Triclinium Minor | Aller guten Dinge sind Drei

  • Die Beziehung zum Essen war bei Antonia ähnlich wie die zu ihrem Gatten. Sie war schwierig, nicht genau zu definieren und von Herzlichkeit ebenso weit entfernt wie Rom dies von Parthien war. Gänzlich anders gestaltete sich jedoch das Verhältnis zu ihrem Sohne. All jene Akteure jedoch gedachte sie an diesem Abend zu vereinen, hatte sie sich selbst doch in den letzten Wochen und Monaten außer von Minor vor der Welt (und dem Essen) weitgehend verborgen gehalten. Dementsprechend wichtig war ihr nun also dieses Mahl, das die Familie einander wieder ein wenig näher bringen sollte. Anders gesagt, sie gedachte ihre Informationen nun wieder aus erster Hand und nicht länger um die sklavischen Umwege zu beziehen.
    Mit dem ihr innewohnenden Perfektionismus hatte sie alles vorbereitet, tagelang geplant, die Speisenfolge immer wieder neu entwerfen lassen und von Dekoration bis eingesetzten Sklaven nichts dem Zufall überlassen. Um ihren eigenen Essgewohnheiten jedoch ein wenig entgegen zu kommen hatte sie die allzu fettigen und dickmachenden Speisen verbannt und stattdessen dem Koch eingeschärft ein „diättauglicheres“ Mahl zuzubereiten.


    Wie der Kapitän eines Schiffes hatte die Claudia Posten im kleinen Triclinium bezogen, scheuchte noch den ein oder anderen Sklaven herum und überwachte mit Argusaugen die Vorbereitungen. Ihr Sohn Minimus würde sicherlich baldigst von einem der für ihn zuständigen Sklaven herbeigeführt werden. Dass ihr Gatte nicht vergaß zu erscheinen setzte sie schlicht voraus, ihn nochmals zu erinnern wagte sie nicht, glaubte auch nicht, dass es nötig war. Schließlich war Gracchus die Vollkommenheit in Person und wusste stets über alles bescheid.
    So strich sie zum wiederholten Male ihre Tunika glatt, ließ ihren Blick an sich hinabgleiten und seufzte leise. Hoffentlich würde sich die heutige Schlemmerei nicht abermals negativ in ihrem Gewicht niederschlagen.

  • Die Amme hatte dem Knaben übermittelt, dass seine Mutter heute nicht nur mit ihm, sondern darüber hinaus auch mit seinem Vater zu tafeln geruhte, was dem jungen Flavius eine besondere Freude war, zumal er in den letzten Tagen sowohl jener, vor allem freilich auch diesem selten ansichtig geworden war. So trat er voller enthusiastischer Erwartungen, gehüllt in eine für flavische Maßstäbe schlichte Tunica, geleitet von seinem Erzieher Artaxias, in das kleinere Triclinium, in dem die Kernfamilia Flavia Graccha zu speisen pflegte. Als Beleg für seine rege Lerntätigkeit des hiesigen Tages war er mit einer Tabula versehen worden, in die mit größter Sorgfalt hellenische Majuskeln gekerbt worden waren, deren Gesamtheit einen Abschnitt der Ilias des großen Dichters Homer ergab.


    "Guten Abend, Mama!"
    begrüßte Manius Minor in vertraut konvenierlicher Weise die Claudia und trat auf sie zu, letzten Endes in respektvoller Distanz vor ihr zum Stillstand kommend. In der Tat erschien ihm Antonia an diesem Tage überaus wohl, was geradezu eine Antithese zu ihrem Befinden der letzten Wochen darstellte (zumindest wie es dem Knaben erschienen war). Dennoch stellte er selbstredend auf höfliche Weise die gewohnte Frage:
    "Wie geht es dir?"

  • Der jüngere war gleichermaßen der schnellere Gracchus, wobei Antonia selbstredend niemals auch nur annahm Gracchus habe mit dem Alter zu kämpfen. Denn schließlich war er ein Flavius und ein Flavius kam niemals zu spät, sondern stets genau zu jener Zeit, zu der er zu erscheinen beabsichtigte.
    Die helle Stimme des Sohnes ließ die Claudia nun jedoch aufblicken von den Falten ihrer Tunika und automatisch bohrte sich ein Lächeln in ihr Gesicht, als sie Minor erblickte.
    "Guten Abend, Minimus.", gab sie die Begrüßung zurück und brachte mit kurzen Schritten die geringe Distanz zwischen ihnen hinter sich. Sacht legte sie beide Hände auf das noch nicht allzu hohe Haupt und hauchte einen Kuss auf das dunkle Haar. Zufrieden löste sich die Rechte vom Schopf und legte sich unter Minors Kinn, um sein Gesicht ein wenig anzuheben. Prüfend-liebvoll glitten ihre Augen über den jungen Flavius, fanden jedoch wie stets nichts daran auszusetzen. Sie wollte sich selbst zwar nicht loben, befand jedoch, dass sie in der Auswahl an Minors Sklaven ein ausgesprochen glückliches Händchen gehabt hatte.
    "Vielen Dank, es geht mir ausgezeichnet. Wie steht es um dein Wohlbefinden?"
    Es schien dies für eine gewöhnliche Familie ein ausgesprochen staksiges Gespräch zwischen Mutter und Sohn zu sein. Doch, wie Antonia nie müde wurde zu betonen, war die Flavia - speziell die Flavia Gracchus - keine gewöhnliche Familie. "Hast du heute bereits Fortschritte bei deinen Übungen machen können?"
    Selbstredend war die gluckenhafte Mutter auch in diesem Bereich bereits auf dem Laufenden, hatte doch jeder Lehrer und jeder Sklave nach einem Exerzizium bei Minor anschließend bei ihr zu Erscheinen und Bericht zu erstatten. Doch liebte Antonia nichts so sehr, wie den Jungen selbst von seinen Erfolgen, Schwierigkeiten und Erkenntnissen erzählen zu hören.

  • Schweigend ließ der Knabe das Ritual über sich ergehen, das nur von seiner Mutter verübt sein Plazet erregte, andernfalls hingegen eher sein Missfallen erregte. Mit großen Kinderaugen blickte er seine Mutter an und es schien ihm, als habe sich irgendetwas verändert. Freilich vermochte er dies nicht ihrer Gewichtsverringerung zuzuordnen.


    Das Wohlbefinden seiner Mutter erschien dem jungen Flavius ebenfalls durchaus gefällig. Und obschon die Frage nach dem Wohlbefinden bereits in sich implizierte, dass sie die Erwartung hegte, bei ihm stünde es ebenso wohl wie bei ihr, so kam ihm ob seiner infantilen Imperfektheit nicht in den Sinn, mit einem ledigen 'Es ist vorhanden' zu antworten. Stattdessen lautete seine Replik schlichtweg:
    "Gut, danke."
    , während die Interrogation auch schon prolongiert wurde und, einem Ritual gleich, den Fortschritt seiner Übungen erforschte. Die heutigen Lehrstunden hatten Manius Minor freilich ebenso wenig Freude bereitet wie jedwede übrige Ablenkung von ungestörtem Spiel in seiner Camera Ludi.


    Und so verdrehte er auf höchst unpatrizische Art und Weise seine Augen um sein Missfallen kundzutun. Letzten Endes wurde er sich dessenungeachtet seiner Pflicht gewahr, der Mutter Bericht zu erstatten, weshalb er antwortete
    "Ich habe ein Homer-Diktat mit Artaxias geschrieben. Siehe!"
    Er hob seine Tabula empor und reichte sie der Antonia, sodass es ihr möglich war, seinen Fortschritt mit eigenen Augen zu verifzieren.

  • Obgleich es für jeden anderen unübersehbar sein konnte, dass es Minor keineswegs eine unbändige Freude bereitete, tagtäglich mit Wissen vollgestopft zu werden, so übersah Antonia doch großzügig sein Augenrollen. Sie glaubte gar ein freudiges Glänzen in den Augen des Sohnes zu sehen, eindeutiges Zeichen für seine Strebsamkeit.
    Glücklich nahm sie also die dargebotene Wachstafel entgegen, schickte sich jedoch zunächst an Platz zu nehmen, ehe sie einen Blick hinein warf. Mit der freien Hand klopfte sie auf das Polster unter sich, um dem Sohn zu bedeuten er könne sich ebenfalls setzen. Ohne Selbiges abzuwarten öffnete sie das Schreibutensil und studierte aufmerksam die Zeilen.


    Selbstredend konnte sie allein zu dem Schluss gelangen, dass Minor für ein Kind seines Alters außerordentlich begabt und klug war. Kein anderer vermochte beim Diktat eines solch diffizilen Textes im Alter von zehn Jahren so wenige Fehler machen. Den Jungen mit einem Lächeln bedenkend, nickte sie saturiert. "Hervorragend, Minimus.", urteilte die Claudia gnädig und reichte die Tabula zurück an ihren Besitzer. "Du wirst es weit bringen eines Tages, dessen bin ich mir gewiss."
    Nein, aus ihrem Sohn würde keiner jener Senatorensprösslinge werden, die ihre Tage nur mit dem Verprassen des Familienvermögens verbrachten. Er war zu etwas Größerem geboren, zum Consul, zum Censor, zum.. ihre Lippen zuckten. Eines jedoch bereitete ihr nach wie vor Sorge.
    "Sag.. dieser Junge.. Caius.. du scheinst dich gut mit ihm zu verstehen?"
    Seit Aquilius Bastard samt Mutter zurück in jene Villa gekommen war, hatte Antonia mit Argwohn die kleine Familie beäugt. Zu sehr schienen ihr die Grenzen zwischen Patrizier und Pöbel zu verwischen. Selbstredend hatte die Claudia nichts gegen derlei Freundschaften einzuwenden.. solange Minor sich bewusst war, dass er weit über solchen Freunden stand, ebenso wie er über den Sklaven stand. Doch dies war etwas, das seine Lehrer - aus offensichtlichen Gründen - wohl nicht gewillt waren dem Kind beizubringen.

  • Unverkennbar verlangte es seiner Mutter nach einem höheren Maße an Bequemlichkeit, weshalb auch der Knabe die Kline erklomm und darauf Platz nahm, wie er es bereits seit Jahren gewohnt war. Und ebenso folgsam erwartete er ihr Urteil, obschon es sich für ihn bereits im Vorfeld von selbst verstand, dass es nur positiv ausfallen konnte, wie es beinahe stets der Fall war. Dessenungeachtet fiel es bei diesem Male sogar weitaus positiver aus als üblich, wurde dem jungen Flavius doch im selben Atemzug eine große Zukunft geweissagt! Trotz seines zarten Alters lag ihm die dargebotene Perspektive indessen klar vor Augen: Er würde Rhetorik lernen, möglicherweise eine Bildungsreise unternehmen, dann jedoch jenen Lauf der Ehren antreten, den bereits sein Vater, sein Großvater, wie auch die meisten seiner Ahnen vorangeeilt waren um Immortalität für die Familia und Stärke für die Res Publica zu erlangen. Und selbstredend vermochte es seine Infantilität noch nicht jene Perspektive zu hinterfragen oder gar abzulehnen, arbeiteten er, wie auch sein gesamtes Umfeld doch jeden Tag, jede Minute und jede Sekunde auf nichts anderes als hierauf hin!


    Gleichwohl wandelte sich das Motiv der Unterhaltung jedoch auf Caius Flavianus Aquilius, jenen Knaben, der Manius Minor in der Tat zum Freund geworden war, soweit dieser dies im Rahmen seiner begrenzten Erfahrungswelt zu bestimmen vermochte.
    "Ja, wir spielen zusammen und er sitzt neben mir im Grammatikunterricht. Griechisch kann er aber noch nicht so gut, dass wir zusammen lernen können."
    erwiderte er daher der Wahrheit entsprechend. In der Tat konvenierte es ihn aufs Äußerste einen indipendenten Spiel- wie Lerngefährten zu besitzen, dessen Alter dem seinen entsprach und dessen Wünsche ebenfalls durchaus kongruent zu den eigenen waren, ohne jedoch jene Devotität aufzuweisen, die dem Gebahren eines Gros der Sklavenschaft zueigen war.

  • Die Sitzung des Senates an diesem Tage war überaus ereignislos verlaufen - wie jegliche Sitzungen aus Gracchus' Perspektive vorwiegend nurmehr -, so dass - ganz unbemerkt seiner selbst indes - der Inhalt dieser bereits wieder ihm war entfallen als seine Füße über die Stufen der Curia Iulia ihn hatten hinab geführt, was zweifelsohne ihm überaus unangenehm wäre gewesen, hätte jemand dies prekäre Faktum ihm zur Kenntnis gebracht, was hinwieder seinen Sinnen entfleucht sein Gemüt nicht weiter tangierte. Nach einem erholsamen Bade in der hauseigenen kleinen Therme - kurz und heiß - trug er nurmehr eine gediegene Tunika in dunklem Zypressengrün mit goldfarben besticktem Saum als er durch die weitläufigen Flure der Villa Flavia schritt, im Triclinium sich einzufinden. Die Notifikation, dass sowohl seine Gemahlin, wie auch sein Sohn zum abendlichen Mahle ihn erwarteten, hatte Gracchus' Gemütsruhe kurzzeitig wanken lassen - insbesondere und gerade ob der Anwesenheit seiner Gemahlin wegen -, doch hatte er sich zu kalmieren gesucht mit dem Hinweis sich selbst gegenüber, dass unbezweifelt es keinerlei Veranlassung zu Beunruhigung konnte geben, da in einem solchen Falle Antonia schlussendlich längst das direkte Gespräch mit ihm hätte gesucht, so dass dies tatsächlich nur würde sein, wessen Anschein es gab: ein Mahl in trautem, familiärem Beisammensein. Seine Gemahlin, wie auch sein Sohn waren bereits anwesend, als Gracchus den Raum betrat, und bei Antonias Anblick entfiel ihm gänzlich die zuvor auf dem Wege gefasste Frage - allfällig einzig ob der Seltenheit dessen -, dass augenblicklich unerlässlich ihm schien, ihrem perfekten Wesen zu huldigen, welches wie stets über jeglichen Zweifel ihm erhaben schien.
    "Es ist wahrhaft seltsam - wir haben einen überaus kunstfertigen holitor, welcher die Gärten dieser Villa zu einer Wonne der Schöpfung ver..zaubert, die Grazie der Natur durch Menschenhand vervollkommnet, jedes Jahr blühen die Pflanzen in größerer und schönerer Pracht, die Rosen strahlen liebrei..zend mit der Sonne um die Wette, die Blüten der Blumen entfalten sich in harmonischster Ästhetik und doch - in diesem Augenblicke frage ich mich, ob nicht dies Unterfangen gänzli'h unnötige Verschwendung ist, da doch im Inneren dieses Hauses bereits die Anmut in Perfektion auf mich wartet, gegen welche alle Natur nur blass und fahl erscheint, denn während die Blumen geboren sind, einen Sommer lang mit ihrer Pracht uns zu be..tören, so scheinen die Götter meine Gemahlin für die Ewigkeit geschaffen, so scheint die Zeit spurlos an ihr vorüber zu gehen, scheint sie mir jeden Sommer nur mehr noch aufzublühen."
    Als wäre jedes seiner Worte ein Ziegel errichtete Gracchus eine breite, unsichtbare Mauer um sich, dahinter seine eigene Fehlerhaftigkeit zu verbergen, und als würde er erst nun tatsächlich ihrer Anwesenheit gewahr, begrüßte er Antonia.
    "Salve, schönste Blüte des Imperium!"
    Mit einem subtilen Lächeln zu seiner Gemahlin hin ließ er sich auf eine der Klinen nieder, hernach seinen Sohn zu beachten.
    "Und du, Minimus - wie ich sehe, bist du no'h immer in deine Studien vertieft. Was hast du heute gelernt?"
    Gegensätzlich zu Antonia kontrollierte Gracchus die Fortschritte seines Sohnes kaum, war sich indes dennoch gleichsam ebenso gewiss wie jene, welch überaus begabten Sohn sie hatten, welcher es eines Tages - allein seiner Mutter geschuldet - noch überaus weit würde bringen.

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  • Während der Knabe noch eine Replik seiner Ausführungen erwartete, ward die Pforte des Tricliniums erneut eröffnet und sein hochgeschätzter Vater betrat die Scena mit einem Kompliment von jener blumigen und überschäumenden Machart, wie sie für Manius Minor von Manius Maior nicht anders immaginabel war und weshalb er größten Respekt vor dessen Sprachpotenz hegte.


    Indessen war es offensichtlich nicht die Absicht des alten Flavius ein Zwiegespräch mit seiner Gattin zu eröffnen, vielmehr schuf er durch seine intuitive Ansprache der aktuellen Thematik gewissermaßen einen Trialog, der gleichwohl einer Repitition des vorher Gesprochenen erforderte. Und so erfolgte auch seine Erwiderung völlig similär zu der vorherigen:
    "Ich habe ein Homer-Diktat mit Artaxias geschrieben."
    Lediglich die zweite Sentenz bedurfte gewisser Modifikationen angesichts des Umstandes, dass der Knabe seiner Tabula bereits ledig war, weshalb er mit dem ausgestreckten Index auf die Schreibtafel in Händen seiner Mutter wies.
    "Mama kontrolliert es soeben."
    Selbstredend wagte er es nicht seinerseits einen Rapport von seinem Vater zu fordern, sondern harrte schweigend des parentalen Urteils.

  • Gerade als Antonia die ersten mahnenden Worte an ihren Sohn richten wollte, betrat ihr Gemahl das Triclinium, gehüllt in eine Schicht aus jener wundervollen Rhetorik, die ihm zu eigen war. Zwar wusste die Claudia, dass es kaum der Wahrheit entsprechen konnte, was er von sich gab, dennoch freute sie sich, wie wohl jede Frau, über die eifrige Bemühung des vollkommenen Gatten sie selbst in ein besseres Licht zu rücken. So bedachte sie ihn mit einem zaghaften Lächeln, gepaart mit einem tadelnden Kopfschütteln.
    "Salve, Flavius Euripides.", erwiderte sie keck auf seine Begrüßung, nach welcher er sich schließlich an Minor wandte. Ein wenig stieg Nervosität in ihr auf, fürchtete sie doch stets den Tadel des Flavius, bangte um jenen Tag, an dem er feststellen würde, dass es in der Erziehung ihres Sohnes ein Versäumnis gab. Dem Kind gab sie freilich keine Schuld. Er, die perfekte miniaturisierte Ausgabe seines Vaters, konnte nur das lernen, was sie und seine Lehrer ihm vorsetzten. Vergessen war vorerst die zurechtgelegte Ansprache an Minor. Ohnehin gedachte sie nicht, ein solches Gespräch vor den Augen Gracchus` zu führen, wäre es doch nur ein Eingeständnis einer Nachlässigkeit ihrerseits. Nein, dafür würde später noch Zeit sein.
    Auf Minimus` Hinweis auf das Diktat hin streckte Antonia jenen Arm aus, der die Wachstafel hielt, um Gracchus einen Einblick in das Werk des Sohnes zu ermöglichen.
    "Es ist hervorragend.", wiederholte sie ihr Urteil von zuvor. "Wenn du es dir ansehen möchtest...?"
    Gewiss war es besser, wenn er, der er doch über eine größere sprachliche Kompetenz als sie selbst verfügte, ebenfalls einen Blick darauf warf. Möglicherweise fand er einen Bereich, der speziell gefördert - oder gefordert - werden sollte.
    Zugleich gab sie einem der bereitstehenden Sklaven zu verstehen, dass der erste Gang aufgetragen werden konnte.

  • Wie so oft beim Anblick seines Sohnes waren es Reminiszenzen an seine eigene Kindheit, welche ein zufriedenes Schmunzeln um Gracchus' Lippen legten, hatte er doch zahllose Homer-Diktate in bester Erinnerung, waren die Min- und Majuskeln doch stets in vortrefflichem Schreibflusse seinen Fingern entströmt, während simultan sein Geist in blühender Phantasie jede einzelne Szenerie in üppigster Pracht hatte ausgeschmückt, das Diktat zu gänzlicher Nebensächlichkeit verkommen lassend, während die Homerschen Helden Abenteuer erlebten, die dem jungen Gracchus damals ebenso desiderabel wie fern seines eigenen Lebens schienen. Obgleich seine gegenwärtige Existenz noch immer fern jener Abenteuer war, so schienen sie ihm derzeitig nicht mehr gar so erstrebenswert, wiewohl die Ehe mit Antonia und das Vatersein ihm bereits genügend adventuröse Konstellationen bescherten, manches mal gar mehr als er zu ertragen glaubte - wie etwa in jenem Augenblicke, da seine Gemahlin das Diktat ihres Filius ihm zur Einsicht entgegen hielt. War dies ein Anflug des Versuches familiärer Verbundenheit, hatte sie schlichtwegs auf sein Dilemma vergessen oder war dies gar eine List, eine Finte, ihn bloß zu stellen vor ihrem Sohn? War sie überhaupt dessen sich bewusst, was sie verlangte, hatte er je es ihr gegenüber erwähnt, hatte sie es bemerkt, hatte sie allfällig nicht den Schimmer einer Ahnung? Vergeblich suchte Gracchus die Fäden seiner Vergangenheit zu einem Rettungsseil zu knüpfen, suchte erfolglos die durstige, ausgedörrte Kehle seines Gedächtnis zu befeuchten, denn ein jedes Mal so er sich nach dem Fluss seiner Erinnerung beugte, daraus zu trinken, zogen die flutenden Wellen sich zurück, hinterließen nur trockenes, sandiges Ufer, auf welchem jedes Korn dem nächsten glich. Dass er selbst seines Lebens sich so unsicher war, dass er nicht mehr wusste, wessen er sich entsann und was er hatte vergessen, verstörte für einige Augenblicke ihn mehr noch als die Aufforderung seiner Gemahlin, obgleich er noch immer nicht dessen sicher sich war, was sie damit bezwecken wollte. Sein Zögern, gleichwohl der Blick zu Antonia hin - und doch mehr durch sie hindurch denn sie visierend - durierte bereits zu lange, um nicht auffällig zu sein, so dass schlussendlich Gracchus nach der Tabula griff, vorrangig, Minor nicht zu enttäuschen, welcher im anderen Falle würde glauben können, dass sein Vater nicht an seinem Schaffen war interessiert.
    "Gewiss."
    Bemüht darum, nicht allzu angestrengt die Wortfolge zu blicken, waren die ersten beiden Zeilen mühelos ihm noch verständig, wiewohl die nächste bereits sich nicht mehr einfügen wollte in einen verständlichen Sinn, augenscheinlich auf einen zweiten Blick hin die dritte Zeile die zweite war, wenn nicht gar die dritte die vierte und er die dritte direkt hatte übersprungen, und gleichwohl die Fluten des Oceanstromes, sandige Ufer der ääischen Insel und weithinwogende Meere durchaus einer gemeinsamen Basis nicht entbehrten, so war der Satzbau, welcher Gracchus' Sinne erreichte, ein einziges Wirrnis aus Bruchstücken, denen jeglicher Sinn entbehrte, und je angestrengter er versuchte, eine Ordnung aus diesem Chaos herauszulesen - gänzlich unbewusst seiner selbst gruben Falten tiefer und tiefer sich in seiner Stirne, dass er alsbald ein gar grimmiges Antlitz bot -, desto konfuser verhedderte er selbst sich in den Zeilen, bis dass bald der gesamte Text ihm nurmehr ein verworrenes Mysterium war, allein dazu geschaffen, ihn zu sekkieren. Enerviert ob der Unverfrorenheit des Textes, wiewohl seiner eigenen Unfähigkeit warf er die Tabula achtlos auf die Kline neben sich als wäre sein Unvermögen nicht mehr existent, sobald die Zeilen nur aus seinen Augen waren, beugte sich vor und griff nach einer Olive, und etwa in eben diesem Augenblicke da seine Fingerspitzen um die ölige, schwarzfarbene Fruchthaut sich legten, entschwand seiner Erinnerung nicht nur die Echauffierung über sich selbst, sondern gleichsam Anlass und Auslöser mit ihr, so dass, als er sich zurück lehnte, seine Stirne wieder geglättet war und nurmehr er ein wenig über die anhaltende Stille sich wunderte, einen kurzen Blick zu Antonia, hernach zu seinem Sohne warf.
    "Nun, Minimus, wie war dein Tag?"
    fragte er, das Schweigen zu durchbrechen.
    "Was hast du heute gelernt?"
    Einen marginalen Augenblick nur überkam ihn der Anflug eines Déjà-vu, indes war die Frage keine allzu exzeptionelle, als dass ob der Häufigkeit ihrer Stellung ein solches Gefühl wäre absurd gewesen.

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  • Selbstredend war dem Knaben der Name des Euripides geläufig, hingegen nicht als eine Titulatur für seinen Vater, der doch das Cognomen führte, das auch ihm selbst zueigen war: Gracchus! Seiner Gewohnheit, die Prüfung seiner Leistungen nicht durch lästige Interrogationen zu disturbieren, ersparte er seinen Eltern jedoch eine diesbezügliche Frage, sondern blickte voller Erwartung auf Manius Maior, dem die Lektüre des Diktates augenscheinlich höchste Konzentration abverlangte, was Manius Minor bereits als überaus unheilverheißend erschien.


    Unverhofft wurde freilich jedwede Spannung gelöst ohne aufgelöst zu werden, einem Bogen gleich, dessen Holz nicht durch den Abschuss des Pfeiles, sondern das Zurückschieben desselben in den Köcher in seine natürliche Lage zurückkehrte. All dies erzeugte bei Manius Minor eine gewisse Insekurität, mochte ihm doch eine Begründung des vorenthaltenen Urteils nicht kommen, was ihn zu weiterem Spintisieren affinieren ließ. Doch auch die hierfür erforderliche Zeit wurde ihm nicht geboten, vielmehr erwartete der Vater bereits einen weiteren Rapport seinen gesamten Tagesablauf betreffend.
    "Gut. Ich habe heute Morgen mit Caius Griechisch geübt, dann haben wir mit Artaxias Rechnen geübt, mit dem Abacus."
    Das Sinnieren über jene Stunden bereiteten dem jungen Flavius ein erneutes Unbehagen, war doch seine Kapazität auf dem mathematischen Bereich weitaus geringer als auf dem der Buchstaben und Sentenzen.
    "Dann habe ich mit Caius einen Turm aus Bauklötzen gebaut. Und dann haben wir ihn umgeworfen, dass alles durch den Raum geflogen ist!"
    Jene Remineszenzen waren weitaus erfreulicher und bildeten wohl den emotionalen Maximum des bisherigen Tages, hatten die beiden Knaben in diesen wenigen Stunden der Muße doch noch die Possibilität wahrgenommen ihrer Infantilität freien Lauf zu lassen.
    "Und dann hat Artaxias den Teil der Ilias abgehört, den wir gestern lernten. Und dann hat er den nächsten Teil diktiert."
    Bereits die neuerliche Erwähnung seines Diktates, das im Mienenspiel Manius Maiors Zeichen derartiger Dissonanz erzeugt hatten, erzeugten bei Manius Minor eine Interpretation, die in ihm einen Gram elegischen Ausmaßes offenbarte in dem Dafürhalten, mit seinen kümmerlichen Leistungen den Ansprüchen des Vaters nicht zu genügen, selbst wenn dieser jenes nicht zu artikulieren wagte.

  • Antonia indes war ähnlich vor den Kopf gestoßen wie ihr Sohn, dachte sie doch nicht im Traume daran, dass ihr Gemahl schlichtweg die Zeilen des Diktats nicht lesen konnte. Nichtsdestotrotz war ihr seine Reaktion schleierhaft, hatte er doch, wie sie selbst, in der Vergangenheit alles getan, um Minor zu fördern, hatte ihn stets gelobt und nie ein strenges Wort an ihn gerichtet. Ihn nun derart zu brüskieren.. sie verstand die Welt nicht mehr. Was nur konnte Gracchus Maior solchermaßen verärgert haben, dass er die Arbeit des Sohnes achtlos, gar lieblos auf die Kline warf, ohne sie eines weiteren Blickes auch nur zu würdigen?
    All jene Gedanken spiegelten sich im Gesicht der Claudia wieder, die halb fassungslos, halb an sich selbst zweifelnd den Gemahl anstarrte. Fast schien es, als wolle sie mit ihrem bohrenden Blick in seinen Kopf hinein sehen, um zu ergründen was genau sie - denn natürlich war sie Schuld und nicht der Junge - nur falsch gemacht hatte in Minors Erziehung, das den Vater so zu verärgern vermochte.


    Ebenso schnell wie die Gewitterwolken über dem flavischen Haupt aufgezogen waren verschwanden sie jedoch auch wieder. Als säße nun ein anderer Mensch vor ihnen tat Gracchus, als seien die letzten Minuten nie geschehen, als habe Minor nicht bereits die gestellte Frage beantwortet. Nervös blinzelnd riss sie sich aus ihren Gedanken, bedachte den Sohn mit einem gütigen, aufmunternden Lächeln, während sie sich innerlich alle möglichen Erklärungen zurecht legte. Keine wollte so recht passen. Sie klappte den Mund auf, wollte bereits nachhaken, hielt schließlich jedoch unverrichteter Dinge inne. Hier und jetzt konnte sie ihn nicht fragen. Nein, nicht vor Minor. Gewiss war er ohnehin bereits verunsichert genug, eine Diskussion über jenes Thema würde alles nur verschlimmern, dessen war Antonia sich sicher. Und so nahm sich die Claudia, die niemals auch nur den geringsten Fehl an ihrem Gatten fand, vor, später ein ernstes Wörtchen mit Selbigem zu sprechen. Sie für ihre Unzulänglichkeiten zu strafen war eine Sache. Minor jedoch verdiente eine solche Behandlung nicht. Dieses Mal siegte im inneren Kampf der Patrizierin die Löwin, die ihr Junges zu verteidigen sucht über jene Person, die dem sittsamen, überlebensgroßen Vorbild Cornelia, Mutter der Gracchen, nachstrebte. Ohnehin war sie sich sicher, dass jene Idealgestalt der patrizischen Frau gleichermaßen nicht still gesessen und wortlos alles hingenommen hätte. Für einen Moment zuckte ihr rechtes Auge vor unterdrücktem Zorn, doch glätteten sich die Wogen im Gesicht Antonias endlich wieder, als Minor das Wort ergriff und geduldig abermals seinen Tagesablauf schilderte.
    Während der Sohn also seinen Bericht beendete, griff die Claudia zu einem der bronzenen Tablette, die, von grünen und schwarzen Oliven umrankt, diverse Schüsselchen mit Soßen sowie gebratene, mit Honig und Mohn übergossene Siebenschläfer angerichtet waren. Sie wählte sich jedoch eine syrische Pflaume aus, die, zusammen mit Granatkernobst, wohl mehr als Dekoration oder Beilage gedacht waren.
    "Er macht große Fortschritte., meinte Antonia nachdrücklich und mit sonderbarer Betonung, begleitet von einem mahnenden Blick in Richtung des Gracchus Maior, ihr keinesfalls zu widersprechen. Ein sonderbares Gefühl, hatte die Claudia doch zeitlebens nie bewusst den Gemahl kritisiert - mit Worten oder in Gedanken. Auch wenn es jenem hin und wieder wohl so vorgekommen war. "Seine Lehrer sind der Ansicht, er befände sich bereits auf dem Niveau eines Zwölfjährigen."
    Dass jene Lehrer gerne alles sagten, nur um die gestrenge Mutter zufrieden zu stellen sei hierbei dahingestellt.

  • Hätte Gracchus Maior auch nur im Ansatze geahnt, welch Gram er seinem Sohne bescherte, er hätte ein Gladius sich bringen lassen, die Zweifel Minors zu beenden durch sein eigenes Dahinscheiden, in der wahnhaften Vorstellung - geprägt durch absurde Deutung der Ansprüche seines eigenen Vaters -, dass ohne den drängenden Impetus des Vaters dem Sohne ein besserer Weg wäre beschieden. Wäre allfällig die Possibilität der Möglichkeit einer solchen Empfindung Minors ihm einleuchtend erschienen in Anbetracht seiner eigenen Reaktion, so war dies im Vergessen inbegriffen gänzlich fern seiner Sinne, so dass er - während er nebenbei einen Siebenschläfer sich auf den Teller lud - nur zufrieden dem Rapport seines Sohnes lauschte, welcher auf allen Gebieten der Künste zu brillieren schien, was auch Antonia schlussendlich bestätigte. Gleichwohl tat sie dies mit einer derart befremdlichen Couleur in der Klangfarbe ihrer Worte, dass Gracchus dem Affekt seiner Familie sich anschloss und nun ebenfalls gänzlich verunsichert war, insbesondere durch den stechenden Blick seiner Gemahlin - similär jenem Blicke, welchen seit Beginn dieser Ehe er so sehr an ihr fürchtete -, unter welchem er in sich wollte zusammensinken, sich auflösen ob seiner Mängel und Defizite, ohne gleichsam zu wissen, durch welche Tat, welches Wort er dies neuerlich hatte herausgefordert, davon überzeugt schlussendlich, dass seine bloße Existenz dies musste forcieren oder etwa das kümmerliche Bild, welches im Vergleich zu seinem Sohne er abgab. Oder war etwa nicht er Antezedens dieses Missmutes, verschwieg sie allfällig ihm ein Faktum bezüglich der Leistungen ihres Sohnes? Ihrem bohrenden Blicke ausweichend richtete er seinen eigenen auf Minor, zwang sich zu einem zufriedenen Lächeln. Stimmte etwas nicht mit ihm? Hatte er zu viele der Defizite seines Vaters geerbt? War es wahr, dass die flavische Linie zunehmend degenerierte, zeigte er bereits in jungen Jahren erste Anzeichen des Wahns? Dass Minor von minderer Intelligenz war, dies wollte und konnte der Vater nicht glauben, zeigte sein Sohn doch beständig, dass dem nicht so war, darob musste es etwas anders sein, allfällig seine charakterlichen Anlagen, allfällig sein gesundheitlicher Zustand, allfällig seine kindlichen Neigungen. Gracchus Maior indes wagte es nicht, eine entsprechende Nachfrage an seine Gemahlin zu richten, wollte er doch Minor nicht derangieren.
    "Nichts anderes habe ich erwartet"
    , entgegnete er der Versicherung Antonias, wandte hernach - um nicht seine Aufmerksamkeit auf sie richten zu müssen - sich wiederum seinem Sohn zu.
    "Ich hoffe, Caius hält dich nicht allzu sehr auf, Minimus. Wenn doch, so zögere nicht, es auszuspre'hen, dass wir eine andere Möglichkeit für seine Ausbildung finden. Es mag opportun sein, in seine Erziehung zu investieren, indes darf dies nicht zu Lasten deines Fort..kommens gehen."
    Zweifellos war es Caius' Idee gewesen, den durch Minor präzise errichteten Turm aus Bauklötzen zu demolieren.

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  • Auch dem Knaben entging der akkusative Habitus in Mimik, Gestik und Tembre seiner Mutter nicht, was ihn zwischen einem behaglichen Gefühl des Behütet-Seins und einer empathischen Furcht vor Strafe für einen ungerechtfertigten Tadel am Verhalten des Pater Familias schwanken ließ. Ob die Beteuerungen Antonias indessen der Wahrheit entsprachen, vermochte er nicht einzuschätzen, da er zum einen jeglicher Komparabilität seiner Leistungen mit Älteren entbehrte, zum andern eine derartige Äußerung noch nie aus dem Munde seines Lehrers Artaxias vernommen hatte.


    Der Kommentar Manius Maiors hingegen brachte nun wieder ein weitaus inkommodierenderes Gefühl in Manius Minor auf, der bereits das Geschenk jenes Gefährten bedroht sah, das ihm in den letzten Tagen und Monaten eine so große Labsal verursacht hatte, indem es die Aufmerksamkeit des Lehrers bisweilen von ihm abzulenken vermocht und dem jungen Flavius so immer wieder einige Augenblick der Ruhe und Erholung im fordernden Lernbetriebe offeriert hatte.
    "Nein, nein, er ist mir eher eine Stütze!"
    warf er daher rasch ein, ehe sein Vater weitere Sanktionen ins Auge fassen konnte. Doch in der Tat entsprach dies der Wahrheit, zumindest auf dem Felde der enzyklischen Wissenschaften, insbesondere der Geometrie und Mathematik, die Manius Minor stets aufs Neue veritable Mühen bereiteten.

  • Die Versicherung Minors, der Bastard Aquilius' halte ihn keineswegs im Lernprozess auf, ja sei ihm gar eine Hilfe errettete Gracchus Maior schließlich vor Antonias strafendem Blick, wandte sie sich doch verwundert an ihren Sohn. Eine Stütze? Irgendwie wollte es nicht so recht in ihr Bild vom vollkommenen Minimus passen, dass er bei irgendetwas Hilfe benötigte. Auch hatten seine Lehrer nie etwas Derartiges erwähnt, was die Claudia nun wiederum in Zweifel ob der anderen Auskünfte der paedagogen stürzte. Ihr Sohn hatte doch sicherlich keine Schwierigkeiten beim Lernen? Nein, unmöglich, sie selbst überprüfte seine Fortschritte, hatte auch vor dem Einzug Caius' keine besonderen Defizite feststellen können. Ob die Lehrer bewusst vertuschten, nur um sie zufrieden zu stellen? Ungeheuerlich. Nein, das konnte und wollte sie nicht glauben. Gewiss wollte Minor, herzensgut wie er war, den anderen Bengel in Schutz nehmen. Ja, so musste es sein. Allerdings wusste sie nicht so recht, ob dies nun positiv oder negativ zu werten war, schien es doch eine offenkundige Unwahrheit zu sein.
    Wiederum schloss sie aus, dass ihr Sohn seine Eltern belügen würde und kam zurück zu den paedagogen. Hier würde sie wohl Augen und Ohren offen halten müssen. So sehr war sie in ihre Grübeleien versunken, dass sie gar im Kauen inne gehalten hatte und nun schnell den letzten Bissen hinunterschluckte, kaum dass sie sich dessen bewusst wurde. Um den Sohn schließlich von der verhörartigen Interrogation zu erlösen richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihren Gatten.
    "Und wie steht es bei dir, Manius?", fragte sie, ihre normale Stimmlage wiederfindend. Bewusst ließ sie offen, ob die Frage seiner Gesundheit oder den Geschäften im Senat galt, sodass er das bevorzugte Thema selbst wählen konnte.

  • Weder ahnte Gracchus, dass Minor bisweilen auf Kosten des Flavianus sich ausruhte, noch hegte er Befürchtungen seiner Gemahlin similär, vernahm nur den positiven Anklang in den Worten seines Sohnes und baute wie so oft die Wahrnehmung der Welt um sich herum nach seinem eigenen Gutdünken, welches diesbezüglich eingefärbt war in die pastellige Couleur der Erinnerung an seine eigene Kindheit mit seinem Vetter Caius.
    "So scheint es denn eine wahrhaft symbiotische We'hselbeziehung"
    , resümierte er zufrieden, ehedem es neuerlich Antonias Worte waren, welche aus dem inneren Gleichgewicht ihn warfen - für einen marginalen Augenblick indes nur, umschmeichelte doch schnell ein sorgloses Lächeln Gracchus' Lippen, wie er es regelrecht hatte perfektioniert, um über trübselige Gedanken hinweg zu täuschen, stets nach außen hin Dignitas und Gravitas zu wahren, wie es von ihm wurde erwartet, und welches insbesondere gegenüber seiner Gattin dies zu zeigen ihm durchaus einfach fiel.
    "Vorzüglich."
    Was anderes sollte er ihr antworten, ihr, der perfekten Gemahlin, und insbesondere in Gegenwart ihres Sohnes? Etwa dass er bisweilen das Gefühl hegte, das Leben - das der anderen, manchesmal gar sein eigenes - ziehe an ihm vorbei ohne dass er dies bemerkte, dass er manchesmal schon am Abend nicht mehr wusste, wie er den Tag hatte verbracht, dass er in einem flutenden Strome sich mitgerissen fühlte, jeden Tag neuerlich darin ertrinkend, nur um über Nacht von dem gierigen Schlund des Verderbens wieder ausgespuckt zu werden, der Qual von neuem ausgeliefert? Dass das Imperium Romanum seinem Auffassungsvermögen entglitt, dass er der Politik in Staat und Senat nicht mehr konnte folgen, nurmehr Entscheidungen traf aufgrund fadenscheiniger Ahnungen und spontaner Entschlüsse, dass längstens weitere Tagesordnungspunkte angesprochen wurden, so er auch nur halbwegs seine eigenen Worte sich hatte zurechtgelegt, dass er besser nicht erst anhob zu sprechen, ganz davon abgesehen, dass ihm noch immer Buchstaben verlustig gingen, er bisweilen an ihrer Folge sich verfing? Dass er manches mal Worte nicht aussprach, welche er glaubte zu sprechen, sie nur in seinem Kopf verharrten, während zu anderer Zeit er Worte sprach, welche nicht dazu vorgesehen waren, die Grenzen seines Leibes zu verlassen? Dass er manches Mal nicht mehr wusste, was er noch wusste, manches mal glaubte vergessen zu haben, wessen er sich sollte erinnern, manches mal selbst vergaß, dass er vergessen hatte? Dass unmöglich ihm war, in Schriftwerk zu versinken, dass seine Rechte in ihrer Empfindung noch immer pelzig war wie die Zunge nach einer durchzechten Nacht, dass seine eigenen Schrift durch die Linke ihn degoutierte ob ihrer affrösen Gestalt, dass er manches mal nicht einmal seinen Namen wollte auf Pergament bringen? Dass er den Boden unter seinen Füßen hatte verloren, in fortwährendem Fallen verharrte, sich danach sehnte, endlich am Grund aufzuschlagen, zu zerschellen, zersplittern, zerbersten in abertausende kleine Splitter, bedeutungslose Körner aus Staub. Oder etwa dass der glühendste Funke seiner Zuversicht im fernen Aegyptus weilte, dass des Nächtens er sich sehnte nach dem Leib eines Mannes, nach des Faustus Hephaistions Leib, welchen er wollte liebkosen, in sich verschlingen, mit ihm verglühen in endlosem Feuer hitziger Leidenschaft? Nichts davon konnte er aussprechen in ihrer Gegenwart, nicht ein einziges Wort.
    "Und du selbst? Hast du einen angenehmen Tag verbra'ht?"

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  • Nach den jüngsten Ereignissen nur umso misstrauischer und auf die Analyse der Wortwahl ihres Gatten bedacht, schob Antonia nachdenklich und in gänzlich flavischer Manier eine Augenbraue empor.
    "Symbiotisch.. hm.", war jedoch alles, was sie zu der Aussage Gracchus' hinzuzufügen gedachte. Ihr Sohn in Symbiose mit einem Bastard? Undenkbar. Ungeheuerlich. Abschätzig schürzten sich die claudischen Lippen, ehe sie sich in einem säuerlichen Lächeln verzogen. Zugleich wanderte ihr Blick zu den Speiseplatten, von welchen sie, ihrer Meinung nach, bereits viel zu viel gekostet hatte. Die unbewusst bereits ausgestreckte Hand, die gerade in Reichweite einer Dattel gelangt war, verharrte für einen Moment und wurde schließlich unter Aufbringung sämtlicher Willenskraft zurückgezogen.


    Die Versicherung, ihr Gemahl befinde sich gut, vorzüglich gar, quittierte sie mit einem gnädigen Nicken. "Das freut mich.", sagte sie und für einen Moment flackerte die normale, stets um den Gatten besorgte, Antonia auf, die nicht nur den Sohn, sondern auch den Vater bemuttern wollte. Doch waren eventuelle Zweifel schnell beiseite gewischt, wirkte Maior doch ausgesprochen zuversichtlich und guter Dinge, sodass sie sich zufrieden ihrem Getränk zuwandte. Eines Tages würde sie vielleicht bemerken, wie wenig er bemerkte, würde sehen, dass er kaum mehr im Stande war zu tun, was Generationen seiner Väter getan hatten und dass sie, wie eigentlich bereits mit dem ersten Erhalt der Nachricht seiner Krankheit, die Hoffnung Gattin eines Consuls zu sein, tief und endgültig begraben sollte. Dieser Tag jedoch schien heute ferner denn je.
    "Oh, ich hatte einen ausgesprochen erfreulichen Tag.", erwiderte sie auf die obligatorische Gegenfrage. "Ich hörte, eine alte Freundin ist in die Stadt zurückgekehrt.. aus Britannia. Diese grässliche Provinz, ich verstehe immer noch nicht, wieso wir diese Insel voller Barbaren überhaupt noch besetzt halten. Sie ist die Mühe ja nicht wert, nach allem, was Hirtuleia mir schrieb. Vielleicht hast du ihren Gatten ja schon wieder im Senat gesehen.. Sestius Ravilla? Kennst du ihn?"
    Gänzlich ungewohnt plapperte die Claudia drauflos, als habe sie nicht vor wenigen Augenblicken noch versucht, ihren Gemahl mit Blicken dem Erdboden gleich zu machen.


    Dem naturgemäß bei solcherlei Themen recht schweigsamen Sohn bedachte Antonia mit einem liebevollen Lächeln. Wie schade es doch im Grunde genommen war, dass er keine Geschwister hatte, mit denen er sich beschäftigen konnte.

  • Nur wenige latente Regungen oder sublime Sentiments seines Gegenübers gereichten je dazu, bis in Gracchus' Sinne vorzudringen, doch als Antonia eben ihre Hand von den Platten zurück zog, lag gerade dort seine Aufmerksamkeit - in der Überlegung verharrend, welche der Köstlichkeiten als nächstes auf seinen eigenen Teller sollte wandern.
    "Ist das Mahl nicht nach deinem Geschmack?"
    , fragte er darob beiläufig.
    "Allfällig lässt der Koch allmähli'h ein wenig nach. Wenn du möchtest, kannst du gerne einen neuen erwerben."
    Ihm selbst goutierten des Attalus Speisen wie eh und je, wusste der Gallier doch mittlerweile genau, wie er seinen Herrn konnte erfreuen, wenn auch die Zubereitung dessen ihn manches mal ein wenig Überwindung kostete. Gracchus nahm noch einen der Siebenschläfer auf seinen Teller, schabte mit dem Messer davon die mohnhaltige Honig-Kruste ab und übergoss ihn mit einer säuerlichen Tunke aus pürierter Zucchini, Essig und Kümmel.
    "Es ist wie mit allen Provinzen, meine Liebe,"
    begann er, nachdem der erste Bissen des einstmals possierlichen Tierchens seine Kehle war hinabgewandert.
    "Die Ein..gliederung Britannias sichert den Frieden des Reiches, wiewohl durch Steuererträge unseren aller Prosperität. Weiters ist die Provinz zudem reich an Gold und anderen Metallen. Mag es für einige Beamte auch schmerzli'h sein, dort leben zu müssen, letztlich dient dies dem Wohle des Imperium, was einem jeden Manne zur Zufriedenheit sollte gerei'hen."
    Für Gracchus selbst wäre eine Abordnung nach Britannia einer Strafversetzung gleichgekommen - obgleich er bisherig in seinem Leben niemals auch nur über die Alpes war hinaus gekommen, geschweige denn bis nach Britannia, und somit im Grunde kaum sich ein Urteil über das dortige Leben konnte erlauben -, so dass er durchaus die Ansicht seiner Gemahlin mochte teilen - was ein derart erbauliches und gefühlt überaus seltenes Ereignis war, dass er dies sogleich ihr wollte offenbaren.
    "Dennoch pflichte ich dir bei, dass es eine grässliche Provinz ist, und ich bete zu den Göttern, mich davor zu bewahren, dem Imperium dortig dienli'h sein zu müssen. Indes besteht diesbezüglich keinerlei Anlass zur Sorge."
    Er lächelte zuversichtlich - als Legatus Augusti würde der Imperator ihn sicherlich nirgends hin entsenden, wiewohl eine Versetzung durch das Collegium Pontificium mehr als nur einer Demütigung würde gleich kommen, welche Gracchus nicht würde akzeptieren, sondern eher sein Amt aufgeben -, was indes nicht sonderlich lange auf seiner Miene verharrte, suchte er sich doch - die Stirne ein wenig in Falten gelegt - des erwähnten Sestius Ravilla sich zu erinnern.
    "Ich kenne Sestius nur flüchtig."
    In seinem Gedankengebäude durchstreifte Gracchus die Halle der Senatoren, glaute er doch des Namens sich zu entsinnen, hatte indes jedoch kein Antlitz vor Augen, geschweige denn ein Naturell oder auch nur eine Anschauung.
    "Hat er nicht ein An..wesen auf dem Esquilin?"
    , suchte er sein Ahnungslosigkeit zu überdecken und widmete sich dem Rest des Siebenschläfers.

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  • Verflucht sei die Aufmerksamkeit ihres Gatten, er hatte bemerkt, wie sie zurückgezuckt war. Ertappt verlor Antonia für einen Moment die selbstsichere Fassade, die sein Augenblick der Unvollkommenheit ihr gestattet hatte. Stattdessen fühlte sie sich wie ein kleines Kind, das beim Kuchen naschen erwischt worden war. Nur dass es im Grunde genommen das nicht-naschen war, das sie nun in Bedrängnis brachte. Einen Moment zu lange zögerte die Claudia mit ihrer Antwort, einige Augenblicke zu spät wischte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung die Frage fort. "Mitnichten.", erwiderte sie wahrheitsgemäß und mit schmalem Lächeln, war das Mahl doch gewissermaßen zu sehr nach ihrem Geschmack, was jedoch die Gefahr in sich barg, dass sie sich nicht beherrschen konnte. "Ich fürchte nur, wenn ich jetzt nicht einhalte, werde ich die folgenden Speisen nicht mehr genießen können."
    Eine schwache Ausrede, wie sie wusste und so ergab sie sich der Hoffnung, ihr Gemahl hatte nicht gesehen, was sie bisher gegessen hatte. Mitzuzählen wäre zumindest keine große Schwierigkeit gewesen. Um jenem Thema zu entgehen, blickte sie auf Minor. Ob die Reaktion seines Vaters bezüglich seiner Arbeit ihn so still gemacht hatten? "Mein Herz, was meinst du? Brauchen wir einen neuen Koch?"


    Glücklicherweise ging es mit Britannia weiter. Oder war es tatsächlich ein so großes Glück? Wie so oft glaubte sich die Patrizierin zurückversetzt in ihre Kinderzeit, als strenge paedagogen sie zurechtwiesen. Und natürlich hatte Gracchus recht, natürlich war Britannia eine an Bodenschätzen reiche Provinz, die es nicht zu verlieren galt. "Gewiss.", krächzte sie darob etwas kleinlaut und benetzte ihre trocken gewordene Kehle abermals mit verdünntem Wein. Ehe sie sich jedoch gänzlich in Scham und Selbstvorwurf ergehen konnte, geschah eines jener seltenen Ereignisse, die Gracchus und Antonia auf eine Stufe brachten, in denen sich beide über ein Thema eins waren. Erstaunt und ein wenig überrumpelt richtete sie prüfend den Blick auf ihren Gatten, doch schien er sie nicht foppen zu wollen, indem er ihr beipflichtete. Etwas gelöster nickte sie. "Eine solche Versetzung wäre wohl gänzlich unangebracht, schließlich bist du als Pontifex und Senator hier in Rom von weit größerem Nutzen, als du es als Statthalter-", ein anderes Amt außerhalb Roms war in Antonias Kosmos für Gracchus derart undenkbar, dass eventuell fehlende Voraussetzungen für Selbiges einfach ausgeblendet wurden, "am Ende der Welt jemals sein könntest."


    "Auf dem Quirinal.", korrigierte Antonia den Standort vom angesprochenen Wohnhaus. "Vielleicht werden wir ja demnächst das Vergnügen haben, einmal dort vorbeizusehen. Ich vermute seine Gattin wird es sich nicht entgehen lassen, die Rückkehr angemessen zu feiern."
    Wohl wissend, dass Gracchus alles andere als erpicht darauf war, zu irgendwelchen ihm halb-Bekannten mitgeschleppt zu werden, schweiften ihre Augen zurück zu den Tabletts, um eventuelle Gesichtsentgleisungen seitens Gracchus gar nicht erst zu sehen.

  • Stets darauf bedacht, die parentale Konversation nicht durch kindliche Interjektionen zu stören, wandte der Knabe sich den Speisen zu, die auf dem Tisch präsentiert wurden. Hierbei präferierte er in seiner infantilen Liebe zu jedweder Süßspeise insbesondere die Honigkruste der Siebenschläfer, die er mit geschickten Handgriffen von einem der Tiere löste, in kleine Stücke brach und zum Munde führte, Gedanken über Sestius oder den Esquilin völlig ignorierend, sondern sich lediglich am jenem Geschmackserlebnis in seinem Munde freuend.


    Als seine Mutter unvermittelt das Wort an ihn richtete, blickte er daher voll Konfusion zu ihr hinauf. Weder hatte die Zurückhaltung seiner Mutter, noch den Kommentar des Manius Maior vernommen, sodass er, nachdem er sorgsam seinen Bissen gen Magen gesandt hatte, freimütig erwiderte
    "Ich finde die Kruste ausgezeichnet."
    Ob dies ein saturierendes Argument für das Bleiben des Koches sein mochte, zumal in Rom zahlreiche berühmte Köche existierten, die die Noblesse sich partiell zu einzelnen Gastmählern zu mieten pflegte, entzog sich gänzlich der Kenntnis des jungen Flavius. Mehr wagte er daher nicht zu äußern. Vielmehr fasste er den Vorsatz, den Worten seiner Eltern besser zu lauschen, um qualifiziertere Beiträge zu deren Gespräch abgeben zu können.

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