Officium | QFF et MFG

  • Am Abend des letzten Tages seiner Amtszeit als Praetor Urbanus trat Gracchus vor das Officium seines Großneffen Flaccus, in den Händen zwei Schriftstücke, welche eine Anklage und eine gerichtliche Ladung enthielten. Er hätte wahrlich einen angenehmeren Abschluss seiner Pflicht sich vorstellen können, doch obgleich ein Mann erwählen konnte, sich der Pflicht zu stellen oder nicht, so konnte er in ersterem Falle selten sich aussuchen, was genau auf ihn zukam. Ein Seufzen unterdrückend hob Gracchus seine Hand, kurz an der Türe anzuklopfen, ehedem er sie öffnete und eintrat.
    "Salve, Flaccus"
    , grüßte er seinen Verwandten und begann das Gespräch nicht erst mit belanglosen Nachfragen nach Befinden oder ähnlichem, sondern hob seine Linke, Flaccus damit die Schriftstücke entgegen.
    "Es wurde heute Anzeige gegen dich erstattet, ob deren ich dir eine Vorladung zu einer geri'htlichen Anhörung musste ausstellen. Ich habe dir eine Abschrift der Anzeige mitgebracht, dass du weißt, was auf dich zukommt. Deplorablerweise kann ich ob unseres ver..wandtschaftlichen Verhältnisses nicht selbt als Iudex fungieren, doch sofern du Hilfe jedweder Art benötigst, so stehe ich dir zur Verfügung."
    Gracchus wusste, dass Flaccus sich den iuristischen Studien eifrig gewidmet hatte, dass er vermutlich keines Advocatus würde bedürfen, wiewohl er ihm im entsprechenden Falle eher seinen Patron Tiberius würde anraten, doch in jedweder sonstiger Hinsicht würde Gracchus zweifelsohne hinter seinem Großneffen stehen.


    Quintus Flavius Flaccus, Villa Flavia, Roma



    M' Flavius Gracchus Praetor Urbanus Q Flavius Flaccus p.d.


    hiermit wirst du darüber in Kenntnis gesetzt, dass gegen dich eine Anzeige durch den Bürger Titus Duccius Vala eingereicht wurde. Dir wird vorgeworfen in deinem Namen ANTE DIEM III KAL IUN DCCCLXI A.U.C. (30.5.2011/108 n.Chr.) auf den Märkten Roms die Ware "Rohes Fleisch" zu einem Preis von 1.35 Sesterzen angeboten zu haben und damit 0.01 Sz unter den dem Betrieb zugrundegelegten Herstellungskosten, was gegen Lex Mercatus §4 Absatz 3 verstößt.


    Die erste Anhörung bezüglich dieser Causa findet öffentlich ANTE DIEM XVI KAL IUL DCCCLXI A.U.C. (16.6.2011/108 n.Chr.) in der Basilica Ulpia statt, zuständiger Iudex wird Senator Spurius Purgitius Macer sein. Du kannst dich selbst vertreten oder durch einen Advocatus vertreten lassen.



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    Anzeige des T. Duccius Vala gegen Q. Flavius Flaccus
    Eingang: ante diem III KAL IUN DCCCLXI A.U.C. (30.5.2011/108 n.Chr.).


    - - -


    Ad:
    Praetor Urbanus
    Basilica Ulpia


    Sei gegrüßt, geschätzter Prätor Urbanus,


    hiermit erstatte ich, Titus Duccius Vala, Bürger der Stadt Rom, gemäß Cod Iur §24 Anzeige gegen
    Quintus Flavius Flaccus


    Mein Vorwurf bezieht sich auf das im Namen des Q. Flavius Flaccus auf den Märkten der Stadt Rom vertriebene Angebot von "Rohem Fleisch" zu einem Preis von 1.35 Sesterzen. Damit werden die dem Betrieb zugrundegelegten Herstellungskosten um 0.01 Sz unterschritten, was nach den Marktgesetzen der Stadt Rom strafbar ist:


    Lex Mercatus §4 Absatz 3:
    Der Staat darf einen Betrieb mit einer Strafabgabe belegen, wenn er Waren zu einem Preis unterhalb der Herstellungskosten anbietet, um damit Mitbewerbern den Zutritt zum Markt zu erschweren.


    Das Angebot wurde am ANTE DIEM III KAL IUN DCCCLXI A.U.C. (30.5.2011/108 n.Chr.) auf den Märkten der Stadt Rom vertrieben.


    Ich bitte um eine Prüfung des Sachverhalts und um eine Aufnahme des Verfahrens.


    - - -


    unterschrieben und gesiegelt ante diem III KAL IUN DCCCLXI A.U.C. (30.5.2011/108 n.Chr.) durch Titus Duccius Vala, derzeit wohnhaft Casa Prudentia, Roma

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  • Am Abend, der milde und verbunden mit dem angenehmen Abklang der drückenden Hitze des Tages, über die Stadt hereingezogen war, fand man Flaccus, träge aufkeimender Sproß der göttlichen Dynastie der Flavier, beim warmen Licht zahlloser Öllämpchen über verschiedene Schriften gebeugt, in angestrengtem Studium vor. Ein kurzes Klopfen an der Tür riss ihn jäh, unerwartet und seiner zarten Schlichtheit zum Trotze doch mit grober Gewalt fort aus den endlosen Welten hinter den schwarzen Zeichen am Papyrus. Unbewusst eine aufrechte Haltung annehmend, als sein Blick den Eintretenden berührte, erhob er sich nach einem kurzen Augeblicke gänzlich zu seiner vollen Größe. Den knappen Gruß des Familiaren erwidernd, nahm er nun die entgegengestreckten Schrifstücke zur Kenntnis und ergriff sie zögernd. Die Zeilen überfliegend, sah der junge Flavier Gracchus' Worte bestätigt, machte dabei jedoch, der zweifellos ernsten Angelegenheit zum Trotze, einen durchaus vergnügten Eindruck. Die beiden Schreiben auf dem Schreibtisch platzierend, richtete er seinen Blick nun erneut auf jenen Mann, der, für ihn strahlendes Beispiel römischer Rechtschaffenheit abbildend, dennoch vermochte, ein subtiles Gefühl von Scham in der jugendlichen Brust zu wecken. "Danke. Doch ich denke, ich werde nun endlich die ersehnte Gelegenheit erhalten, meine iuristischen und rhetorischen Fähigkeiten in der Öffentlichkeit unter Beweis zu stellen. - Wenngleich sich dafür natürlich auch eine erfreulichere Gelegenheit hätte bieten können ..." Doch, in diesem Punkte den Strömungen der Stoa folgend, gestattete der Flavier es nicht, dass diese unangenehme Angelegenheit seine Laune beinträchtigen oder gar ein Gefühl des Trübsinns aufkeimen lassen sollte. Seinem Großonkel also eine Liege an einem kleineren Nebentische anbietend, nahm er selbst gegenüber Platz, um mit einem kleinen Wink verdünnten Wein kredenzen zu lassen. "Sag, wie geht es eigentlich der kleinen Flamma, ich habe sie nun doch bereits eine ganze Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen ..." Schließlich pflegten Kinder doch gerade in jüngstem Alter auf wahrhaft drastische Weise zu wachsen und heranzureifen, was nicht selten mit verschiedenen Unannehmlichkeiten einherging, die bisweilen gar den Charakter wahrer Krankheiten anzunehmen sich anschickten. Zwar hatte er nicht vernommen, dass die jüngste Flavia in einem derart betrüblichen Zustande sich im Moment befand, doch wollte er dennoch Gewissheit in dieser Angelegenheit erhalten, wenngleich er schon wenig Zeit fand, sich tatsächlich in exzessivem Ausmaße mit den jüngsten Mitgliedern der Familie zu beschäftigen.

  • Eine Augenblicke lang glaubte Gracchus gar, sein jüngerer Verwandter hätte die Anzeige willentlich provoziert, um vor einem Gericht sich profilieren zu können, doch Flaccus' Antlitz zeigte keine Spur von Schalk, wiewohl es gleichsam wohl mehr als töricht wäre, sich selbst in einem solchen Falle als Angeklagten auszuwählen, schlussendlich stand der junge Flavier nicht allzu fern von einer Karriere im Cursus Honorum, für welche eine Verurteilung - welche dies zweifelsohne musste zur Folge haben - keine sonderlich favorable Prämisse wäre, gleich wie marginal das Vergehen und die Strafe mochten sein. Dennoch beließ es Gracchus bei der Zustellung der Information, schlussendlich war es nicht an ihm, den Jüngeren zu tadeln, wiewohl er rückblickend auf seine eigenen Fehlbarkeiten bezüglich wirtschaftlicher Unterfangen in jungen Jahren kaum sich ein Urteil konnte erlauben - gegenteilig selbst ein Prozess initiiert durch einen Konkurrenten bei weitem nicht derart widrig würde enden wie jene Fehde, welche Gracchus damalig in unüberlegtem Überschwange seiner Jungend hatte sich erfochten. Den Gedanken daran - und an das grauenhafte Ableben seines geliebten ersten Sciurus - hastig vertreibend, mit einem flüchtigen Blicke auf die Schriftstücke auf Flaccus' Schreibtisch und einem leisen Anflug von Bedauern, dass diese Art des stillen Studiums ihm noch immer durch sein Unvermögen in konstantem Lesefluss zu verharren war verleidet, folgte Gracchus seinem Großneffen zu der Kline und ließ sich gemächlich darauf hernieder. Augenblicklich schien alle Last des Tages, alle Last der zurückliegenden Amtszeit - und auch alle kurzzeitig aufflackernden Gedanken an die Widrigkeiten des Lebens - von seinen Schultern abzufallen, dass er entspannt sich zurücklehnte und mit einem schmalen, zufriedenen Lächeln den angereichten Wein entgegen nahm. Jeglich stilles Behagen indes verpuffte mit Flaccus' Frage nach dem Befinden seiner Tochter.
    "Flamma?"
    fragte Gracchus im ersten Augenblicke ein wenig derangiert, beinahe als würde er diesen Namen niemandem zuordnen können, niemanden dieses Namens kennen, ehedem ein Flackern des Erinnerns sich auf seiner Miene zeigte.
    "Oh ja, sie ... sie befindet sich wohl."
    Im Grunde wusste Gracchus nichts über das Befinden seiner Tochter, denn während in den ersten Monaten nach Minors Geburt er täglich einen Vorwand hatte gefunden, an dessen Cubiculum vorbei zu gehen und bei dieser zufälligen Gelegenheit sich nach den Wohle seines Sohnes zu erkundigen oder gar einen Blick auf ihn zu werfen, so zeigte er wenig Interesse an seiner Tochter, hatte sie nun einige Tage bereits nicht mehr gesehen. Indes war er dessen sich sicher, dass ihm würde zugetragen werden, sofern sie nicht sich wohl befand, so dass er nur konnte widergeben, was ihm zuletzt war zugetragen worden.
    "Sie ist wohl noch ein wenig zierlich, doch zweifel..sohne wird sich dies geben. Ich erinnere mich, dass meine Schwester Minervina in den ersten Jahren ihres Lebens ebenfalls recht schmä'htig war, dies später jedoch noch sich wandelte."
    Mehr wusste er nicht zu berichten, denn auch von Antonia erfuhr er diesbezüglich wenig - viel lieber als über die Tochter sprachen sie über ihren Sohn -, wiewohl das Kind nicht unumsorgt blieb. Zwar hatten sie die Amme, welche für Titus war bestellt worden, wieder fort gesandt, doch an ihrer statt eine Sklavin aus der flavischen Zucht aus Baiae anreisen lassen. Es war dies ein junges Mädchen, allfällig sechzehn oder siebzehn Jahre alt, welches dem Versuche war entsprungen, einen Sklaven in siebenter Generation der familiären Zucht mit einer Sklavin in neunter Generation derselben zu kreuzen, was deplorablerweise ein wenig zu viel des homogenen Blutes war gewesen, denn mit jedem Jahre, welches das Mädchen hinter sich brachte, wurde deutlicher, dass ein unansehnlicher Buckel sich auf ihrem Rücken würde ausbilden. Indes war sie zum rechten Zeitpunkt der Geburt Flammas die einzige flavische Sklavin gewesen, welche selbst kurz zuvor ein Kind hatte geboren - ein ungeplantes Produkt mit einem niederen Stallsklaven aus vierter Generation der flavischen Zucht, welches ob der Mängel seiner Mutter und der unüberlegten Handlung seiner Zeugung alsbald beseitigt worden war -, und rechtzeitig in Rom war angekommen, dass ihr Milchfluss noch nicht war versiegt. Niemals hätte Gracchus gestattet, dass sein Sohn an der Brust eines solchen Wesens lag, doch in Hinblick auf seine Tochter genügte ihm, dass sie genährt wurde. Da er indes nichts über Flamma zu sprechen wusste, wiewohl im Grunde auch wenig Lust fand, überhaupt über sie zu sprechen, lenkte er das Gesprächsthema zurück auf die wichtigen Mitglieder der Familie.
    "Wenn es dir genehm ist, so werde ich gemeinsam mit Minor als Zuschauer zur deiner Anhörung erscheinen. Er hat während meiner Amtszeit seine juristischen Studien bereits ein wenig ver..tieft, doch möchte ich, dass er sich beständig weiter mit dieser Thematik beschäftigt."
    Er nahm einen Schluck aus seinem Glas und drehte es nachdenklich in der Linken.
    "Und wie geht es dir, Flaccus? Hast du bereits weitere Pläne deine Karriere be..treffend gefasst?"
    Selbstredend spielte Gracchus auf den Schritt in den Cursus Honorum an, auch wenn er dies nicht aussprach, wollte er doch Flaccus nicht zu solcherlei drängen, da unbezweifelt auch ein anderer Weg ihm vorerst würde dienlich sein können - insbesondere falls es tatsächlich zu einer Verurteilung sollte kommen.

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  • Die von ehrlichem Interesse und Sorge am Befinden seiner jüngeren Verwandten getragene Frage nach Flammas Befinden schien beim Vater kaum Resonanz zu finden, wiewohl er hernach doch das Wohlbefinden seiner Tochter bestätigen, schließlich gar noch eine Bemerkung über ihre zierliche Gestalt über die Lippen bringen konnte, wenngleich dieses Thema ihn offensichtlich kaum zu exaltieren vermochte. Sich dieses Umstandes allmählich bewusst werdend, beließ der Jüngere es schließlich bei einem flachen Nicken, um, den Worten seines Großonkels folgend, abermals zu jener sonderbaren Verhandlung zurückzukehren, die ihrer scheinbaren Bürde zum Trotz doch letzten Endes dieses Gespräch gleichsam initiiert hatte, folglich so unangenehm gar nicht sein konnte, und dessen Vorschlag, mit seinem Sohn daran zu partizipieren. Abermals freundlich nickend tat Flaccus seine Billigung kund. "Aber natürlich. Meine Apologie wird ihm wohl auch in rhetorischer Hinsicht durchaus lehrreich sein." In Gedanken schwebte ihm bereits eine flammende Rede vor, Frucht aller bisherigen Studien in diesem Gebiet. Betrüblicherweise würde nicht mehr genügend Zeit bleiben, sie noch vor der Verhandlung dem Athener Xenophanes vorzulegen, um dessen Rat und Feile schriftlich einzufordern, doch war er durchaus zuversichtlich auch in Ermangelung des Urteils dieses hochgelehrten Mannes eine wortgewaltige Rede zu verfassen. Lange jedoch schien Gracchus auch bei diesem Thema nicht sich aufhalten zu wollen, schlug er doch nach einer kurzen nachdenklichen Pause einen gedanklichen Pfad ein, der dem Jüngeren gleich willkommen war. "Ich werde zur nächsten Wahl antreten, und mich um das Amt eines monetalis bewerben. Natürlich wäre mir auch eine cooptatio in das Collegium der Epulonen eine Ehre, zumal mein tatkräftiger Einsatz bei der Vorbereitung des diesjährigen Fests der Dea Dia gewiss meine kultischen Kompetenzen zu untermauern vermag.", im vollen Bewusstsein, dass seinem Onkel zweifellos Mittel und Wege offenstanden, auf die Septemvirn in seinem Sinne einzuwirken, so lag eine solche parteiische Einflussnahme dem redlichen Wesen des Jüngeren nicht im Sinne, lief sie seinen Prinzipien doch zutiefst zuwider.

  • Hätte Gracchus in diesem Augenblicke bereits geahnt, welchen Ausmaß die Apologie seines jüngeren Verwandten tatsächlich würde annehmen, so hätte er zweifelsohne bereits zu diesem Zeitpunkt eine ausgiebige Betrachtung dieser forciert, so indes legte er die Thematik endgültig ad Acta, insbesondere auch, da die Aussicht auf Flaccus' ersten Schritt in den Cursus Honorum gleichsam bedeutsam war.
    "Du kannst dir selbst..redend meiner Unterstützung deiner Kandidatur sicher sein, wiewohl du in der Wahl deines Patrones, als auch deines Mentors für das Tirocinium Fori bereits großes Geschick bewiesen hast, was dir für deine ersten Schritte in die imperiale Politik nur zugute kommen wird."
    Tatsächlich sah Gracchus bei jenen Männern - Tiberius Durus und Purgitius Macer - weitaus mehr Potential die Wahl günstig zu beeinflussen als bei sich selbst, nicht einzig da sie bereits Consulare waren, sondern da er seinen eigenen Einfluss als recht unbedeutend wertete - zumeist auch nur wenig daran interessiert war, dies allzu weit zu ändern. Er hob seine Linke und begann unbewusst damit an seiner Unterlippe zu kneten, ehedem er fortfuhr.
    "Die Berufung in das Collegium der Septemviri ist ebenfalls eine sehr gute Idee, wiewohl wir dies noch vor der Wahl anstreben sollten - ein kultisches Amt ist stets eine gute Grundlage für eine Kandidatur, zeigt es doch Traditionsver..bundenheit und Engagement. Meines Wissens nach ist noch immer ein Platz bei den Epulonen frei, wenn es nicht gar zwei sind - es ist wahrlich deplorabel, beinahe eine Schande, wie schwer es ist, die Sitze in den kultischen Collegien in der heutigen Zeit zu füllen. Ich werde dem Magister eine Na'hricht zukommen lassen, so dass du dich vorstellen kannst. Die Kooptation sollte hernach nurmehr eine Formalität sein."
    Obgleich es Flaccus allfällig nicht darauf anlegte, dass sein Verwandten für ihn Einfluss nahmen, so war es für Gracchus selbstverständlich, dass er dies in diesem Falle tat - nicht etwa, weil ein verwandtschaftliches Verhältnis sie beide verband, sondern da er einerseits überzeugt war, dass ein kultisches Amt jedem jungen Flavier gut zu Gesichte stand, wiewohl auch davon, dass Flaccus diese Pflicht mit Eifer und Elan würde ausfüllen.

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  • Glücklicherweise beließ Gracchus, jener exzellente Römer, welcher in den Augen seines jüngeren Verwandten in der Zeit ihrer Bekanntschaft immer mehr zu einem gleichsam strahlenden Leitbild edler Gesinnung und rechtschaffenen Verhaltens herangewachsen war, und dessen übermächtige Integrität stets ein etwas beklemmendes Gefühl der Minderwertigkeit in Flaccus aufkeimen ließ, es dabei, die Ankündigung der Apologie ohne weitere Reaktionen zur Kenntnis zu nehmen, während er es sichtlich vorzog, dieses in seinen Augen gewiss für die gesamte gens etwas beschämende Thema der Anklage nun endgültig ruhen zu lassen. Die jedoch bereits im gleichen Augenblick versicherte Unterstützung der Kandidatur, ließ im jüngeren Flavius wenigstens den Funken der Hoffnung entflammen, dass jenes hässliche Mal der Anklage, welches er dem ansonsten so vielversprechenden Wesen seines Neffen nun zweifellos eingeprägt sah, Gracchus doch nicht zu veranlassen vermochte, die starken Taue verwandschaftlicher Zuneigung gänzlich zu kappen. Und so fühlte er sich auch ermutigt, im Grunde beinahe genötigt, jenes politische Geschick, welches Gracchus ihm ob der Wahl seines Patrons und des Mentors in gütiger Weise zurechnen wollte, in aufrechter Bescheidenheit, innerlich beschämt, von sich zu weisen. "Dieser Umstand ist allein Pisos Verdienst. Er war es, der die beiden Männer vorgeschlagen, er auch, der mich ihnen bekannt gemacht hat.", erklärte der junge Mann, und beobachtete etwas befremdet jenen scheinbar gedankenverlorenen gestus des Onkels, in welchem jener seine Linke hob, um damit die Lippe zu kneten, ohne daraus jedoch so recht schlau zu werden. War es Desinteresse, gar Enttäuschung ob des Unvermögens seines jüngeren Verwandten, dem hehren eigenen Wesen nachzueifern? Doch abermals bildeten Gracchus' Worte einen schroffen Gegensatz zu jener Vorstellung, die der Jüngere insgeheim getroffen hatte, jenem strengen beinahe väterlichen Tadel, den er im Grunde erwartete. Vielmehr versprach Gracchus auch in dieser Angelegenheit seinem Neffen aufrichtige Unterstützung, erklärte sich gar bereit, dem Magister der Epulonen selbst eine betreffende Nachricht zukommen zu lassen. Dankbar senkte Flaccus kurz den Kopf, ehe er antwortete. "Ich danke dir. Es wäre mir eine angenehme Freude, vor dem collegium sprechen zu dürfen.", erklärte er dann und sah den Augenblick gekommen, einen gewissen Punkt aus den Worten seines Onkels aufzugreifen, da er ihm selbst am Herzen lag. "Der Umstand des schwindenden Interesses für die höchsten Kollegien selbst, ja auch der mangelnde Eifer, mit dem so mancher Kult, der von den Ahnen einst treu gepflegt wurde, nun schändlich vernachlässigt wird, zeugt gewiss von einem allgemeinen Verfall der rechtschaffenen Sitten, welchen ich seit meiner Ankunft in Rom täglich aufs Neue beobachte." Die Erfüllung kultischer Ämter mochte dem opportunistischen Streben der jungen Politiker zuwider laufen, doch schien der Verfall des mos maiorum von einer gewissen Person in Rom nicht nur toleriert, sondern vielmehr mit aller Kraft forciert zu werden.

  • Hätte Gracchus geahnt, welch eine Auffassung sein Großneffe von seiner Person hatte, er hätte wohl über Tage hinweg dem Erstaunen verfallen müssen, wiewohl dem Sinnieren darüber, welche ihm wohlgesonnene Gottheit diese schillernde, doch täuschende Hülle um ihn mochte halten, um all die Makel seines wahren Charakters zu verbergen; so indes waren solche Gedanken ihm fern, zerrte nichts an dem unzulänglichen Bildnis, welches er von sich selbst hatte, ließ kein Zweifel sein Weltbild ins Wanken geraten. Stattdessen legte ein schmales Schmunzeln sich um seine Lippen bei Flaccus' korrigierendem Hinweis, dass Piso für dessen favorable Verbindungen hatte Sorge getragen, kommentierte dies jedoch nicht weiter, sondern nahm sich vor, eben jenen bei geeigneter Gelegenheit darauf anzusprechen. Die nachfolgende Causa indes über die rechtschaffenen Sitten war ein durchaus ernsthaftes Thema, ob dessen Gracchus neuerlich nachdenklich seine Unterlippe knetete, ehedem er die Hand sinken ließ und bedächtig antwortete.
    "Ich fürchte, dieser Eindruck trügt, Flaccus. Als ich vor Jahren, etwa in jenem Alter wie du selbst, aus Achaia nach Rom zurückkehrte, glaubte auch ich, dass hier, im Herzen des Imperium Romanum, den Mores Maiorum der hö'hste Stellenwert überhaupt würde zukommen, denn wo sonst, wenn nicht hier? Zu jeder Gelegenheit erwartete ich bestätigt ein Abbild der Tugenden zu finden, welche über die Jahre hinweg in mir selbst hatten reifen sollen, welche hier in Person der Senatoren, der Kultmänner und hohen Beamten, ja aller Einwohner dieser prächtigsten aller Städte, dieser römischsten aller Städte zweifels..ohne in ihrer Perfektion mussten existieren - denn wo sonst, wenn nicht hier?"
    Er ließ eine kurze Pause folgen, in welcher die Frage nachhallte, welcher in der idealisierten Vorstellung der Jugend doch eigentlich nur eine einzige Antwort konnte folgen - die tatsächlich jedoch nur wenig der Wahrheit entsprach.
    "Ich fand sie nur selten, diese Tugenden, selten nur einen Schimmer davon, vermutete darob ident zu deiner Annahme alsbald zu jeder Gelegenheit den Verfall der re'htschaffenen Sitten, den Niedergang der alten Traditionen und Werte."
    Noch einmal pausierte Gracchus kurz, war doch die Wahrheit niederschmetternd, und einen Augenblick zögerte er, seinen jungen Verwandten damit zu desillusionieren. Doch letztlich würde auch Flaccus dies einsehen müssen, so er nicht beschloss dieser Welt zu entfliehen.
    "Heute indes glaube ich nicht mehr daran, dass diese Tugenden, diese Sitten und Werte je als die Wirkli'hkeit existierten, in welcher wir sie uns ersehnen. Wir neigen dazu die Vergangenheit zu verklären, insbesondere jene, welche wir selbst nicht erlebt haben, doch oftmals auch unsere eigene - dies ist wohl Teil des Menschseins, dass positive Geschehnisse und Be..gebenheiten uns weit intensiver verhaftet bleiben als negative, auf dass wir nicht an unserem Leben verzweifeln müssen, gleich wie widrig es auch sein mag. Wir loben also jene alten Zeiten, von welchen wir glauben, dass die Mores Maiorum dort einen jeden Tag be..stimmten, da uns doch die übrigen Tage nicht überliefert sind, sehnen uns zurück nach jenen hundert Männern, deren hehre Ansichten und Taten tradiert sind, ohne uns dessen bewusst zu sein, dass ihnen abertausende andere, bisweilen gegenteilige Attitüden gegenüber standen - und da wir in unserer eigenen Zeit jene idealisierte Vergangenheit wie unser eigenes Ideal als Normalität era'hten, jedoch beständig mit konträrem Geschehen konfrontiert werden, glauben wir also, dass unsere Werte sukzessive verfallen. Ich kann dir jedoch versichern, dass zumindest in den letzten zwanzig Jahren sich in Rom wenig geändert hat - es gab und gibt Männer, welche überaus integer sind, tugendhaft und vorbildlich, es gab und gibt Männer - der wohl überwiegende Anteil -, welche der alltägli'hen Notwendigkeit sich anpassen, die zumeist veritabel, bisweilen auch tugendhaft sind, bisweilen wiederum nicht, und es gab und gibt Männer, welche stets zu allen Gelegenheiten die Grenzen von Anstand und Moral mit Füßen treten."
    Ein leises Seufzen echappierte seiner Kehle.
    "Derzeit erscheint der Niedergang rechtschaffener Sitten, darunter auch des kultischen Ver..antwortungsgefühles allfällig nur deshalb so präsent, da der Imperator, wie auch der Praefectus Urbi nur wenig um dieses Causae sich bemühen, und von wem sonst würde man dies am ehesten noch erwarten, wenn nicht von diesen?"
    Auch diese Frage ließ er unbeantwortet, Flaccus dennoch ein wenig Auftrieb zu verschaffen nach dieser trüben Betrachtung römischer Realität.
    "Denno'h ist dies indes kein Grund, sich abzuwenden von jenen Idealen, an welche du glaubst, denn nur in dem beständigen Versuch, dem Ideal nahe zu kommen, ist es überhaupt möglich, dem Ideal nahe zu kommen - und von wem könntest du dies verlangen, wenn nicht von dir selbst?"
    Ein sublimes Lächeln umschmeichelte seine Lippen während Gracchus nach dem Wein griff, um seine Kehle nach diesen ernsthaften Worten mit einem Schluck des köstlichen Rebensaftes zu befeuchten.

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  • Gebannt hing der jüngere Flavius an den Lippen seines Verwandten, als Gracchus begann, seine etwas konträre Sicht der Dinge bedachtsam kundzutun. Nickend folgte er den Worten in stillem Einverständnis, waren doch seine eigenen Hoffnungen vor der Ankunft in der Stadt durchaus ähnlicher Natur gewesen. Doch je weiter Gracchus fortfuhr, umso höher türmten sich seine Worte gleich dem spannungsvollen Bogen in der griechischen Tragödie auf, um sichtlich einem unvermeidlichen Fall, einer zerschmetternden Wandlung zuzustreben. In einer kurzen Pause suchte Flaccus die Augen seines Onkels zu treffen, ehe jener, nach diesem gleichsam retardierenden Moment seiner Ausführungen, jenes zuvor spannungsvoll und wortreich aufgetürmte Konstrukt an Überlegungen mit einem Schlage zu Boden stürzen ließ. Mit ernster Miene und hartem Blick hörte der junge Flavius weiter zu und versuchte, langsam in eine etwas lockerere Grundhaltung zurückzukehren, hatten sich doch die Muskeln seines Körpers durch die Spannung der vorangegangenen Worte selbst unmerklich verkrampft, um sich nun, vorsichtig und langsam nur, wieder zu entspannen. Schließlich fand Gracchus aber ein beinahe tröstliches, wenigstens jedoch ermunterndes conclusium seiner doch von beträchtlicher Ernsthaftigkeit gezeichneten Ausführungen und ließ Flaccus in einem grübelnden Zustand zurück, wollte jener die pessimistischen Worte seines Onkels doch schon aus Prinzip nicht einfach so hinnehmen, wenngleich ihm im Moment auch nichts in den Sinn kommen wollte, um der Erfahrung und auctoritas des Älteren ernsthaft etwas entgegenzusetzen. So blickte er Gracchus schlicht einige Momente versonnen an, ehe auch er einen Schluck des Weines nahm, welcher ihm zwar nicht die Erleuchtung in der vorangegangenen Problematik, wohl aber einen zweifellos interessanten Einwand schenkte.
    „Aber haben nicht auch die größten Dichter und Philosophen von einem unaufhörlichen Niedergang der Sitten gesprochen? Beschreibt nicht schon Hesíodos ein chrýseon génos in seinen Érga kaì hemérai, dem stets minderwertigere Geschlechter folgen? Und hat nicht auch Empedoklês steten Verfall beschrieben, der bis zu einem Zustand vollkommener Zwietracht führen muss? Und Platon, Aristoteles, die Kyniker, Aratos von Soloi in seinen phainómena und dann Vergilius Maro, Albius Tibullus, Horatius Flaccus und Ovidius Naso … sie haben doch alle diese Idee aufgegriffen und als bewahrheitet angesehen…“, glaubte Flaccus nun doch einiges an literarischer Autorität hinter seine persönliche Meinung zum allgemeinen Verfall der Sitten gestellt zu haben. Zweifellos hatte der junge Flavius einen unbeirrbaren Hang dazu, die Vergangenheit zu verklären, wobei er gerade die römische Republik in ihrer Glanzzeit als den idealen Zustand eines Staates ansah, in dem der mos maiorum fest verwurzelt war, und die Errungenschaften der Zivilisation sich mit hehren Tugenden glücklich vereinten.

  • Einige Augenblicke ließ Gracchus die Worte des Jüngeren sich durch den Kopf gehen, zweifelsohne nicht bereit vorschnell den Ansichten großer Philosophen zu widersprechen, welchen er selbst nur allzu gerne reichlich wahrhaftiges Verständnis der Welt zugestand, doch letztlich kam er nicht umhin, an eben diesem Aspekt zu zweifeln.
    "So scheinen die größten Dichter und Philosophen mir augenscheinli'h ebenfalls nur Menschen, welche eben diesem Trugschluss verhaftet sein mögen. Denn ist es nicht so, dass wir längst in einem Sumpf ohne Moral und ohne Ideale müssten leben, in eben dem Zustand voll..kommener Zwietracht, wenn seit den Zeiten Hesíodos' und Empedoklês' die Werte der Menschheit beständig nurmehr im Verfall wären inbegriffen, auf Rom bezogen spätestens jedo'h seit Vergilius, Albius, Horatius und Ovidius? Wenn es die Wahrheit ist, wie kann dann in diesen Tagen an Sitten auch nur das geringste Konstituens übrig sein?"
    Obgleich es durchaus mehr Moral und Sitte in Rom mochte geben können, obgleich es davon genau genommen niemals würde zuviel geben können, so war in der Gegenwart solcherlei doch nicht gänzlich absent.
    "Ich vermute indes, dies ist vielmehr ein Kunstgriff der Dichter und Philosophen, um uns zum Einhalten der Sitten anzuhalten, uns zu bestreben diesem vermeintli'hen Verfall nicht nur entgegen zu wirken, sondern gegenteilig gar zu versuchen, den Idealen genüge zu tun. Den Idealzustand mag es vielleicht niemals gegeben haben, doch ebenso wenig leben wir in einer gänzlich verfallenen Welt. Doch mit der in unsere Gedanken injizierten kollektiven Reminiszenz an die früheren, tugendhaften Zeiten, versu'hen zumindest einige, diese Welt wieder besser zu machen - tatsächlich aber also mehr als je zuvor dem Ideal anzunähern. So ist es womöglich letztlich gar der Verdienst der Philosophen, dass dies Gegengewicht an Tugend beständig weiter existiert und diese Welt nicht versinkt in Wirrnis und Zerfall - weshalb ihnen der Trug über die hehre Vergangenheit zweifels..ohne nachgesehen werden kann."

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  • Konzentriert versuchte Flaccus den Worten des Älteren zu folgen, seiner Sicht der Dinge nachzuspüren, welche als gänzlich konträr zu der eigenen sich offenbaren sollte. Nachdenklich schüttelte er den Kopf, war nicht willig, die Meinung des Onkels ohne Widerworte im Raume stehen zu lassen, als dessen Stimme sich zu einer Frage erhob. Doch ehedem das erste Wort des Widerspruchs die Lippen des Flavius verlassen konnte, welches zu entgegnen trachtete, dass die Zeitspanne von Vergilius' oder Horazens Tod bis in die gegenwärtigen Tage doch als unbedeutend gering angesehen werden konnte, verglichen mit den unendlich längeren aetates, welche etwa Ovidius Naso ersonnen hatte, fuhr Gracchus fort, die Lehre der Philosophen vielmehr als Mittel zum Zweck einer sittlichen Gesellschaft, denn ein tatsächliches Phänomen zu deklarieren. Erst als der Gedankenbogen des Gracchen endgültig zu Ende gesponnen, besann sich der Jüngling einen Moment, um zu erwidern. "Ich denke, das gegenwärtige Zeitalter ist keineswegs bereits das Ende der von den Philosophen angedachten Entwicklung, denn durchaus durchwandeln noch edle Männer diese Welt und strecken die hehren Zeichen der Tugend und Sittlichkeit kühn gen Himmel. Und doch mindert sich ihre Zahl beständig, sodass sich nun einzelne Streiter der Moral einer allgemeinen Empfindung der Gleichgültigkeit entgegengesetzt sehen, wo früher ganze Geschlechter und Völker für Anstand und Sitte stritten. Zudem setzt doch deine Überlegung, jene unsterblichen Werke der Dichter und Philosophen als bloße Werkzeuge der Moral zu betrachten, welche uns zum Einhalten der Sitten bewegen sollen, voraus, dass es eben nicht in unserer Natur liegt, an ihnen festzuhalten, sondern uns beständig davon zu entfernen, weshalb es jener Werke bedarf, um uns wieder den alten Sitten zuzuwenden." Die Notwendigkeit solcher Werke und ihres Konzepts ließ sich schließlich nur durch einen allgemeinen Verfall der Sitten erklären.

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