Quintus Flavius Flaccus
Villa Flavia - Roma / Provincia Italia
Xenophanes Quinto amico s.d.p.
Wie schön doch, mein Guter, nach so langer Zeit wieder etwas von dir zu hören. Oft habe ich an dich gedacht, als ich vor gut zwei Wochen von Athen aus mit dem Schiff nach Alexandria segelte, und nun gibt mir dein Brief die Sicherheit, dass auch du mich nicht vergessen hast. Wenn mich der Schlaf nicht sofort einholte, bin ich oft noch oben an Deck geblieben und dachte über vieles nach. Du merkst, ich habe mich nicht sehr verändert. In meinen Gedanken blickte ich hoch zu den Sternen. Die See - oder sollte ich vielleicht nun doch etwa Poseidon schreiben - meinte es glücklicherweise sehr oft gut mit uns. Bis auf eine Nacht, als wir vielleicht noch etwa einen Tag vom Megas Limen Alexandrias entfernt waren, da hielt ich eine sichere Ankunft beinahe für ausgeschlossen. Du weißt, wie sehr mir die Seefahrt missfällt. Wie dem auch sei, auch in der Hinsicht habe ich mich nicht verändert: mir kommen stets tausend Gedanken zum gleichen Zeitpunkt und am liebsten würde ich sie alle auf einmal ausdrücken wollen.
Jedenfalls saß ich in einer Nacht oben auf dem Deck und ich blickte zu den Sternen. Da dachte ich oft an die Zeit in Athen mit dir zurück und ich musste sehr lachen, als ich mich daran erinnerte, wie wir einst ein wenig über Geometrie geredet hatten und ich dir von Aristoteles und dem kleinen Sklaven erzählt hatte. Ich hatte dich auf gleiche Weise gefragt, wie man ein Quadrat mit der Seitenlänge 1 verdoppeln könnte. Wie auch der kleine Sklave bist du damals darauf hereingefallen und meintest doch, man müsse ein Quadrat mit der Seitenlänge 2 bilden und es ist dir erst anschließend aufgefallen, dass du damit das Quadrat vervierfacht hast. Laut haben wir damals gelacht und uns beide über unsere Fehler gefreut, denn aus ihnen - so ist es doch - lernt man am meisten.
Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen. Und so ist es auch bei dir, wenn du dich den Göttern verpflichtet hast - auch wenn du weißt, wie mein Verhältnis zu den Göttern ist. Doch bitte versprich mir, dass du auf dich Acht gibst. Hon hoi theoi philousin, apothnskei neos - Wen die Götter lieben, der stirbt jung. Wenn die Götter sich also doch für uns interessieren sollten, dann ist wohl die Geschichte von Kleobis und Biton der beste Beweis für diese Aussage. Denn auch sie waren junge und hübsche Athleten, die sich für ihre Mutter, die als Priesterin zu Ehren eines Festes von Stieren in die Polis getragen werden sollte, selbst unter das Joch legten und ihre Mutter zogen, als die Stiere nicht rechtzeitig vom Acker herbeikamen. Die größte Bewunderung von den Polisbürgern erhielten die beiden für ihre Tat und als ihre Mutter im Tempel zu den Göttern gebetet hat und sie darum bat, ihren Söhnen das Beste zu gewähren, da schliefen Kleobis und Biton im Tempel ein und starben in der Nacht. Denn wie pflegte der weise Solon zu sagen: Man darf erst jemanden als glücklich bezeichnen, wenn er sein Leben gut beendet hat. Und dies - so meinen es die Leute - haben auch die Götter für Kleobis und Biton getan, sie haben ihr Leben beendet, als sie in ihrer größten Blüte standen, damit sie nun glücklich sein können und einen möglichen Fall nicht mehr miterleben müssen.
Ich erzähle wieder zu viel und mein Papyrus neigt sich dem Ende. Ich möchte dir schließlich versichern, dass ich dich, mein bester Schüler und Freund, in allem unterstützen werde. Und wenn du dich den Göttern hingibst, so wirst du in jedem Fall gute Gründe dafür haben, denen ich Vertrauen schenke.
Vide, ut valeas bene, o phile!
Überwiesen.