Auch Siv vergaß nicht, wer sie waren – und auch sie konnte sich nicht des Gefühls erwehren, dass es in diesem Moment keine Rolle spielte. Vielleicht würde das in wenigen Augenblicken schon wieder verschwunden sein, aber jetzt saß sie einfach nur da und hielt Priscas Hand, wie die einer Freundin, die einfach etwas Nähe und Zuwendung brauchte. Nicht mehr und nicht weniger. Entsprechend wandte Siv auch nicht ihren Blick ab, als Prisca sie kurz, aber forschenden ansah. Sie fühlte sich nicht ganz wohl dabei, hatte sie doch immer im Hinterkopf, dass im Grunde niemand erfahren durfte, was sie in Bezug auf Corvinus wirklich bewegte. Und hätte Prisca sie direkt gefragt, Siv hätte ausweichend geantwortet, in einer Weise, die letztlich nichts sagte, außer dass sie seine Sklavin war. Priscas Blick aber forderte nichts, fragte nichts, sondern beobachtete nur, und das, in diesem Moment, in dem es keine Rolle spielte, wer sie waren, war es letztlich, was dazu führte, dass Siv diesen Blick offen erwiderte, ohne auszuweichen oder zu verstellen, was möglicherweise in ihren Augen zu lesen war. So offen, wie die Aurelia ihr gegenüber gewesen war, wollte sie sich auch gar nicht verstellen, noch weniger als ohnehin schon. Und auch wenn ein Rest des Unwohlseins blieb, im Grunde ihres Herzens war Siv Prisca dankbar für diese Gelegenheit, die sie ihr bot, für diesen Moment der Offenheit, der zwischen ihnen herrschte.
Auf ihre folgenden Worte hin erwiderte Prisca zunächst nichts, und für Augenblicke hatte Siv das Gefühl, als ob die Gedanken der Aurelia fern von ihr weilten, irgendwo anders. Sie ahnte nicht, was ihre Worte bei der anderen auslösten, aber sie selbst fing auch wieder an zu grübeln. Früher hatte sie sich selten Gedanken gemacht über ihre Zukunft. Sie hatte einfach ihr Leben leben wollen… Und hatte auf die Gegebenheiten reagiert, wie sie gekommen waren. Auch als ihr Vater sie schließlich verheiratet hatte, als ihr Mann gestorben war, selbst als sie von den Römern verschleppt worden war, hatte sie sich über die Zukunft keine Gedanken gemacht. Sicherlich hatte sie darüber nachgedacht, was wohl auf sie zukommen würde, wie sich ihre Situation entwickeln würde, aber wirklich Gedanken gemacht, welche Wendungen ihr Leben noch nehmen würde, das hatte sie nicht. Erst seit sie hier in Rom war, und auch hier erst seit einiger Zeit, hatte sie damit begonnen. Lag es an ihr, an ihrer Art, oder daran, dass sie älter wurde – oder an beidem? Sicherlich spielte auch eine Rolle, dass sie nun nicht mehr alleine war, dass sie sich nicht mehr nur um sich selbst Gedanken machen musste… Ein Lächeln, mehr ein Hauch, hob ganz leicht Sivs Mundwinkel, als sie an ihr Kind dachte. Sie würde ihm eine Zukunft bieten, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was für eine das sein mochte. Sie erwiderte den leichten Händedruck, als die Aurelia in die Gegenwart zurückfand, und als diese dann ihnen beiden Fortunas Wohlwollen wünschte, breitete sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln aus. "Danke", murmelte sie. Ihre Wünsche… Sie wusste nicht, ob eine Göttin – noch dazu eine römische – ihre Wünsche erfüllen würde, aber wer wusste das schon.
Anschließend ließ Prisca ihre Hand wieder los und erhob sich erneut, ging zum Fenster, sah hinaus. Und wie zuvor blieb Siv sitzen und sah ihr zu, während sie auch diese Pause nutzte, um ihren Gedanken nachzuhängen, ohne diesmal allerdings über etwas Bestimmtes zu grübeln. Sie ließ sie einfach schweifen, während ihr Blick an Prisca vorbei in den Garten hinauswanderte. Die leisen Worte aus dem Mund der Römerin vernahm Siv nicht, aber die darauffolgenden ließen die Germanin zunächst überrascht blinzeln. Damit hatte sie nicht gerechnet. "Wie… ich? Was ich…" Sie stockte einen Moment, blinzelte noch einmal. "Ich würde gern raus. In einen Wald. Dort rumlaufen. Füße in einen Bach strecken. Bäume umarmen." Sie grinste etwas verlegen, als sie das sagte. Selbst in Germanien war diese Angewohnheit von ihr weit häufiger auf zweifelnd hochgezogene Augenbrauen getroffen denn auf Verständnis. Einen Augenblick zögerte sie anschließend, überlegte, dann entschied sie sich, nicht nach dem Warum zu fragen, sondern Prisca schlicht die Gegenfrage zu stellen. "Was ist mit dir?"