Im Schutz der Nacht?

  • Verdammt, wieso hatte er sich nur erwischen lassen?!
    Für einen Moment wich der kühle Gesichtsausdruck des Jungen einer hilflosen Grimasse, in der sich erneut seine Lippen zu einem dünnen Strich verengten. Er durfte, durfte, durfte doch nichts sagen! Selbst den Kommentar, daß die Frauen ihm bloß einen Eimer hätten geben müssen, verkniff er sich lieber.
    Im Versuch, seine eigenes Zögern zu überspielen, zog er die Hände aus den Taschen und nahm eine ähnliche Haltung wie Valerian ein.
    Romaeus spürte, daß er buchstäblich mit dem Rücken zur Wand stand - naja, eigentlich zur Treppe - doch hier rauszukommen, ohne daß sein Geheimnis aufflog, war nahezu unmöglich. Haltsuchend krallten sich die Finger seiner rechten Hand in den linken Ärmel.


    Irgendwas mußte er tun ... irgendwas sagen, das ihm weiterhalf. Dabei log er noch nicht mal richtig, er durfte eben nur die halbe Wahrheit sagen ...
    Romaeus spürte einen Kloß im Hals, so einen wie damals, als Ingolf verschwunden war. Denn dies war es, was ihm solche Angst machte. Er wollte nicht, daß Lysandra oder Neco etwas passierte. Sie waren doch wie seine Geschwister und sie hatten sich gegenseitig versprochen, aufeinander aufzupassen!
    Ingolf wüßte jetzt, was zu tun ist. Ein Gedanke, der ihm nun beinahe die Tränen in die Augen trieb. Romaeus traute sich kaum mehr zu blinzeln, und so wandte er den Kopf weg und blickte starr gegen die Wand neben sich. Daß er mal mußte, war in diesem Moment schlicht und einfach vergessen. Nicht jedoch die Ungeduld des Centurios. Das Kind konnte förmlich spüren, wie die Augen aller drei Erwachsenen in abwartend maßen.
    Stumm gegen die aufsteigende Panik ankämpfend, biß Romaeus hart die Zähne aufeinander.


    "Du würdest doch auch nicht deine Frau verraten!" stieß er plötzlich hervor. Vor lauter Aufregung vergaß er glatt die förmliche Anrede gegenüber Valerian. Obwohl er immer noch versuchte, die Tränen hinunterzuschlucken, klang seine Stimme verdächtig weinerlich.
    "Das wär' doch ungerecht!"
    Es war einfach ungerecht. Die anderen würden Schläge kriegen, nur weil er nicht aufgepaßt hatte! Aber wenn er überhaupt nicht mehr zurückkam, konnte er sein Versprechen gar nicht mehr halten, genausowenig wie sein Vesprechen von damals an Ingolf, bevor dieser verschwunden war. Vor der Erinnerung an jene Nacht erschien Romaeus allein der Gedanke, die anderen Kinder zu verraten, ungeheuerlich. Es kam ihm vor, als würde er mit einem falschen Wort jenen unsichtbaren Handel brechen, der zwischen Varius und ihnen bestand, seit er denken konnte.


    Ihr Herr hatte ihnen das Leben gerettet, ihnen allen erst ein Recht auf Leben gegeben und sie dienten ihm dafür. So waren die Regeln schon immer gewesen. Alles andere kam einem Vertragsbruch gleich, und wahrscheinlich würde Varius sie alle dann genauso verschwinden lassen wie Ingolf ...
    Weiter wollte Romaeus gar nicht überlegen. Ihm wurde jetzt schon eiskalt davon. Schaudernd verschränkte er die Arme noch fester ineinander. Ingolf hatte sich damals für sie eingesetzt und furchtbar dafür büßen müssen. Dieses Opfer durfte doch nicht umsonst sein ...? Die Tränen, die an seinen Wimpern hingen, drohten nun doch zu fallen, weswegen er rasch den Blick zu Boden senkte.
    "Und es wär ... feige", fügte er zittrig hinzu. "Denjengien zu verraten, in dessen Lebensschuld du stehst." Ein großes Wort für einen Achtjährigen und doch empfand er gegenüber beiden so - seinem Herrn und seinem früheren besten Freund.
    "Und ich bin nicht feige!" In hilfloser Wut stampfte Romaeus mit dem Fuß auf. Er wollte kein Feigling sein, er war doch Ingolfs kleiner Krieger und Lysandras Beschützer und Necos bester Freund!

  • Wirklich eingeschüchtert wirkte der Junge nicht, eher trotzig und auch frech stellte er sich ihrem Mann entgegen. Also musste es jemanden geben vor dem der Junge noch mehr Angst hatte, als vor einem Soldaten. Kritisch musterte sie den Knaben, abgerissen, abgemagert und vermutlich gehörte er irgendeiner Bande an die ihn angestiftet hatte. Ein wenig Mitleid hatte sie mit dem Knirps schon, ausgeliefert irgendwelchen Halunken, die sich mit Gewalt Gehorsam bei Waisen verschafften. Und da sollte noch einmal behaupte, sie hätte eine zweifelhafte Vergangenheit. Wenigstens hatte sie eine Familie gehabt, die immer auf sie Acht gegeben hatte. Es war zwar kein beständiges Leben gewesen, aber dafür hatte sie mehr Freiheiten gehabt, wie viele andere. Ein wenig konnte sie ja den Jungen verstehen und hätte ihn wohl doch über kurz oder lang laufen gelassen, hätte sie nicht Valerian geholt. Es war einfach besser, dass er sich diesem Problem annahm, als wenn sie und Valentina allein nach einer Lösung gesucht hätten.
    Ein wenig war es schon beeindruckend wie der Junge sich einfach stur stellte und nur widerwillig mit einsilbigen Antworten rausrückte. Nichtssagend und reichlich ausweichend.
    Calvena war sich ziemlich sicher, dass ihr Mann im Notfall Mittel und Wege kannte den Jungen doch noch zum sprechen zu bewegen, aber er war ja noch ein Kind und vermutlich reichlich eingeschüchtert von demjenigen der den Jungen losgeschickt hatte.

  • Vollkommen wortlos stand Valentina immer noch hinter ihrem Bruder und verfolgte das Geschehen. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. Etwas, dass bei der normalerweise gutherzigen Valentina äußert selten vorkam. Sie ließ nicht erkennen wie es in ihr aussah, sagte allerdings auch kein Wort zu dem Vorfall.

  • Es war schon anerkennenswert, wie tapfer der Junge standhielt. Doch davon durfte Valerian sich nicht beeindrucken lassen. "Du bist also nicht feige. Und kein Verräter. Aber ein Einbrecher bist Du. Und ein Dieb. Ein Verbrecher, so jung Du noch bist." Valerians Stimme war eisig und scharf. Zu lange hatte er in den Straßen Roms gelebt. Er kannte das Bandenwesen, hatte gar Freunde unter den kleinen Dieben gehabt in seiner Jugend. Ja, er wußte genau, wie diese Kinder unter Druck gesetzt wurden. "Du glaubst also, Du müßtest die schützen, die Dich zum Verbrecher gemacht haben? Glaubst Du, sie würden Dich schützen? Natürlich würden sie versuchen, Dich herauszuholen, nachdem Du erwischt wurdest. Aber nicht, weil sie Dich lieb haben oder brauchen. Sondern weil sie Angst haben, von Dir verpfiffen zu werden. Eher töten sie Dich, als daß sie so etwas riskieren. Denk darüber nach, sicher hast Du schon erlebt, daß andere Kinder plötzlich nicht mehr dabei waren."


    Er packte den Jungen beim Kragen. Fest und nicht gerade rücksichtsvoll. So schleifte er ihn zur Latrine und schubste ihn hinein. "Erledige Deine Notdurft und dann fang an zu reden. Sonst übergebe ich Dich den Behörden. Du weißt sicher, was das für Dich bedeutet."

  • Romaeus starrte weiterhin zu Boden. Seine Hände ballten sich, je weiter Valerian sprach, in hilfloser Angst zu Fäusten. Was der Centurio da sagte, stimmte einerseits und andererseits doch nicht.
    Er wußte genau, daß er sich auf Neco und Lysandra verlassen konnte, daß sie ihn liebten als wäre er wirklich ihr Bruder. Anders als bei Varius, der ihnen zwar allen das Leben gerettet hatte, aber genau diese Tatsache ausnutzte, weil er schon immer ihre eizige Chance auf Überleben gewesen war. Varius liebte noch nicht mal Neco, obwohl er ihn als erstes gerettet hatte.
    Aber noch bevor der Junge näher darüber nachdenken konnte, fühlte er sich von Valerian gepackt. Er versuchte noch nicht mal, sich zu wehren und fand sich wenig später im Abtritt wieder. Verstört blickte er gegen die Wand der Latrine, durch die von draußen dumpf die Warnung des Mannes klang. Und ob er wußte, was das für ihn bedeutete - genau das nämlich, wovor Varius ihn und die anderen immer und immer wieder gewarnt hatte. Seit er denken konnte, lautete die oberste Regel, sich nicht erwischen zu lassen ...


    Nun, da ihn keiner sehen konnte, ließ Romaeus endlich die Tränen zu. Trotzdem schluckte er selbst jetzt noch dagegen an, so wie er abends manchmal heimlich auf seinem Schlaflager weinte.
    Er selbst hatte die anderen Kinder lieb, sie waren genauso zu seiner Familie geworden, wie auch Ingolf ...
    Leise vor sich hin schniefend, machte er sein Morgengeschäft, ohne wirklich die geringfügige Erleichterung wahrzunehmen. Zu sehr war er mit den Gedanken bei Ingolfs Verschwinden und der unansgesprochenen Angst, die ihn seither verfolgte. Nicht nur ihn, sondern auch Lysandra und Neco. Dabei konnten die anderen doch gar nichts dafür ... Romaeus war sich noch nicht mal sicher, ob Ingolf was dafür konnte, daß er zum Dieb geworden war. Denn all die Jahre hatte sein Freund ihn und die anderen beschützt, hatte sich vor sie gestellt, egal wie schlimm die Auseinandersetzungen mit dem Herrn am Ende wurden.


    Stumm zog Romaeus seine Hose hoch, richtete fahrig seine zerlumpte Kleidung und wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht. Wahrscheinlich würde Valerian trotzdem sehen, daß er geheult hatte, die meisten Erwachsenen sahen sowas.
    Ohne ein Wort von sich zu geben, schlüpfte der Junge durch den Türspalt der Latrine nach draußen, wo er sich mit dem Rücken zu einer Mauer kauerte und erneut auf seine Füße starrte. Der Gedanke an Flucht erschien auf einmal wie weggeblasen.
    Es gab nämlich was viel wichtigeres. Weder er noch eines der anderen Kinder durften bei den Behörden enden, aber er mußte auch dafür sorgen, daß ihr Herr ihnen nichts antat.


    Es war ein kleines, unscheinbares Wort Valerians, das dem Knaben im Kopf herum ging. Das Wörtchen sonst. Sonst, das hieß immer noch, es gab einen Augsweg.
    Konnte er vielleicht doch sein Versprechen halten?
    Ganz langsam hob Romaeus schließlich den Kopf, um nachdenklich den Centurio zu betrachten.
    "Klar ha'm mich die anderen lieb", setzte er im Brustton der Überzeugung zu einer Erklärung an. "So wie ich sie auch lieb hab. Wir sind wie Geschwister." Er machte eine Pause, scharrte nachdenklich mit dem nackten Fuß über den Steinboden.
    "Und wir beschützen uns. Nicht so wie der Herr, sondern richtig. Ohne uns'ren Herrn wär'n wir alle schon tot, aber ihm isses bloß nich' egal, weil wir ihm dafür Geld bringen. Aber allen anderen isses egal, wenn wir sterben, weil wir sowieso nicht leben dürfen, und das weiß der Herr auch, darum beschützt er uns vor allen anderen, weil er uns're einzige Chance ist. Solang wir nichts dummes machen."


    Wieder verfiel er einen Moment lang in Schweigen, stützte den Kopf auf die angewinkelten Knie und wackelte mit den Zehen.
    "Sich erwischen lassen ist dumm ... oder ihm widersprechen. Oder ihn betrügen." Romaeus hatte nie erfahren, was genau zwischen Ingolf und Varius vorgefallen war, und doch hatte er die eine oder andere Ahnung. Zwar hatte er nie mit Neco darüber gesprochen, doch seit jener Nacht war sein älterer Freund anstelle von Ingolf ihr Beschützer - und machmal sagte ein warnender Blick, ein stummes Kopfschütteln mehr als alle Worte der Welt.


    "Ingolf is' weg", fuhr er schließlich stockend fort. Die Arme eng um die Knie geschlungen, suchte er krampfhaft nach den richtigen Worten.
    "Er wußte vorher, daß er nich' mehr wieder kommt. Aber er war kein and'res Kind. Er war schon sechsundzwanzig." Um ein Haar hätte der Junge aufs Neue losgeheult. Tief einatmend, zog er die Nase hoch und schluckte wie zuvor gegen die Tränen an, die ihm im Hals würgten. Aber es half nichts dagegen, daß sein Blick nun naß verschleiert war, als er zu Valerian hochsah.
    "Du mußt versprechen ... daß den anderen zwein nichts passiert. Dann erzähl ich dir alles. Aber nur ... f- ... für Ingolf." Die letzten Worte wurden trotz aller Mühe von Schluchzern zerrissen. Irgendwo in seinem Bauch zwickte es, die Gedanken in seinem Kopf schossen total durcheinander hin und her. Am liebsten hätte Romaeus sich irgendwo verkrümelt und wäre vor Anbruch des nächsten Tages nicht mehr herausgekommen.
    Aber das ging nicht. Er war erwischt worden und mußte nun wohl oder übel dafür gerade stehen. Im Augenblick konnte er noch nicht mal sagen, was das schlimmste für ihn war: Gegen Varius' Regeln verstoßen zu haben oder Lysandra und Neco zu enttäuschen. Sein Schicksal lag nun in Valerians Händen und er hatte ihm soeben auch zum Großteil das seiner Freunde ausgeliefert. Jetzt noch ihre Namen zu verraten, war im Grunde nur mehr der letzte entscheidende Hinweis. Und doch sträubte sich alles in ihm dagegen, die Namen seiner Freunde auszusprechen, ohne sich sicher zu sein, daß ihnen nichts geschehen würde. Weder durch den Herrn, noch durch die Behörden.

  • Nachdem der Junge wieder aus der Latrine kam, war Valentina auch etwas näher getreten. Der Junge hatte geweint und wenn Valentina etwas nicht ertragen konnte, dann wenn jemand in ihrer Nähe weinte. Obwohl sie wusste in welcher Situation sie sich befanden legte sie ihrem Bruder von hinten die Hand auf den Arm. Nur kurz und flüchtig. Wissend, dass sie das eigentlich nicht tun durfte. Doch sie hoffte Valerian dann zu einer etwas mehr menschlichen und weniger militärischen Entscheidung bewegen zu können.

  • Endlich zeigte das Kind sich beeindruckt. Es merkte wohl, daß es hier kein gar so leichtes Spiel hatte. Valerian hatte sich selbst zu viel auf den Straßen Roms herumgetrieben, um nicht zu wissen, wie so etwas für gewöhnlich lief. Die Kinder suchten Schutz und einen Ort, an dem sie bleiben konnten. Die wahren Schuldigen gaben ihnen gerade das und keinen Deut mehr. Dafür mußten die Kinder stehlen und alles abliefern. Für die Erwachsenen ein einträgliches Geschäft. Zumal nach diesen Kindern kein Hahn und keine Henne krähte. Valerian rieb sich nachdenklich das Kinn, während der Junge auf der Latrine war.


    Die nächsten Worte des Jungen bestätigten seine Ansicht. Und er war zu lange Praetorianer gewesen, um ein Interesse daran zu haben, solch ein Diebesnest auszuheben. Hob man eines aus, entstand sogleich ein anderes und übernahm das Revier. Besser war es, sie zu kennen und ab und an Informationen aus ihnen herauszupressen. Ach, er dachte wirklich immer noch zu sehr wie ein Praetorianer. "Du nennst ihn Herr. Hat er euch regulär gekauft?" Kleine Sklaven. Auch keine schlechte Idee für jemanden, der die kleinen Würmer auf solche Weise ausnutzen wollte.


    Als der Kleine ihm das Versprechen abforderte, schüttelte Valerian den Kopf. "Ich kann Dir nur versprechen, daß ich den anderen Kindern nichts antun werde. Daß ihnen nichts passiert, das kann ich nicht versprechen, darüber habe ich keine Kontrolle. - Hör zu, Romaeus. Du weißt doch, daß stehlen falsch ist. Oder hältst Du es für richtig? Wenn Du etwas Schönes hast, das Du gern behalten möchtest und ein anderer nimmt es Dir weg, das gefällt Dir doch auch nicht, oder?"


    Valentina legte ihre Hand auf seinen Arm. Valerian brauchte sie nicht anzusehen, um sie zu verstehen. Doch er hatte sowieso nicht vor, dem Kind etwas anzutun oder es gar auszuliefern. Er wollte nur verhindern, daß hier weiterhin eingebrochen wurde. Denn er machte sich vor allem Sorgen um seine Schwester und um seine Frau. "Erzähle mir von Ingolf."

  • Romaeus versuchte sich seine Angst nicht anmerken zu lassen, aber die strengen Worte Valerians schienen etwas in den Jungen auszulösen. Man konnte förmlich sehen, wie der Knabe nach einem Weg aus dieser Zwangslage suchte. Calvena musste an sich halten um dem Jungen nicht doch einfach zur Hilfe zu eilen. Der Knabe tat ihr nicht nur leid, sie konnte ihn auch ein wenig verstehen. Alles was der Junge an Familie hatte, bestand aus anderen Kindern und einem Halunken, der sie beschützte und ausnutzte. Die Angst das alles ganz plötzlich zu verlieren, versiegelte erst einmal die Lippen.
    Es waren unangenehme Wahrheiten die ihr Mann aussprach um den Jungen zum reden zu bringen. Auch wenn es nicht den Eindruck machte, sie war sich ziemlich sicher, dass Valerian dem Bengel helfen wollte. So konnte es jedenfalls nicht weiter gehen, wer wusste denn, wann Romaeus in das nächste Haus einbrach nur um seinem Beschützer die Beute dann zu bringen. Wobei es wohl viel schlimmer kommen würde, schließlich hatten sie ihn erwischt und das war ein unverzeihlicher Fehler in solchen Kreisen. Denn mit Sicherheit würde man in dem Jungen als eine Gefahr sehen und deshalb aus dem Weg räumen. Diese Gedanke jagte ihr einen kurzen Schauer über den Rücken. Er war noch ein Kind und sie hoffte, dass der Junge anfing zu reden, damit er die Möglichkeit hatte aus diesem Verbrechersumpf heraus zu kommen, ehe es ihm das Leben kostete.


    Während der Knabe sich nun erst einmal erleichterte und wohl seine Lage in kurzer Einsamkeit überdachte. Dies gab auch den Erwachsenen kurz einen Augenblick Zeit um selbst kurz durchzuatmen. Ihr gefiel die ganze Situation gar nicht, sah aber ein, dass Valerian nicht nachgeben durfte, denn sonst würde das Ende sie wohl alle drei nicht mehr ruhig schlafen lassen.
    Der Junge kam wieder raus und drückte sich gegen die Wand, halt suchend. Der kleine Kerl tat ihr wirklich Leid und sie hätte ihn am liebsten in den Arm genommen und gesagt, dass alles gut wird. Das was er ihnen dann erzählte ließ, war im Grunde das, was sie bereits vermutet hatten. Es gab eine Bande und einen Anführer der die Kinder für seine Zwecke missbrauchte und wohl mit Gewalt sie zu Gehorsam zwang.


    „Wenn du uns alles erzählst, werden wir zusehen, was sich für deine Freunde machen lässt“, mischte sie sich schließlich doch noch ein. Sie konnte einfach nicht anders.

  • Als die Frau nun ihre Stimme erhob, um zu erklären, sie würden zusehen, ob sich was machen ließe, schickte Romaeus ihr einen kurzen, doch auch leicht ungläubigen Seitenblick zu. Wäre nur sie diejenige gewesen, die ihn verhört hätte, hätte er wahrscheinlich sogar erleichtert gelächelt, doch dieses Verhör leitete Valerian, ein Mann und noch dazu von hohem militärischem Rang.
    Auf die Nachfrage des Centurios nach seinem Herrn schüttelte Romaeus langsam und nachdenklich den Kopf.
    "Ich ... glaube nicht", gab er zögernd zur Antwort. "Ich weiß nicht ob er ... N-Neco seiner Mutter abgekauft hat. Aber sie wollte, daß er ihn rettet, weil sie wußte, daß sie bald sterben würde. Sie war eine Lupa und irgendwie krank ... Und Lysandra haben wir unterwegs gefunden, im Graben. Da war sie erst drei. Und mich halt Ingolf kurz nach der Geburt gerettet. Und V - der Herr dann ihn", verbesserte er sich schnell.


    Seine Finger bohrten nervös im Loch seines linken Hosenbeins herum, da Valerian ihm nicht wirklich das versprechen konnte, was er wollte. Wenigstens hatte er nun die Gewißheit, daß er sie nicht an die Behörden ausliefern würde ... Nicht viel, aber etwas.
    "Wenn Du etwas Schönes hast, das Du gern behalten möchtest und ein anderer nimmt es Dir weg, das gefällt Dir doch auch nicht, oder?"
    Wieder schüttelte der Knabe den Kopf. Sein Blick ging irgendwohin ins Leere, während er über Valerians Worte nachsann. Daß die andere Frau im Raum sich nun ebenafalls, wenn auch wortlos, einmischte, bemerkte er nicht.
    Dann aber kam eine Frage, die ihn erneut zu Valerian aufblicken ließ. Er sollte von Ingolf erzählen. Etwas, das alles andere als einfach war. Seit über einem Jahr hatte er den Namen seines Freundes wenn überhaupt nur ganz leise ausgesprochen. Der Schmerz um diesen Verlust saß immer noch tief und außerdem mußte er, wenn er von Ingolf sprach, auch von seinen Eltern berichten.


    "Er hat meinen Eltern versprochen, mich zu retten." Abermals mußte der Knabe schlucken, um seine Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen. "Er war Mamas Sklave und Papas bester Freund ... Meine Mama war Römerin und Papa ... ein Germane. Früher ein Krieger und dann Mamas Sklave. Sie durften nicht zusammensein." Bei diesen Worten kroch Romaeus noch weiter in sich zusammen, in dem Bewußtsein, daß es ihn eigentlich gar nicht geben durfte.
    "Sie ha'm nur eine Nacht ihre Gefühle erlaubt, aber dann kam ich. Mein Großvater, Mamas Vater, war furchtbar wütend darüber. Er wollte mich aussetzen, aber Ingolf hatte versprochen, mich zu retten. Also ist er ihm heimlich nach und hat mich genommen und ist mit mir in die Stadt geflohen ... und da hat er dann ... unsern Herrn kennengelernt."


    Tief atmete er ein und wieder aus. Das Bauchweh war schlimmer geworden, und automatisch preßte er nun einen Unterarm dagegen.
    "Der hat ihm gezeigt, wie man untertaucht und nicht auffällt und ... wie er gut überleben und für uns sorgen konnte. Ingolf hat immer auf uns aufgepaßt, auf mich und Neco. Und später auch Lysandra."
    Romaeus grub die Zähne in die Unterlippe, in dem vergeblichen Versuch, die Tränen zurückzuhalten. Leise salzige Spuren zogen sich durch sein Gesicht, als er weiter erzählte.
    "Immer wenn der Herr wütend war, hat er seine ... ganze Wut ausgehalten. Ich w-weiß nicht, warum sie sich dann immer gestritten haben, aber er w ... Er wolllte uns bestimmt beschützen, aber ich weiß nicht wovor."
    Lautes Schluchzen, geparrt mit einem geräuschvollen Schniefen unterbrach den verzweifelten Wortschwall des Jungen. Im Reflex hob er den Ärmel an, fuhr sich damit übers Gesicht.
    "Irgendwann ... hat er sich in der Nacht verabschiedet und dann ... Am nächsten Morgen war er weg und ist nie mehr wieder gekomm'..."


    Romaeus suchte erneut Halt, indem er die Arme um die Knie schlang. Jetzt, wo er erstmal angefangen hatte zu heulen, war es gar nicht so einfach, wieder damit aufzuhören.
    Wie zuvor bemühte er sich, blinzelte heftig gegen die Tränen an. Das wichtigste Geheimnis hatte er trotz allem nicht verraten - wie seine Eltern hießen ... und wo sein Vater früher zu Hause war.

  • Valerian hörte sich ruhig an, was der Junge zu sagen hatte. "Du bist also das Kind eines Sklaven und einer Freien? Damit wärest Du eigentlich auch frei gewesen. Allerdings wurdest Du nicht anerkannt, sondern ausgesetzt zum Sterben. Der Dich aufgenommen hat, konnte entscheiden, was Du bist. Was bist Du also? Ein Sklave? Wer und was Ingolf ist, habe ich auch noch nicht verstanden. War er ein Sklave? Der dann fortgelaufen ist, um Dich zu retten? Wie auch immer, anscheinend hat er Dich an diesen Herrn übergeben und gehörst somit ihm. Nun kommst Du nicht drumherum, mir den Namen dieses Herrn zu nennen, denn er ist es, der alle Rechte an Dir hat." Valerian hatte nicht die Absicht, den Jungen zurückzubringen. Denn was dem dann blühen würde, wollte Valerian keinem Menschen zumuten. Vielmehr wollte er mit diesem Mann sprechen, ihn dazu bringen, den Jungen aufzugeben. Doch der Junge sollte das noch nicht wissen. Der sollte sich noch nicht zu sicher fühlen. Noch nicht.

  • Valerian schien es nicht zu stören, dass sie sich eingemischt hatte. Sie war ihm ja nicht in den Rücken gefallen, aber ihr tat nun einmal der Bengel leid. Irgendetwas hatte sie sagen müssen, damit der Junge wusste, dass sie nicht gegen ihn waren, sondern eine Lösung versuchten zu finden. Der Junge plapperte jedenfalls drauf los und so ganz wurde sie nicht schlau aus der Lebensgeschichte des Jungen. Jedenfalls war es offensichtlich dass ihm die ganze Situation zusetze und er Angst hatte.

  • Irritiert blinzelte Romaeus Valerian an, als dieser nun versuchte, das zusammenzufassen, was er ihm gerade erzählt hatte. Dies brachte den Jungen jedoch erst recht durcheinander.
    Er wäre frei gewesen, wenn seine Großeltern es erlaubt hätten? Meinte Valerian das? Kaum aber hatte Romaeus diesen Gedankengang beendet, da redete der Hausherr auch schon weiter.
    War er ein Sklave? Bei Varius jedenfalls schon ...
    "I-ich glaub, ja ...", erwiderte der Junge etwas hilflos und zuckte mit den Schultern. "Ingolf war der Sklave meiner Mama. Und sie hat ihn gebeten, mich zu retten, also hat er bloß ihren Auftrag erfüllt."


    Die Verwirrung stand dem Knaben förmlich ins Gesicht geschrieben, als Valerian damit fortfuhr, daß Ingolf Varius ja irgendwie zu ihren Herrn auserkoren hatte - oder eigentlich umgedreht?! Daß Varius alle Rechte an ihm hatte, war für Romaeus klipp und klar wie Kloßbrühe, aber so wie Valerian es ausdrückte, klang es für ihn nun ganz so, als gäbe es mehrere Formen von Recht.
    "Äähmmm", machte der Junge langgezogen und legte den Kopf in den Nacken. Und schüttelte ihn schließlich, wie um seinen eigenen Gedankensalat zu entwirren.
    "Va -", er zögerte abermals, sah kurz zu Boden und schließlich wieder zu Valerian hoch. "Unser Herr ist ein Sklavenhändler. Hier in der Stadt." Na gut, das war logisch, sonst wäre er ja wohl kaum hier ...
    "Ingolf hat damals erst durch Arbeit versucht, uns durchzubringen. Aber dann waren auf einmal Steckbriefe von ihm in der Stadt. Da mußte er stehlen, obwohl er eigentlich sowas ja nicht gemacht hat ... Er kannte sich in der Freiheit ja auch nicht aus, weil er von Geburt an eigentlich Sklave war. Drum hat das mit dem Stehlen auch nicht wirklich geklappt und ... hmm!" In einer Mischung aus Durchatmen und Seufzen unterbrach er sich. Die linke Hand fand unbewußt den Weg in seine Haare und begann daran rumzuzwirbeln. Immerhin wollte er Valerian hier erklären, daß Ingolf nix dafür konnte, was mit ihnen passiert war. Denn genau genommen war Varius schuld, der ihre Notsituation für sich ausgenutzt hatte ... jahrelang.


    Erneut ballte Romaeus eine Hand zur Faust, rang minutenlang mit sich, was jetzt richtig und falsch war. Obgleich sein Gerechtigkeitssinn, was die Diebereien betraf, recht eigensinnig war, so ahnte er doch, daß es nicht nur klüger wäre, seinen Herrn zu verraten, sondern es auch Ingolfs Opfer gewissermaßen einen Sinn geben würde. Gewiß hatte auch Ingolf Fehler gemacht, aber im Grunde war er ein guter Mensch gewesen!
    "Varius hat sein Versteck gefunden!" rückte Romaeus in plötzlicher Entschlossenheit raus. "Und ihm angeboten, wie er frei in der Stadt zu leben lernt, wenn er ... wenn er ihm Geld bringt." Romaeus zog nachdenklich eine Schnute nach rechts. "Richtig frei war das ja auch nicht, aber irgendwie doch. Ingolf war dann sowas wie Varius rechte Hand. Aber nur, weil er nich' anders konnte, sonst wär's Neco und Lysandra und mir noch viel schlechter gegangen!" verteidigte er nun vehement seinen Freund. "Und außerdem hat er so sein Versprechen an meine Eltern gehalten, bis zuletzt, er -" Erschrocken klappte Romaeus den Mund zu. Da hätte er jetzt beinahe zu viel verraten ...
    "Er konnte nix dafür", schloß er und preßte wie zuvor die Lippen zusammen, während er sich innerlich vornahm, dieses Geheimnis in keinem Fall zu verraten!

  • Valerian beobachtete den Jungen, der zunehmend von seiner Selbstsicherheit verlor. Im Gegenteil schaute er immer häufiger verwirrt drein. Das war gut, denn so würde er endlich reden. "Nun, Ingolf ist also der Sklave Deiner Mutter, der aus dem Haushalt entlaufen ist. Da es Steckbriefe gab, muß es so sein. Nun ist er seinem neuen Herrn entlaufen, vielleicht zurück zu Deiner Mutter? Du weißt, wer sie ist?" Valerian war sich ziemlich sicher, daß der Junge genau wußte, wer er war. Auch wenn die Familie das Kind nicht anerkannte, konnte es nützlich sein, es zu wissen.


    "Varius, der Sklavenhändler. Der dürfte nicht allzu schwer zu finden sein. Er ist ein sehr geldgieriger Mann, nehme ich an? Hat er hier Familie? Ein eigenes Haus? Oder ist er einer von denen, die mal hier und mal da unterschlüpfen?" Noch während er fragte, legte er dem Jungen eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. "Ich will Deinem Ingolf nichts, Romaeus. Und auch nicht Deinen Freunden. Aber Du mußt mit mir reden, damit ich so handeln kann, wie es für alle am Besten ist." Ernst blickte er dem Jungen in die Augen. "Also, wofür konnte er nichts? Erzähle alles ohne Scheu. Sonst begehe ich vielleicht einen Fehler, der alles nur noch schlimmer macht."

  • Auf die Nachfrage wegen seiner Mutter schüttelte der Knabe verstört, doch auch ein wenig zu hektisch den Kopf. Doch daran, daß ihn dies verraten würde, dachte er gar nicht. Er kannte den Namen seiner Mutter, den hatte Ingolf ihm noch verraten, bevor er ... Ein weiteres Mal schluckte Romaeus hart, doch es half nichts gegen die wiederaufkommenden Tränen. Leise vor sich hin schluchzend, suchte er krampfhaft nach Worten, nach Antworten in seiner Erinnerung.
    "Er ... nein, wir sind öfters rumgereist", stieß er schließlich hervor. "Aber, aber ...." Vor lauter Heulen fing er jetzt auch noch zu stottern an! Romaeus biß fest die Zähne aufeinander, in dem Versuch, sich zusammenzureißen. Er wartete einen Moment, bis sein aufgebrachter Atem sich wieder beruhigte.
    "Ingolf is' nich' einfach so weg", seine Stimme klang immer noch tränenerstickt. "Er, er -", nur ein tiefes Ein- und Ausatmen verhinderte, daß er nochmal ins Stammeln geriet.
    "Er hat's nur so aussehen lassen", erklärte er leise. "Damit wir keine Angst haben. Aber zwei Tage, nachdem er weg war, da mußte Neco unserm Herrn ein neues Messer besorgen ..." Natürlich hatten sie auch darüber nachgedacht, daß Varius sie mit dieser Geste möglicherweise nur einschüchtern wollte. Der Beweis dafür, daß sein Freund tatsächlich tot sein mußte, lag für Romaeus in einer ganz anderen Tatsache. "Wenn er ... Wenn er noch leben würde, dann hätt' er mich nicht allein gelassen! Er wär zurückgekomm' und außerdem hätt' er mir sonst nicht sagen brauchen, wo ich vielleicht meinen Papa finde!" Erneut kroch ein Schluchzer seine Kehle hoch, begleitet von einem Hickser. "Aber er ist jetzt schon über ein Jahr weg ..."


    Wie zuvor zog er die Beine enger an den Bauch, um das schmerzhaft drückende Angstgefühl darin zu verringern. Romaeus hatte bewußt keine Namen zu seinen Eltern genannt, denn er befürchtete, damit nur neuen Ärger hinaufzubeschwören ...
    "Er konnte nix dafür, daß er ein Dieb war." ging er schließlich doch noch auf die letzte Frage des Centurios ein. "Er hat doch nie was anderes gelernt als zum Dienen ..." Schnüffelnd zog Romaeus den Rotz in der Nase hoch.

  • Noch war Valerian sich nicht ganz sicher, ob er mit dem Jungen Mitleid haben sollte oder eher doch nicht. Das war durchaus ein durchtriebenes Früchtchen. Aber hin und wieder hatte er das Gefühl, daß der Junge wirklich Angst hatte und auch, daß er diesen Ingolf tatsächlich geliebt und ihm vertraut hatte. Für Valerian gab es kaum einen Zweifel, daß dieser Ingolf irgendwo verrottete. "Dein Herr ist also nicht vertrauenswürdig, da scheinen wir zwei uns wenigstens einig zu sein. Und was soll ich nun Deiner Meinung nach mit Dir machen?" Daß der Junge dauernd seinen Rotz hochzog fiel seiner Meinung nach eher in das Aufgabengebiet der Frauen. Seine Aufgabe war es, den Jungen ein wenig einzuschüchtern, aber ihm auch zu zeigen, daß er stark war und Schutz bedeuten konnte. Freundlichkeit und Geborgenheit, das zu vermitteln war Calvenas und Valentinas Sache. Zusammen konnten sie den Schutzpanzer des Jungen knacken. Es war fast schon geschafft.

  • Die nächste Frage des Centurios ließ den Jungen dann doch ein wenig verdutzt dreinblicken. Wortlos blinzelte er sich die Tränen aus den Augen, wischte sich schließlich nachdenklich mit dem Ärmel über die Nase.
    Da war immer noch dieser Drang, unbedingt heil aus dieser Sache rauszukommen. Und nicht nur er, sondern auch seine Freunde. Und das hatte Valerian ihm bereits versprochen, wenn auch nur in der Form, daß er ihnen nichts tun würde. Das hieß aber doch auch, daß die Behörden ihnen nichts tun würden ...?
    Romaeus' Finger hatten sich ineinander verschränkt, als er sie nervös hin und her drehte. Man konnte förmlich sehen, wie es in dem Knaben arbeitete. Ein letztes Hinunterschlucken der Tränen und er brachte leise hervor: "Wenn ich vielleicht dir helfen kann ... Kannst du dann ... uns helfen ... Herr?"


    Wieder gruben sich seine Zähne in die Unterlippe. Romaeus war ein Gedanke gekommen, wie er Valerian helfen konnte und vielleicht auch Lysandra und Neco, ohne daß Varius mitbekam, daß er der Verräter war ...
    "Ich kann's dir aufmalen - wie du ihn findest", entfuhr es ihm plötzlich. "Aber nur im Sand!" Denn was im Sand war, konnte man jederzeit wieder wegwischen.
    "Dann weiß ich, daß er Neco und Lysandra nix tut! Weil er dann nämlich nich' weiß, daß ich's verraten hab ..." Er kniff zögernd die Lippen aufeinander, innerlich hin und hergerissen zwischen seiner Angst und einer Art verzweifeltem Wagenmut.
    "Ihnen darf nix passier'n", fügte er nun wieder ziemlich piepsig hinzu. Unsicher hing sein Blick auf Valerians Gesicht. "Bitte, Herr!"

  • Diese Tränen rührten sie und am liebsten hätte sie den Jungen in den Arm genommen und getröstet. Aber das wäre wohl wirklich kontraproduktiv gewesen und hätte Valerian nicht im geringsten geholfen oder unterstützt. Also versuchte sie sich zurück zu halten und dem Jungen zumindest ein kurzes verständnisvolles Lächeln zu schenken. Ob es nun ihr Lächeln war, oder aber Valerians versuch etwas vertrauen bei dem Jungen zu erlangen, er sah sie jedenfalls aus großen Augen an. Anscheinend war er zu der Überzeugung gekommen, dass sie ihm nichts Böses wollten, aber ihn auch nicht einfach hatten laufen lassen können.
    Die ganze Geschichte des Jungen war etwas verwirrend, aber erklärte auch warum der Junge nun eingebrochen war und nun hier wie ein Häuflein Elend vor ihnen hockte. Die Frage war, was konnten sie für den Jungen und seine Freunde tun. Die Kinder würden nur an den nächsten Fiesling geraten, wenn man einfach mit dem Herrn des Knaben kurzen Prozess machte und einsperrte. Ohne jegliche Hilfe waren diese Kinder schutzlos und würden schnell wieder als kleine Diebe, oder aber schlimmeres Missbraucht werden. In dieser Hinsicht machte sie sich keine Illusionen.

  • "Uns?" Valerian schüttelte den Kopf. "Ich kann nicht jedem Straßenkind in der Stadt helfen. Ist eines von der Straße runter, kommen dafür zwei andere nach. Und wie willst Du Knirps mir denn helfen? Wobei?" Er blickte dem Jungen ernst in die Augen. Das Kind schien wirklich zu glauben, daß er auf dessen Wissen angewiesen war. Doch mit den Namen, die er nun kannte, würde er auch fündig werden. Auch wenn der Junge ihm nicht aufmalte, wo dieser Varius hauste.


    "Deine Freunde, wo würden sie hingehen, wenn dieser Varius nicht wäre?" So wie Valerian es sah, nützte es nichts, den Kerl einzukassieren. Sinnvoller war es, ihn unter Druck zu setzen, damit er den Jungen in Ruhe ließ. Außerdem konnte er sich als guter Informant erweisen.

  • Romaeus schob sichtlich enttäuscht, aber auch nachdenklich die Unterlippe vor, als Valerian verlauten ließ, daß er nicht jedem Straßenkind in der Stadt helfen könnte. Irgendwo hatte der Mann ja recht, auch wenn er selbst seine Worte nur auf sich und seine beiden Freunde bezogen hatte.
    Seine blauen Augen verengten sich leicht, während er den Blick des Erwachsenen erwiderte. Wieder stützte er das Kinn auf die Knie, überlegte, ob ihm außer Varius sonst noch jemand einfiel, zu dem sie gehen konnten.
    "Ich weiß nicht", meinte er schließlich mit einem hilflosen Schulterzucken. "Ingolf ist nicht mehr da. Wir haben nur noch ihn. Und wenn er nicht mehr da wär, dann - würden wir gegenseitig auf uns aufpassen." Das taten sie ja eigentlich jetzt schon. "Oder ich würd -", er zögerte einen Augenblick, überdachte das, was er sagen wollte, noch einmal. "Weggeh'n. Schau'n, ob ich irgendwo meine Eltern find' ... oder wen, der sie gekannt hat." Daß er bei einem solchen Unterfangen womöglich jahrelang durch die Gegend reiste, kam ihm dabei nicht wirklich in den Sinn. Doch ihm war durchaus klar, daß er keinerlei Anhaltspunkte hatte, ob sie überhaupt noch lebten, geschweige denn, wo sie lebten. Doch was verschwunden war, konnte jederzeit wiedergefunden werden. Manche Dinge tauchten wieder auf, wenn man eigentlich etwas ganz anderes suchte und für andere wieder brauchte man einfach nur sehr viel Geduld.


    So wie damals, als er die Pferdedecke mit ein paar kleinen Löchern auf der Müllhalde gefunden hatte. Der Winter hatte mit viel Schnee, aber schrecklich kalt angefangen, aber als er die Decke gefunden hatte, wurde das Wetter mit Schneeregen und sogar Eisregen noch viel schlimmer. Also hatte er trotz der Kälte vorher die große Decke genau zur richtigen Zeit gefunden, daß sie sich darunter verstecken konnten wie unter einem Zelt ...

  • Nur zu gern hätte sie gewusst, welche Pläne sich im Kopf ihres Mannes bildeten. Anscheinend hatte er schon irgendwie eine Lösung gefunden, wollte aber den Jungen zappeln lassen. Kurz biss sie sich auf die Unterlippe, der Junge tat ihr Leid und sie wollte ihm schon irgendwie helfen, aber Valerian hatte recht. Sie konnten nicht jedem einzelnem Straßenkind helfen. Das wäre eine endlose Aufgabe. Aber sie konnten versuchen dem Jungen und seinen Freunden zu helfen.


    Die Frage danach, was seine Freunde machen würden, wenn Varius nicht mehr da war, war wohl nicht so einfach zu beantworten. Anscheinend war dieser Mann wohl der Einzige der diesen Kindern so etwas wie Schutz bot. Doch der Preis war hoch, sie mussten stehlen und vielleicht sogar Schlimmeres. Dieses Leben wünschte sie niemandem.

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