleichsam in goldfarbenes, weiches Licht. Doch um Gracchus herum hatte ein Kokon aus eisigem Flüstern sich erschaffen, ein dahin wabernder, verstörter Gesang aus nebulösen Klangvorhängen, bittersüßes, weit nachhallendes, in Morast gegossenes Gemurmel tausender Stimmen, ein aus der Stille sich herausschälender Ruf vergessener Melodien, welcher seinen Körper in zitternde Schwingung hatte versetzt, seinen Atem in Hast jagte, seine Nackenhaare sich sträuben ließ - tausende Tode, tausende Tote, begraben unter dem schweren Ballast der Jahre, hinfort gewischt durch Erinnerung an die Zukunft, versteckt unter banalen Riten.
    Manius
    Ein Gesicht formte sich aus dem Schatten, ein Mund - geöffnet zum Schrei, doch zur Stille verdammt, eine Hand folgte und wollte nach ihm greifen, mit spitzen, scharfkantigen Krallen, von den Spuren des Alters gezeichnet.
    Du
    Tanzend in feurigem Reigen wirbelte der Staub sich zu Schlieren, tausende Augen, tausende Münder und tausende Leiber, welche mit tausenden Händen nach ihm griffen, ein einziges unter ihnen, so fremd und vertraut, ein Name, welcher alle miteinander verband, eine Wurzel am Ende ihres Stammes, tief hineinreichend in den Grund des Schicksals Boden, die Äste in die Unendlichkeit streckend, mit klauenbewehrten Zweigen, welche ihn streiften, über seine Haut rissen und tiefe Furchen darin hinterließen, glühende Augen in der strahlenden Dunkelheit, ihn mit jedem Blicke stechend bis in sein Herz.
    Manius
    Bebend sein Leib, bebend seine Seele, aus Furcht verloren zwischen Zeit und Raum, mühsam nur hoben die Hände sich an seine Schläfen, umschlossen den Kopf zu beiden Seiten, der so unendlich leer und gleichsam zum Bersten gefüllt mit Furcht war, erstarrt im bangenden Zittern. Er hatte sie umgebracht. Er hatte sie in den Tod getrieben. Nun auch sie.

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  • In seinen Händen ein Tuch, in welchem ein heißer Backstein eingewickelt war, betrat Sciurus die Räumlichkeiten seines Herren, um den Stein ans Fußende des Bettes unter die Decke zu legen, wie sein Herr in den kalten Monaten des Jahres darauf bestand. Einen Augenblick lang wunderte er sich, Gracchus nicht bereits im Raum vorzufinden, da er nicht lange zuvor das Triclinium in diese Richtung verlassen hatte. Im nächsten Augenblick jedoch hatte er das zitternde Häufchen Elend an der Wand entdeckt und legte darob den heißen Stein achtlos aufs Bett, um zu ihm zu eilen. "Herr, was ist geschehen?"


    Es hatte beinahe den Anschein, als würde Gracchus bereits schlafen und in einem seiner Albträume gefangen sein, die in den letzten Wochen glücklicherweise etwas seltener geworden waren. Doch sein Herr hatte keine Zeit gehabt, einzuschlafen, gleichsam waren seine Augen weit geöffnet. Er zitterte wie Espenlaub im Wind, hielt seinen Kopf zwischen den Händen und schien sich der Anwesenheit des Sklaven nicht gewahr zu sein.


    "Manius!" Sciurus packte die Hände seines Herren und zog sie herab, hernach dessen Schultern, um ihn leicht zu schütteln, doch über Gracchus' Lippen drang nur ein leises Wimmern, woraufhin der Sklave den willenlosen Körper an sich zog, den Kopf seines Herrn an seine Schulter barg und ihn fest hielt. Sein Blick blieb an den Brief auf dem Boden haften und er fasste kurz danach, um das Schriftstück vor sich zu legen, so dass er es lesen konnte.

  • Ein dumpfer Schatten schob sich in seinen Blick, eine verschwommene Kontur, welche die gierigen Hände zurück drängte, ein Laut, ein Wort, welches das Flüstern in der Stille untergehen ließ. Ein warmer Körper, so vertraut aus zahlreichen, nächtlichen Stunden, der feste Griff der starken Hände, die bedingungslose Hingabe, durchbrochen von seinem Namen, der so fremd und gleichsam vertraut klang, so ungewöhnlich konträr zur sonstigen Unterwürfigkeit, der Name, der nach Caius klang, nach Geborgenheit und Familie. Seine eigene Stimme nurmehr ein Flüstern, ein weinerliches Stocken, gebrochen, getränkt, ertränkt in Furcht.
    "Sie ist hier ... ich kann sie sehen ... sie kann nicht fort ... sie hat sich mir ... wie die anderen ... ich ... ich habe sie ... wegen mir ..."
    Eine Welle des Bebens durchzog seinen Leib, Gracchus presste seinen Kopf an die Schulter des Sklaven, presste die Augen zusammen.
    "Ich kann sie hören ... sie rufen nach mir ... alle ... fort! Sie sollen hinfort! Fort!"
    Der Sklave fasste seinen Leib enger, als müsse er verhindern, dass sie ihn hinfort trugen.
    "Sie können dir nichts anhaben, Herr, nicht hier, nicht in der Villa. Du selbst hast den Bann gesprochen, mit deinem eigenen Blut beschworen. Öffne deine Augen und sieh, Herr, die Zeichen, die du selbst an den Wänden angebracht hast. Konzentriere dich auf den Bann, Herr, sie können dir hier nichts tun."
    Leise wimmernd kauerte sich Gracchus an Sciurus, hielt sich fest an seinen Worten, hielt sich fest an seinem Leib. Sie konnten ihm hier nichts anhaben. Nicht hier. Nicht in der Villa. Der heiße Stein war längst erkaltet, als Gracchus sich der Wahrheit der Worte halbwegs gewiss war, doch er ließ Sciurus nicht fort, zog den Sklaven mit sich in sein Bett, bestand darauf, dass er ihn mit den Armen umfasste und fest hielt, und wurde dennoch bis zum Anbrechen des Morgengrauens von den larven all jener durch die Nacht verfolgt, welche keine Ruhe und keinen Frieden fanden, da ihr letztes Begehr sie noch immer an ihn band.

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  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    In Stille versunken lauschte er den Geheimnissen, welche der Wind leise verriet, wenn niemand zuhörte, der Wahrheit über Wolkenformen, sog in sich den sanft schwingenden Himmel, verhangenen von einem endlosen, cremefarbenen Dunstschleier, durchbrochen nur von einem einzigen glimmenden Spalt, durch welchen das roséfarbene Glühen der Sonne hervor blitzte. Der düstere Schatten eines Raben erhob sich aus der Krone eines knorrigen Baumes, entließ seinen gellenden Schrei tief aus der Kehle und zerteilte die kalte Luft mit seinen scharfen Schwingen. Pergamenten waren seine blassen Federn, sein Schnabel aus dunkelfarbenem Holz, und als er höher sich in die sirrende Luft erhob, zerfiel er langsam zu Staub, welcher hinab zum Boden rieselte und als warmer Sommerregen dorthin auftraf. Jeder Tropfen hinterließ in seinem Aufprall eine klirrende Melodie, Symphonie aus Pläsier, die sich nur um einen einzigen Punkt herum drehte, nur um ihn allein. Das Land lag derweil brach und überzogen von Rissen, aus welchen kleine Eidechsen empor quollen, langsam über den Boden hinweg wanderten. Er ergriff die Gelegenheit, doch sie ließ ihren Schwanz abfallen, welcher zuckend sich in seinen Händen wandte, während das sumpffarbene Getier rasch in einem Ritzen verschwand wie das Sternenlicht im Morgenschein. Metallisch schmeckte das Blut, welches er von der Wunde leckte, doch die Zeit war bereits verstrichen, noch ehe sie begann, so dass er blind folgte den Spuren seines Lebens im Sande, sich verlor im Fluss der Wahrheit und letztlich musste feststellen, dass mit den Flügeln zu schlagen ihn nicht über Wasser hielt. Ein Tropfen in der Dunkelheit, blaufarben und leer, perlte über den Rand des Ufers, hinterließ eine feucht glänzende Spur, ehedem er sich von der rauen Oberfläche des Schilfes löste und in quälender Langsamkeit die Luft über sich zerteilte, um mit einem lautlosen Bersten den Horizont zu berühren und dabei in tausende Splitter aus salzigen Kristallen zu zerspringen, in kaskadierende Klangfraktale sich zu ergießen. Ein fahles Blatt schabte über den Boden und hinterließ einen Rythmus dazu wie das Rauschen der rollenden Wellen an fernen Gestaden, überschlug sich und ummantelte die Stille mit temporalem Fernweh, verlor sich schlussendlich im sandigen Grund.
    Süßes Herz
    , flüsterte eine liebkosende Stimme, zart aus der Unendlichkeit her dringend, einer fernen Welt um ihn herum, doch war jene so unfassbar, so undenkbar, dass nicht einmal im Ansatz er auf den Gedanken kam, diese zu denken, nicht bereit konnte sein, ihre Wahrheit zu erkennen, und in sich zu finden, was durch ihn gegeben war.

    ~~~

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  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~

    Säuselnd flüsterte der Wind ein leises Lied, Reminiszenz an vergeudete Tage, verlorene Sehnsucht aus einem Leben voller Agonie, hin ausgestreckt über die Brücke am maroden Fluss der Vergänglichkeit. Wie Schatten zogen die Schemen des Lebens an ihm vorbei in seiner Hast, Brocken aus Verderbnis ließen wieder und wieder ihn stolpern, fest steckten seine Füße im grünfarbenen Schlick. Fauchend strich ihr heißer Atem um seine Kehle, die Berührung ihrer dürren Finger hinterließ eine Spur graufarbener Schlieren auf seiner Haut, welche wie Säure sich über seinen Körper fraß, ihn zersetzte mit jedem Herzschlag mehr. Sie jagte ihn, seit Tagen, seit Nächten, tagein, nachtaus, forderte ihr Recht an seinem Geiste, seinem Leben, da er ihr all das ihre hatte genommen. Kreischend jagte ihre abominable Stimme durch den schweigenden Wind, stach in seinen Ohren, durch seinen Kopf hindurch bis in sein Herz. Ihre Klauen bewehrten Finger rissen an seiner Haut, zerrten das Fleisch von seinen Knochen, Stück um Stück, teilten ihn in Fetzen der Vergangenheit. Sie zerriss ihm den Bauch, zog die Eingeweide aus ihm heraus wie ein Haruspex aus einem Lamm, spaltete Knochen und Gebein und fraß sich durch seinen Körper wie ein wilder Episit. Nur seine Augen ließ sie in Gänze, zog sie heraus aus ihren Höhlen, so dass er jede ihrer Bewegungen konnte sehen, jedes Detail seines Verzehrs, jedes verschwindende, verschwimmende Element seiner Selbst, bis dass letztlich ihre Daumen sich auf seine Pupillen drückten, eindrückten in die weiche Membran, zerstörten.

    ~~~


    Schweißgebadet, um sich schlagend schreckte Gracchus inmitten der Nacht aus dem Schlafe auf, ein halb erstickter Schrei in seiner Kehle steckend, am ganzen Leibe zitternd. Er heulte auf, krümmte sich, hielt die Hände an seine Schläfen und schreckte unter leisem Wimmern zusammen, als Sciurus ihn an den Schultern fasste.
    "Sie frisst mich auf ... sie frisst mich auf ..."
    Verzweifelt suchte er sich in seinem Kissen zu verbergen, Tränen perlten aus seinen Augen - nicht der Trauer, einzig der Furcht -, dass er selbst seinen Leibsklaven nicht um sich wollte wissen, gleichsam doch zu tief durchzogen war von Angst, ihn hinfort zu schicken. Sein Kopf pochte, als würde sie noch immer versuchen, ihm die Haut vom Schädel zu ziehen, und sein Leib zitterte vor Kälte, als würde noch immer ihr eisiger Atem ihn umfangen. Bis zum Morgengrauen hin fand Gracchus nicht mehr zurück in den Schlaf, wollte nicht zurück finden, aus Furcht erneut von ihr zerrissen zu werden.

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  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~

    Dunkelfarben, in blutrotfarbenen Wein getaucht, in schimmerndes Weinen aus süßer Lust, lustvoll im Wahn sich windend, die Wendung des Glückes suchend, war er gefangen im glücklosen Heil. Heilsam waren der Alten Hände, behände im Mondesschein, so schien es herab aus der goldenen Kuppel, die Fingerkuppen in silbernes Licht getaucht. Leuchtend wie Meerestiere tauchte die Versuchung hinweg, suchte zu durchdringen den ewigen Grund, denn grundlos waren die Städte zerfallen, fielen empor zur endlosen Wahrheit, die wahrhaftig Sinn dieser Lüge war. Ungelogen hoben glitzernde Partikel plastische Phantasmen aus paraphrasierten Phrasendreschern, zogen Taschenspielern aus leeren Beuteln die Spiele, eckten an im Angesichte des kreisenden Schreckens und bogen die Glieder zum Quadrat hernieder.
    "Wirrnis, süße Wirrnis, lass' mich eintauchen in deinen Geist, lass' mich kosten von deiner zarten Verlockung, lass' den Nektar der Verheißungen mich lecken von deiner Brust. Wirrnis, süße Wirrnis, in deinen Armen liege ich begraben, gebrochen am Schicksal, windend, wonnevoll umschlungen verliere ich mich in deiner Lust. Wirrnis, süße Wirrnis, sei mein Herz von dir gefangen, sei mein Geiste angefüllt, denn tief hinab in deinem Schlunde will ich dich mit allem Leibe fassen. Wirrnis, süße Wirrnis, lege um mich deine Flügel und bedecke mich mit Staub, denn mit keinem Sinne nimmermehr will ich noch von dir lassen."
    Entfesselt im Sturme aus Trunkenheit zerrann des Spiegels Bildnis im fahlen Schein, ließ fleckenfarbene Schwärze zurück in der Dämmerung, umfasste ihn zeitlos nahe der Grenze zwischen Gut und Böse. Hart prasselte der Regen aus Eis hernieder, so dass die Augen ihm geschlossen waren, mit gesenktem Kopfe er auf den Aufprall wartete, welcher nie zu kommen wusste, bis dass das Licht erlosch. Gezeiten kamen und flohen, wie flehend sich um ihn herum die Welt verschloss, denn wer das Netz spann und wer darin sich wandte, legte einzig das Schicksal alleine fest.

    ~~~


    Als der Schlaf sich von Gracchus abwandte, ihn Morpheus aus seinen Fängen entließ, herrschte Leere in seinem Geist, eine sonderbare Leere. Die Nacht vor dem Fenster ließ noch immer den Tag auf seine Ankunft harren, Stille durchzog die Villa, eine sonderbare Stille. Träge setzte Gracchus sich auf, blinzelte in das Dämmerlicht seines Cubiculum und wurde seines Sklaven Sciurus gewahr, welcher mit offenen Augen neben der Türe saß. Still starrte er ihn an, als wäre jener selbst nur Teil eines sonderbaren Traumes, Herzschläge zerrannen, hinterließen die Welt, wie sie nie wieder würde sein. Langsam schlug Gracchus die Decke zurück, stand auf und durchquert den Raum, um vor seinem Sklaven sich hernieder zu knien. Sciurus reagierte nicht, starrte nur aus seinen eisblaufarbenen Augen ihn an, welche zu dieser nächtlichen Zeit graufarbenen schimmerten. Allmählich beschleunigte Gracchus' Herzschlag sich - er hatte ihn umgebracht, er wusste es, wie all die anderen -, er öffnete den Mund, sog die kalte Luft in seine Lungen und hob seine Hand, hauchte mit zittriger Stimme.
    "Sciurus ..."
    Ein Ruck zog sich durch den Körper des Sklaven, dessen Hand nach oben schnellte und jene seines Herren umfasste. Für einen Augenblick schien es, als würde Sciurus nicht wissen, wo er war, dann jedoch löste er die Berührung. "Herr?"
    Zitternd, mit weit aufgerissenen Augen und rasendem Herzen ließ auch Gracchus seine Hand sinken.
    "Nichts ..."
    Schwankend stand er auf, wandte dem Sklaven sich ab.
    "Geh', und hole warmes Wasser. Die Nacht ist vorbei."

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  • Die Sklaven trugen Gracchus' schlaffen Körper bis auf das Bett in seinem Cubiculum, nur wenige Augenblicke danach erreichte auch Sciurus mit einem griechischen Medicus von der Tiberinsel her die Villa. Der Sklave vertraute dem in der Villa noch immer residierenden Kosmas, ehemaliger Medicus der Flavia Leontia und nun wieder im Besitz Aetius' stehend, nicht, hielt ihn für einen Schmarotzer, welcher nur deswegen nicht zu seinem Herrn zurück kehrte, weil dort Arbeit auf ihn wartete. Ob der Grieche besser war, würde sich zeigen. Während der Medicus sich anschickte, Gracchus zu untersuchen, wich Sciurus nicht aus dem Raume.

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  • Eine Weile lang begutachtete der Grieche Gracchus' Körper, öffnete seine Augen, welche nur trübe und ohne Sinn in die Welt starrten, öffnete seinen Mund, um die Zunge zu begutachten, flößte ihm einige Schlucke Wasser ein, betastete vorsichtig seinen Kopf und seinen Oberkörper, murmelte alsbald vor sich hin, nickte hernach oder schüttelte den Kopf. Schlussendlich wandte er Sciurus sich zu.
    "Er ist nicht bei Kräften."
    Der Sklave kniff die Augen zusammen, denn es war dies kaum eine Diagnose, welche er nicht selbst hätte stellen können.
    "Was hat er heute gegessen und getrunken?"
    "Ein Glas Milch heute Morgen, Mittags ein Stück Brot mit Käse und etwa eine halbe Kanne gewässerten Wein über den Tag verteilt."
    "Und allgemein, was isst er sonst?"
    "Nicht viel derzeit."
    "Trinkt er genügend?"
    "Mäßig."
    "Arbeitet viel?"
    "Zu viel."
    "Sein Schlaf?"
    "Unruhig und kurz."
    Wieder nickte der Medicus. "Der menschliche Körper ist ein wahres Wunderwerk, wie auch der Geist, doch Tortur können beide nicht grenzenlos ertragen. Bei dauerhafter, belastender Beanspruchung, mangelnder Kräftezufuhr und zu wenige Ruhe kommt es vor, dass der Körper im inneren Schaden nimmt. Ich kann nicht feststellen, dass der Körper deines Herrn im Inneren Schaden genommen hat, doch manche Schäden sind so tief im Körper oder im eigentlichen Ausmaß so gering, dass sie sich nur feststellen lassen, wenn ein Mensch tot ist. Dein Herr atmet noch, wenn auch flach, und es bleibt zu hoffen, dass er bald wieder zu Kräften kommt. Es wichtig, dem Körper viel Flüssigkeit zuzuführen, Wasser mit Essig am besten, dies desinfiziert das Innere."
    "Wie lange wird das dauern?"
    "Das lässt sich nicht sagen. Wenn er zu Bewusstsein kommt, lasse mich rufen. Ansonsten komme ich nach dem nächsten Markttag wieder vorbei. Wenn er aufhört zu atmen, lasse mich ebenfalls rufen."
    Nicht, dass dem Medicus dann noch gegeben wäre, viel zu ändern. Er erhob sich und verabschiedete sich, ließ den Sklaven ratlos wie zuvor am Bett seines Herrn zurück.


    Weisheiten alter Waschweiber, mehr hatte der Medicus kaum von sich gegeben. Allfällig sollte er doch noch einmal Kosmas konsultieren. Sciurus setzte sich neben seinen Herrn und wischte mit einem feuchten Tuch über dessen Stirn. Er fühlte sich erinnert an die letzten Tage seines vorherigen Herrn, doch jener war in etwa doppelt so alt gewesen wie Gracchus. Es war nicht, dass Sciurus seinen Herrn mochte - Sciurus mochte niemanden, dabei war auch Gracchus keine Ausnahme - doch er respektierte ihn und es war ihm nicht daran gelegen, den Haushalt zu wechseln.

  • ~~~ Gefangen im Labyrinth der Seele~~~

    Feuchtigkeit und Moder zogen über die schroffen, graufarbenen Steine hinweg, welche durch ein unscheinbares Glimmen ohne Ursprung wurden erleuchtet, den dumpfen Hall des leeren Raumes an sich reflektierten und in das leblose Nichts zurück warfen. Es gab kein Licht in diesen Räumen, keine Luft, keinen Himmel und keine Erde, nur graufarbenen Stein neben ihm, graufarbenen Stein über ihm und graufarbenen Stein zu seinen Füßen. Seit langem nicht mehr war er hier gewesen, Jahre, Jahrzehnte gar, eine Ewigkeit her, allfällig niemals zuvor, doch er hatte dies vergessen. Er wusste nurmehr, dass es keinen Ausgang gab aus diesen Gängen, denn sie waren nicht dazu geschaffen, sie je zu verlassen, sie waren geschaffen, aufzunehmen, was stets und ewiglich sollte im Verborgenen darben, was niemals an die Oberfläche sollte gelangen. Seine dürre Hand berührte den kalten, feuchten Stein, und die Kälte griff auf seinen bleichen Körper über, strich über seine diaphane Haut und umfasste seine maroden Knochen, bis dass er von der rauen Wand abließ. Fern hallte der hohe Schrei seines Wesens, brach sich an den Gängen und schmerzte in seinen Ohren, klang in einem Grollen aus und versiegte in trostloser, trügerischer Stille. Ein schmales Rinnsal aus graufarbenem Staub zu seinen Füßen wies ihm ein Stück lang den Weg. Er musste in Bewegung bleiben, um nicht eins zu werden mit der Ödnis, nicht als Teil dieses Labyrinthes zu verwachsen, in der Stille zu versinken, doch er spürte nach einiger Zeit, wie seine Sinne dem Drängen langsam nachgaben, obgleich sie längst nicht mehr Teil seines Selbst waren. Er wusste nicht, wie lange bereits er durch diese Gänge irrte, ohne zu wissen, wohin, ohne zu wissen, wozu, doch getrieben von dem unbändigen Verlangen, diesen Ort zu verlassen, denn die Zeit hatte ohnehin jede Grundlage ihrer Existenz verloren. Wie frühmorgendlicher Nebel über einem sumpfigen Fluss hing Defätismus zwischen den kahlen Wänden, kroch sukzessive seinen Körper empor, liebkoste seine Haut mit seinen steifen Fingern, gleichsam ließ er bereitwillig sich von ihm umfangen, denn es war letztlich die einzige Berührung, welche in der Düsternis noch gegenwärtig war. Leer und einsam hallten die verzweifelten Klänge, ferne Rufe, durch die Gänge, verschmolzen mit der Stille, doch niemand war bereit, ihm zu antworten, denn zu tief hatte er sich verloren, zu weit schon war er in der verborgenen Dunkelheit seiner selbst versunken. Er war müde und erschöpft, doch in dieser Welt gab es keinen Schlaf, gab es nur rastloses Umherirren, ruheloses Verharren in der Existenzlosigkeit.

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  • ~~~ Gefangen im Labyrinth der Seele~~~

    Schwer lag er im endlosen Raum, trieb ziellos durch die Nichtigkeit dahin, sich dabei langsam selbst verzehrend. So sehr er auch suchte, sich von sich selbst zu lösen, desto mehr spürte er die tausenden Nadelstiche auf jener Haut, welche längstens nicht mehr die seine war. Unbarmherzig drückten gewaltige Riesen auf seinen Leib ein, drückten die Muskeln ihm schmerzhaft zusammen, nur um im nächsten Augenblicke jäh sie auseinander zu reißen. Mit groben Feilen säbelten sie gleichsam an seinen Knochen, splitterten, was ihn aufrecht hielt, in kleine Stücke, die in sein Fleisch hinein sich bohrten, füllten ihn auf mit schwerem Stein, der hernach beständig ihn zum Grunde zog. Er wollte sterben in diesem Augenblicke, einen Herzschlag lang, um hernach neu geboren zu werden in einen neuen Leib, in neue Leichtigkeit, ohne die quälende Pein, einen Augenblick nur, einen Herzschlag lang den Körper verlassen, welcher längstens nicht mehr der seine war. Frei sein. Doch der Leib, der nicht der seine war, blieb, wie auch der Geist, der ihn verlassen hatte, in der endlosen Leere.

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  • ~~~ Gefangen im Labyrinth der Seele~~~


    Schwer und blaufarben wehte die glimmende Verheißung in der trostlosen Ferne, lockte mit bittersüßem Takt den rastlosen Geist in ihre Fänge. Treibend versank die Stille um ihn herum, ließ zurück nur modrige Fäulnis und ungustiöse Diskordanz. In einem See aus züngelnden Flammen labten ihre opaken Schatten sich am eitrigen Grunde, harrten auf den Augenblick, da sein Selbst sich aufgab und der Leere entgegen fiel, zu kümmerlich nurmehr, um in Antagonismus aufzublühen. Mit roher Gewalt splitterten sie Holz und Stein, drangen forsch ein in seine Gefilde, zerrissen mit blanken Krallen, zerfetzten mit spitzen Schnäbeln, zerstörten mit scharfen Schwingen, zertrümmerten, zermalmten unter dem Gewicht ihrer bloßen Knochen. Kreischend hallten ihre Rufe von seinen Mauern wider, eisig wehte ihr giftiger Hauch durch jeden Raum, während ohne Sinne gefangen er im tiefen Untergrund verborgen lag. Nichts blieb unberührt und als nach endlosem Furor ihr Treiben allmählich verhallte, blieb nur Chaos, blieb nur Devastation zurück, Bruchstücke nur von dem, was er einst gewesen war.

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  • ~~~ Gefangen im Labyrinth der Seele~~~


    Zuckende Blitze durchbrachen die düsteren, schwarzfarbenen Wolken und tauchten das Land unter sich in gräuliche Schatten. Jeder seiner Schritte hinterließ ein klebriges Platschen in dem morastig, sumpfigen Grunde, blieb beinahe darin stecken, doch seine Furcht trieb beständig ihn weiter, jagte rastlos ihn durch das unwegsame Gelände. Äste griffen mit ihren dürren Fingern nach seiner Haut, rissen blutige Scharten in seinen Leib, welche mit jedem Schritte mehr schmerzten, mit jedem Schritte an seine Verwundbarkeit ihn erinnerten. Schrill drang ihr kreischendes Lachen an seine Ohren, drohte den Kopf ihm zu zersprengen als die strigae über seinem Haupte kreisten, mit ihren ledrigen Flügeln den kalten Wind beiseite drängten und ihre scharfkantigen Schnäbel die Luft zerteilten. Er kannte ihre Gesichter nur zu gut noch ehedem sie ihn umkreisten, ihre Flugbahn enger zogen, ihn einfingen wie ein Stück Beute. Die erste riss mit ihrem Schnabel in seinen Schulter hinein, und er entließ einen Schrei voller Schmerzen aus seiner Kehle hinaus in die Welt, welchen sie begierig auffraß. Die nächste trieb ihren spitzen Schnabel in sein Ohr, dass es ihm schien als würde sein eigener Schrei von innen heraus ihn zerbersten lassen, während eine weitere in seine Kehle stach, jeden weiteren Laut unterband, die nächste in seine Wangen, seine Schläfen, seine Augen. Es gab kein Entkommen, kein Entrinnen, so dass er zerfiel unter ihrer Qual in zerrissene Fetzen, Brocken aus Fleisch, welche ihre gierigen Kehlen hinab rannen. Er löste sich auf, zu einem Fraß verkommen, und alles, was von ihm blieb, war sein Schrei, der auf ewiglich aus ihren Mäulern entwich.


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  • ~~~ Gefangen im Labyrinth der Seele~~~


    Filigrane, hauchzarte Nebelfetzen glommen über dem tief schwarzfarbenen Grund, tauchten den Weg in ein Meer aus glitzernden Scherben. Zerbrochene Spiegel zierten die große Halle, in welcher einst das Ich verborgen gewesen war, zerbrochene Rahmen säumten die Galerie der memorablen Momente, selbst in den Räumen der Zweisamkeit lag das Mobiliar zerstört, die Erinnerung verwüstet, jede noch so kleine Reminiszenz war in ihrem Anblick verworren. Ein opaquer Schatten durchstreifte die Gefilde, nur mehr Silhouette seiner Selbst, unsicher in seinen leeren Schritten, welche den Boden nicht zu berühren vermochten, irrte verloren durch ein fremdes Reich, von dessen Existenz ihn eine latente Ahnung plagte, ein leichter, vertrauter Hauch, der Klang einer längst vergessenen Melodie. Vorsichtig berührte er die zerbrochene Welt, ließ seine Finger über rissige Kanten und gebrochene Spitzen gleiten, und mit einem mal war er sich dessen sicher, dass all dies für ihn musste von Bedeutung sein, dass all dies devastierte Gut sein eigen war, sein Selbst, jener klägliche Rest. Es gab keine Zeit, keinen Raum nach diesem, keine Umkehr zurück, keinen Weg hinaus, keine Wahl, niemanden außer ihm selbst und all seiner anderen. In einer schier endlosen Dehnung der Dimensionen griff die faserige Hand zum Boden hinab, fasste ein Stück Staub und setzte es zurück an den ihm vorgesehenen Platz, formte es zu dem, was es einst gewesen war, doch gleichsam gänzlich neu. Am Ende gab es nurmehr einen Anfang.

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  • ~~~ Gefangen im Labyrinth der Seele~~~


    Sanft glitzerte die Oberfläche des weich dahin fließenden Flusses und reflektierte die am Ufer stehenden Bäume, wie auch die weißfarbenen Wolkenfetzen, welche über den weit entfernten Himmel hinweg zogen. Gedankenversunken wiegten die Gräser ihre grünfarbenen Spitzen im Takte des vorbeiwehenden Windhauches, blasse, mauvefarbene Blüten an der Böschung verströmten ihren lieblichen, süßen Duft und filigrane, schaumgekrönte Wirbel zogen sich dort über die Oberfläche des spiegelnden Wassers, wo Widerstand auf dem Grund - in die Höhe ragendes Geäst, durch den Strom wankende Wasserpflanzen, große Steinbrocken allfällig - den stetigen Lauf behinderten, begleiteten das leise Plätschern des Flusses mit jeder Woge, jeder Note im Klang der immerwährenden Symphonie. Zärtlich umspülte das klare Nass seine Beine, umstrich ihn, umspielte ihn sanft, während er vorsichtig seine Füße hob und Stück um Stück durch das Wasser watete. Noch als er den halben Fluss nicht hatte durchdrungen, sah er ihn bereits am anderen Ufer warten, seinen schmalen, weiß- und graufarbenen Rumpf, unbeweglich auf den langen, blassen Beinen ruhend, den schwarzfarben maskierten Kopf nah an den Leib eingezogen, und den matt orangefarbenen Schnabel in gesenkter Haltung, als versuche er für die Welt unsichtbar zu sein, als erwarte er jeden Moment die schneidende Sichel. Erst als er ihm näher kam reckte er den Kopf empor auf seinem langen, weißfarbenen Hals, blickte stolz und erhaben ihm entgegen, harrend, abwartend, und ohne Furcht, unnahbar so schien es allein durch seinen Blick, mit welchem er jede Bewegung, jede Regung um sich herum taxierte. Langsam näherte er sich ihm, bis dass er vor ihm war angelangt, verbeugte sich, beugte sich und blickte hinab in die schimmernde Spiegelung auf dem Wasser, sah sich selbst, den langen, geraden Schnabel, die schwarzfarbenen Federn, welche seine stolzen Augen umrahmten, und er wusste, dass dies er war, verschmolz mit ihm, wurde er, war er. Sein Blick der seine, rundherum sein Reich, denn es war dies sein Zuhause, der Fluss und die Mündung in den großen Strom, die schmalen, mit Gräsern bewachsenen und Kieseln bedeckten Inseln, der graufarbene Stein am Grunde, so graufarben beinahe wie das Gefieder seiner Flügel, welche er nun weit zu den Seiten hin ausbreitete, dass die schwarzfarbenen Enden im Sonnenlicht glänzten, spürte wie seine Federn unter dem Hauch des Windes erzitterten, reckte den Schnabel empor und drückte mit einem kräftigen Flügelschlag sich hinauf in die Luft, dem blaufarbenen Himmel entgegen, während seine Silhouette über die Spiegelung des Wassers zog, den dortigen Himmel zerteilte und mit jedem Schlag knapp über der Wasseroberfläche mit ihm zu verschmelzen schien. Leichthin schwebte er über den Fluss hinweg, denn er war zuhause.

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    Er war zuhause, doch er wusste nicht, wo er war. Schwer waren Gracchus seine Lider als er versuchte, sie zu heben, als hätten kleine Gewichte darauf ihren Platz gefunden, ihn zu zwingen, sie geschlossen zu halten. Mühsam kämpfte er gegen seinen Körper, welcher nicht wollte weichen, bis dass endlich das fahle Licht in seine Augen drang, farblos und blass, Abbild einer Welt, welche noch immer so fern ihm war, gleichsam schien auch sein Leib so unwirklich, nicht Teil seiner selbst zu sein, fern seines Einflusses. Vertraut schien der Raum um ihn herum, gleichsam so fremd wie er sich selbst, der er nichts zu tun oder zu sagen wusste, da er nicht sich konnte erinnern, wie etwas zu tun oder zu sagen war. Er war sich dessen sicher, dass es eine Möglichkeit musste geben, doch entweder hatte er vergessen, wie dies zu tun war, oder aber es wirkte nicht mehr. Sein Geist schien ihm umhüllt von feinem Nebel, untermalt von stetigem Prasseln fernen Regens, eingeschlossen von einer diaphanen Membran aus Gelee. Er wusste, dass es möglich sein musste, etwas zu ändern, doch so sehr er auch suchte, sich daran zu erinnern, es wollte nicht ihm nicht in die Sinne gelangen, eben so wenig wie jenes Wort, welches bereits ihm auf der Zunge lag, danach drängte, ihn zu verlassen, doch gleichsam nicht mehr verfügbar war. War es dies, zu sterben, oder war es dies, zu leben? Allfällig war es nichts von beidem und womöglich war es ohnehin irrelevant, denn mit einem Male tat sich ein Blinzeln vor seinen Augen, völlig unwillkürlich, ohne dass er dies bewusst tat, doch mit der Bewegung kehrte langsam die Erinnerung an die Tat an sich zurück. Augenblicke zerrannen, Zeitalter verstrichen, Dauer, welche nicht zu fassen war, bis dass Gracchus' Lider sich hoben und senkten in seinem eigenen Willen, was nicht geringer war, denn empor sich zu heben, im Flügelschlag zu schweben.

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  • Wie kleine, filigrane Elemente tanzten die Staubkörner im Strahl des durch ein Fenster einfallenden Sonnenlichtes, drehten sich zu einer unhörbaren Melodie, immer dann aufgeschreckt und in die Höhe aufgewirbelt, wenn Sciurus in seinem beständigen Hin und Her die Luft auf seinem Wege zerteilte. Seit der Sklave sich dessen gewahr worden war, dass Gracchus nicht nur die Augen hatte geöffnet, sondern gleichsam ihm aufmerksam mit seinem Blick folgte, war ein wenig Hektik in ihn eingedrungen, wenngleich auch Sciurus' Hektik stets den äußeren Anschein von unerschütterlicher Gelassenheit trug. Sogleich hatte er seinem Herrn ein Kissen in den Rücken geschoben und ihm Flüssigkeit eingeflößt, von welcher Gracchus erst dann realisiert hatte, dass es sich um saures Essigwasser handelte, als es längst in seinem Magen verschwunden war. Hernach hatte er einen weiteren Sklaven aufgescheucht, einen Medicus herbei zu holen, und stets Fragen an seinen Herrn gerichtet, welche doch ohne Sinn und Bedeutung in dessen Bewusstsein waren angelangt, in Endlosigkeit gedehnt, unverständlich als würde Sciurus die Sprache seiner Vorfahren sprechen, derer Gracchus nicht mächtig war. Er wollte den Sklaven auffordern, inne zu halten in seinem Treiben, doch jedes Wort, welches er in seinem Inneren fasste und einem Satze beifügte, verlor sich auf dem weiten Weg von der Absicht bis zur Manifestation in seiner Kehle, gleich wie sehr er sich mühte, der Absicht mehr Persistenz zu verleihen. Der Medicus kam, sprach viel zu leise, gedämpft, untersuchte seine Pupillen, blickte ihm in die Kehle, tastete seinen Kopf ab, prüfte Puls und Reaktion seines Körpers auf Reize. All dies ließ Gracchus über sich ergehen, denn ohnehin blieb nichts anderes ihm übrig, da alles, was er suchte zu tun oder zu sagen im Ansatz der Ausführung bereits zum Scheitern verurteilt war. Erst als der Medicus seine Hand nahm und daran die Finger beugte und streckte, fand Gracchus in sich eine leise Reminiszenz an die Bewegung an sich, welche sukzessive einen Prozess induzierte, welcher von Außen her unscheinbar in seinem Innerstem sich ereignete und längstens nicht beendet war, als der Arzt bereits den Raum wieder hatte verlassen. Während die Staubkörner in ihrem Reigen sich drehten und tanzten, tanzte Gracchus' Geist durch das Innere seines Gedankengebäudes, sortierte, strukturierte und ordnete Körper zu Geist und Absicht zu Tat.

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  • Nur langsam kehrte Gracchus' Erinnerung daran zurück, wie es war zu sein, wie es war zu tun, wie zu sein und zu tun war, gleichsam zog die Welt in einer Geschwindigkeit an ihm vorüber, welcher er anfangs nur schwer konnte folgen. Das Abbild des Geschehens brauchte eine schier endlose Zeit, um von der Tat durch seine Augen bis in sein Bewusstsein hin vorzudringen, die Geräusche der Welt schienen verzerrt und gedehnt dort anzukommen, und die Einsortierung in die rechten Verarbeitungsmechanismen, die Zuordnung zu Bekanntem hernach brauchte mehr Zeit noch, obgleich einmal in seinem Bewusstsein angelangt die Möglichkeiten noch immer grenzenlos waren. Gleichsam war der umgekehrte Weg eine Mühsal für sich, denn obgleich Gedanken in Bruchteilen eines Herzschlages waren gedacht, so fiel es Gracchus schwer, sie durch die bloße Absicht bis aus seiner Kehle hinaus in die Welt zu entlassen, oft gingen auf jenem Weg gar Bruchstücke, einzelne Worte verloren, dessen er durchaus im Nachhinein wurde gewahr, doch viel zu spät erst, da wiederum die Rückkopplung jener Nachricht verzögert war, weshalb nach einigen kläglichen Versuchen er dazu überging, sich kurz zu halten. Wie ein Fremder fühlte er sich in seinem Körper, der Geist eingesperrt, umhüllt von einer dicken Membran, welche ein- wie auswärts nur zögerlich Aktion und Reaktion gewährte, einen Teil dessen in sich unwiederbringlich aufsog, und um so ungeduldiger er war, um so drängender er jene Barriere wollte durchdringen, desto dichter und fester zog sie sich um ihn herum. Beständig schwirrte Sciurus durch den Raum wie eine emsige Biene, rückte die Kissen gerade, ließ frische Luft durch die Fenster ein, flößte seinem Herrn Wasser oder kräftigende Brühe ein, und löffelte bald Puls aus einer Schüssel in Gracchus' Mund, welchem dies alles zuwider und zuviel war, doch der stetige Drang, den Sklaven hinfort zu scheuchen, half zumindest dabei, dass Gracchus sich mehr und mehr mühte, wieder Herr über sich selbst zu werden.

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  • Einem Puppenspieler an einer Marionette gleich zog Gracchus die Fäden an seinem Körper, beobachtete sich dabei, wie die Bewegungen langsam vonstatten gingen, und manches Mal schien es ihm beinahe einfacher Sciurus' Körper durch seinen Willen zu bewegen, welcher in dieser Zeit so vorhersehbar reagierte, denn seinen eigenen Leib. Der Medicus kam noch einmal und stellte zahlreiche Fragen, welche Gracchus überwiegend nur mit bejahendem Nicken oder verneinendem Kopfschütteln quittierte, und all die vielen Fragen, welche ihm selbst im Geiste brannten, blieben unausgesprochen ob seiner Schwierigkeit den Worten Raum zu geben, blieben gleichsam ohne Antwort. Eine einzige von ihnen sprach Sciurus aus, wie lange es würde dauern, bis dass sein Herr wieder völlig genesen würde sein, doch der Grieche zuckte nur mit den Schultern und wiegte unbestimmt den Kopf. In manchen solcher Fälle brauchte es nur Tage oder Wochen bis dass Besserung eintrat, in manchen blieben kleinere Spuren zurück, kaum bemerkbar und der Sorge wert, bei manch anderen Menschen dagegen blieben die Spuren ein Leben lang deutlich, schlechte Beweglichkeit einer Körperhälfte, mangelnde Konzentrationsfähigkeit, der Verlust des Ausdrucks oder auch der Erinnerung, viele divergente Symptome, so der Arzt, welche allesamt Ausprägung eines Aussetzers im Kopfe waren, und niemand konnte vorhersehen, welcher Schaden blieb. Als der Arzt gegangen war und auch Sciurus den Raum für kurze Zeit verlassen hatte, verfiel Gracchus allmählich in Panik. Sein Geist war gefangen in jenem defekten Körper, welcher sein eigen war, und die Vorstellung, dass jener Leib ihm nicht mehr in natürlicher Art und Weise würde folgen, er nicht mehr Herr über sich selbst würde sein, insbesondere nicht mehr seine Gedanken würde klar zum Ausdrück bringen können, versetzte ihn mehr in Frucht denn jede andere Furcht zuvor, und er spürte, dass der Fluch ihn wieder hatte eingeholt.

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