Ludus | Non vitae sed scholae discimus

  • "Aber nachdem sich geordnet ein jegliches Volk mit den Führern,
    Zogen die Troer in Lärm und Geschrei einher, wie die Vögel:
    So wie Geschrei hertönt von Kranichen unter dem Himmel,
    Welche, nachdem sie dem Winter entflohn und unendlichem Regen,


    Dort mit Geschrei hinziehn an Okeanos strömende Fluten,
    Kleiner Pygmäen Geschlecht mit Mord und Verderben bedrohend;
    Und aus dämmernder Luft zum schrecklichen Kampfe herannahn.
    Jene wandelten still, die mutbeseelten Achaier,
    All' im Herzen gefaßt, zu verteidigen einer den andern."

    Die Expression des Metrums, eines stichischen, katalektischen und daktylischen Hexameters, von Artaxias immitierend verlas der junge Flavius den ihm vorgelegten dritten Gesang der Ilias, die an diesem Tage in der wohlklingenden Sprache der Hellenen gelesen wurde. Dem Knaben imponierte seit jeher jene erbauliche Poetik des selbst bereits mythenhaften Homers, weniger ob der Ebenmäßigkeit seiner Poetik denn vielmehr der plastischen und überaus inspirierenden Schilderungen jenes gewaltigen Krieges, der vor Jahrhunderten im Osten des Mare Nostrum getobt und Opfer unter den vortrefflichsten aller Griechen gefordert hatte. Dennoch vermochte die Lektüre ihn bisweilen zu ermüden, sodass seine Aufmerksamkeit wie auch seine Konzentration schwand und er des Öfteren gar einen Daktylus als Spondeus intonierte. Obschon es ihm diesmal hingegen auf das Vortrefflichste gelang fehlerfrei zu , gab der gestrenge Artaxias mit einem Wink zu verstehen, dass Manius Minor die Rezitation zu unterbrechen hatte.


    "Flavianus, wie sind die Griechen organisiert?"
    fuhr er den Kameraden des jungen Herrn an, der zwar von diesem stets nur mit dem Praenomen, von dem Lehrer wie den meisten Sklaven der Villa jedoch bei jeder Gelegenheit auf die unpersönlichste Weise tituliert wurde, derer das römische Sprachwesen mächtig war. Für den jungen Flavius lag die Kausalität hierfür klar in der Unfähigkeit Caius' begründet, sich des Griechischen in Wort und Schrift fehlerfrei zu bedienen, obschon auch er selbst bisweilen Schwierigkeiten bei der Orthographie der Sprache besaß ohne Einbußen im Respekt der Dienerschaft hinnehmen zu müssen, möglicherweise da seine oralen Kapazitäten dank der bilingualen Edukation durch hellenische Sklaven nahezu an die Perfektion heranreichten.


    Und so hatte er wieder einmal die Befürchtung zu hegen, sein Freund würde erneut die strafenden Blicke des Magisters oder gar schlimmeres ernten, falls er die soeben verlesenen Worte nicht aufgenommen hatte, was aufgrund von dessen Kapazitäten durchaus nicht vermessen war zu prognostizieren.

  • Diese herrliche Sprache, so klangvoll und perfektioniert sie auch stets aus Minnmus´ Mund entströmt, mir verweigert sie sich hartnäckig, Endlich Zugang zu ihr zu erlangen. Die endlos scheinenden Griechichstunden, der ach so gestrenge Artaxias, bei dem ich immer das Gefühl habe, er mag mich einfach nicht und dann das Wissen, dass ich niemals meinem Freund das Wasser werde reichen können. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich diese unzähligen Vokabeln in meinen Kopf bekommen soll. Auf Hilfe von meiner Mutter kann ich nicht hoffen, Mama spricht kein Griechisch. Und wenn ich mich beklage, dann sieht sie mich immer so tadelnd an und sagt dann, ich solle froh sein, dass ich in den Genuss einer solchen Bildung kommen, sie alleine hätte mir so etwas niemals bieten können. Dann gebe ich immer klein bei und entschuldige mich sogar bei ihr, denn sie meint es ja nur gut. Aber ich stehe dann immer noch mit dem gleichen Problem da.
    Flavianus… Erschüttert recke ich neinen Kopf in die Höhe, dem Magister entgegen. Artaxias hat mich mal wieder eiskalt erwischt! Ich glaube fast schon, er macht sich einen Spaß daraus, mich zu quälen. Dabei müsste er doch wissen, wie gut oder wie wenig gut meine Griechischkenntnisse sind. Grottenschlecht wäre das passendste Adjektiv dafür.
    "Wie…. was? Ach, die Griechen? Ja, also…" Schließlich zucke ich wieder einmal unwissend mit den Schultern und schaue beschämt auf die Tischplatte, um nicht in Artaxias´ Augen blicken zu müssen, wenn er nun wieder lautstark kommentiert, wie unfähig ich doch bin. Dabei bin ich mir durchaus bewusst, dass es nicht nur an meiner mangelnden Kenntnis liegt, gleichermaßen ist es die Langeweile, die meine Sinne abschweifen lässt, wenn immerfort nur in einer Sprache kommuniziert wird, die ich nicht verstehe. Dann ist das einfach so.

  • Deplorablerweise bewahrheiteten sich die Befürchtungen des jungen Flavius prompt, als sein Freund jedweder Replik entbehrte und beschämt nur wenige Worte stammelte. Manius Minor entschloss sich letztendes ein Herz zu fassen und bewegte vorsichtig, beinahe unmerklich sein Haupt in Caius' Richtung und raunte, kaum hörbar, ein
    "Nach ihren Führern, Caius!"
    gen dem freundlichen Ohr. Doch schon wandte Artaxias seinen strafenden Blick von letzterem Knaben, um ihn seinem Herrn zuzuwenden und erzürnt erscholl seine Stimme:
    "Domine, das habe ich gehört! Davon wird Flavianus das Griechische nicht besser lernen, wenn du ihm alles einsagst!"
    Nun war es an dem jungen Flavius, beschämt zu Boden zu blicken, als wäre seine Äußerung tendenziös oder gar obszön gewesen. Wiederholt hatte er versucht, seinen Freund aus der Klemme seiner Inkompetenz im Bereiche der Sprache zu befreien, doch gleich den Augen des Argus schienen auch die Ohren des Artaxias jedwede auditive Äußerung innerhalb des Lernraumes aufzunehmen und zu identifizieren, sodass regelmäßig Strafhomilien zu vernehmen waren.
    "Flavianus, dekliniere mir he stratia im Singular!"
    Mochte es auf die Knaben wirken, als geruhe der greise Lehrer die beiden mit jenen stetigen Fragen und Befehlen zu malträtieren, so bezweckte jener doch lediglich eine Stärkung individueller Schwächen bei beiden und eine letztendliche Ausmerzung derselben.

  • Obschon der junge Flavius des Hellenischen fließend mächtig war und somit der Unterricht theoretisch auch in jener Sprache möglich gewesen wäre, hatte Artaxias aus Rücksichtnahme auf den jungen Flavianus den mathematischen Unterricht ins Lateinische gewandelt. Dies vermochte indessen nicht den Umstand zu ändern, dass Manius Minor sehr unter sämtlichen Zahlenspielereien laborierte, deren Regelhaftigkeit und Logik sich ihm mitnichten zu offenbaren herabließen.


    "Heute widmen wir uns wieder dem Fingerrechnen: Gestern haben wir unterschiedliche Fingerhaltungen für unterschiedliche Zahlenwerte kennen gelernt - Domine, wie hältst du die Hand für die Zwanzig?"
    Unverzüglich begann der Knabe fieberhaft zu spintisieren. Prinzipiell bereiteten ihm derartige Kodierungen noch die geringsten Probleme innerhalb der Mathematik, doch hatte das Unvermögen die in seinen Augen komplexen Rechenoperationen zu erfassen zu einer starken Reduktion seiner Achtsamkeit bei derartigen Studieninhalten geführt.
    Voller Insekurität hob er schließlich seine kindliche, linke Hand in die Höhe, seinen kleinen Mittelfinger auf den Daumen gelegt. Sowohl Gestik, als auch Mimik offenbarten hierbei eine Insekurität, die auch dem Magister nicht entging. Warnend hob er den Zeigestab, der auf Befehl seiner Herrin niemals zur Strafung seiner Schüler zu gebrauchen gestattet war, und dozierte:
    "Falsch! Du musst besser Acht geben! Was du zeigst, ist die Zehn! Bei der Zwanzig muss der Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger!"
    Reumütig wandte der junge Flavius sein Haupt in Richtung seiner Tabula, die er unterhalb seines Hockers auf den Mosaikboden gelegt hatte. Zwar wurde er häufig gelobt, insbesondere seine Eltern jubilierten mit großer Regelmäßigkeit ob seiner Progression innerhalb der Studien, doch evozierte dies eine umso niederschmetterndere Violation seines Gefühles von individuellem Eigenwert durch jedwede Kritik. Kleinmütig imitierte er daher die Präsentation seines Lehrers und schalt sich, bei der nächsten Gelegenheit größere Gelehrsamkeit aufzuweisen.

  • Ein leises Wispern, ein verbaler Wink, der es aber dummerweise nicht einmal in mein Ohr schafft, lässt mich verschämt zu Minimus aufblicken. Wie war das? Ich zucke nur leicht die Schultern, verziehe das Gesicht. Und da! Artaxias sieht alles! Auch Mimimus, bei seinen Bestrebungen, mir helfen zu wollen. Ehe er sich versieht, wird er bereits abgemahnt.
    Der paedagogus lässt nicht locker. Mir erscheint es, als ergötze er sich an seiner Macht. Erbarmungslos lässt er mich weiter ins Messer rennen, setzt mich unter Druck, zeigt mir, was er von mir hält. Ich, ein Tunichtgut, ein Nichtskönner, ein Schmarotzer, der sich an der Seite eines patrizischen Knaben, dem ich niemals das Wasser reichen kann, eingenistet hat, möche am allerliebsten im Erdreich versinken. Doch angesichts des Marmorbodens und der darunterliegenden Kellergewölben ist dies keinesfalls möglich.
    Meine Gesichtsfarbe färbt sich gefährlich rot. Ein Druck baut sich auf. Nein, nicht nur mein Leidensdruck. Weitaus banaler, doch für die Situation hilfreich.
    Statt zu deklinieren, ziehe ich es vor mich zu absentieren, unter dem Vorwand, ganz dringend die Latrine aufsuchen zu müssen. Für den Rest des Tages, und wenn es nach mir ginge, auch für den Rest meines Lebens, ziehe ich mich in Mamas Kammer zurück. Dort werde ich sie am Abend unter Tränen bitten, mich nie, nie wieder dorthin zu schicken. Zu diesem Schinder. Doch ich kenne bereits jetzt schon ihre Antwort.
    Also werde ich mich fügen...

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