Officium | Die Leiden des jungen Flavius

  • Das Bangen perpetuierte sich neuerlich, während der Medicus sein Auge in Augenschein nahm. Zugleich entfachte sich mit der zunehmenden Dauer der Examination eine gewisse Unrast, ein Sehnen nach Absolution von der Ungewissheit, selbst wenn mit ihr die Prophezeiung von Blindheit verbunden sein möchte.
    Dann aber erfolgte die Diagnose, welche neuerlich eher geeignet war, ihn zu konfundieren denn Gewissheit zu schenken. Eine Sehschwäche? Wie er in den Mythen der Griechen erfahren hatte, kam es bisweilen dazu, dass alte Menschen ihr Augenlicht einbüßten, doch warum dies bei einem Knaben der Fall sein mochte, erschloss sich ihm nicht. Darüber hinaus mochte es sich ihm nicht erschließen, inwieweit ein Edelstein ihm bei seiner Fehlsichtigkeit Linderung verschaffen sollte.
    "Aber ich kann kaum mehr lesen. Werde ich dann nie den Cursus Honorum beschreiten können?"
    fragte er daher, da eben jene Perspektive, die ihm als einzige Option erschien, sich der parentalen Liebe und Zuneigung als würdig zu erweisen und der Familie zur Ehre zu gereichen. Sollte dieser Weg indessen sich ihm schließen, so mochte es geradezu gleich sein, ob er sein Augenlicht letztlich verlor oder nicht.

  • Ein wenig enttäuscht ließ Gracchus seine Schultern ein Stück weit sinken. Eine allgemeine Sehschwäche war nichts, was mit irgendeinem medizinischen Mittel würde kuriert werden können, nichts, was mit der Zeit sich würde geben - vermutlich wohl eher gegenteilig - und auf die Hilfe der Götter vertraute Gracchus diesbezüglich längst nicht mehr. Sofern Minor ein geschliffener Edelstein würde helfen, sollte er diesen bekommen - und wenn es ein Diamant musste sein -, denn nichts würde zu teuer sein für seinen Sohn. Dennoch zweifelte auch Gracchus ein wenig an der Tauglichkeit Minors in Hinblick auf den Cursus Honorum, andererseits indes hatte er selbst diesen recht weit absolviert trotz all seiner Defizite, Mängel und Schwächen - wenn auch die Grundlagen dessen ohne Hindernis waren gelegt worden.
    "Es gibt immer eine Mögli'hkeit, Minimus."
    Politik, Briefe, Literatur - Minor würde lernen müssen, diese Gebiete zu erobern ohne sie lesen zu können, er würde lernen müssen, die Inhalte dessen alleine durch Zuhören schnell in sich aufzunehmen, und ob seiner Jugend würde dies ihm zweifelsohne noch leichter fallen als es bei Gracchus der Fall gewesen war, welcher es schlussendlich auch hatte lernen müssen.
    "Sofern dir noch eine Möglichkeit einfällt, an dieser Malaise etwas zu ändern, so lasse uns dies bitte jederzeit wissen"
    wandte der Vater sich an den Arzt.
    "Ansonsten danke ich dir für deine Mühe und werde mich in den kommenden Tagen erkenntli'h zeigen mit einem kleinen Präsent an die Taberna Medica."
    Welche es ganau war, das hatte Gracchus bereits wieder vergessen, doch ohnehin würde sein Vilicus dafür Sorge tragen.

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    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

  • Durchaus vermochten die beschwichtigenden Worte des Vaters die infantile Exasperation zu lindern, doch verblieb ein durchaus beachtlicher Rest von ihr und bedrückte das Gemüt des Knaben. Vielmehr erschien die Expertise des Medicus ein Grund zur Erleichterung zu sein, denn die gänzliche Erblindung hätte wohl jedweder Possibilität zum Erwerben von Ruhm für das Haus Flavia den Garaus gemacht. Dass auch jener unsägliche Nero, den auch Artaxias lediglich mit gesenkter Stimme erwähnte und dessen Extravaganz trotz der Damnatio Memoriae geradezu sprichwörtlich war, war für den jungen Flavius zwar einerseits eine erfreuliche Novität, die ihm offenbarte, dass man selbst die Bürde des Kaisertums zu tragen vermochte, wenn man an seinem Gebrechen laborierte, doch erweckte es zugleich die Furcht, in eben jene Insanität abzugleiten, welche diesen Princeps berühmt gemacht hatte.


    Dennoch beschloss er, diese Befürchtungen vorerst nicht zu äußern, sondern blickte auf den leicht verschwommenen Boden, wo er mit zusammengekniffenen Augen und größerer Mühsal doch zumindest das Muster zu erkennen befähigt war.

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