Ein einfaches Gästezimmer mit zwei Betten, einem kleinen Tisch, zwei Stühlen und einer Kleidertruhe, welches Manius Flavius Gracchus - zum Zeitpunkt ihrer Ankunft noch Senator und Pontifex Roms - und dessen Sohn Manius Flavius Gracchus Minor nach dem Ende ihrer Flucht aus Rom als vorübergehende Zuflucht dient.
Cubiculum | Manius Flavius Gracchus et Manius Flavius Gracchus Minor
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Einige Tage nach ihrer Ankunft fühlte Gracchus sich einem Löwen in einem Käfig gleich. Da Ursus ihn hatte gebeten, sich vorerst auch innerhalb des Castellums bedeckt zu halten, verbrachten Minor und er die meiste Zeit in ihrem Gästezimmer, sofern er nicht kurz nach seinem Neffen Flaccus sah, welcher noch immer fiebrig darnieder lag. Seit Gracchus jedoch die Mitteilung hatte erhalten, dass Flaccus' und sein Name auf einer Proskriptionsliste des Vescularius standen, war er vollends verzagt, war sein Geist in einen endlosen Abgrund hinab gefallen, welcher tiefer war als jeder Schlund, welchen er je hatte durchschritten - und selbst die Nachricht, dass der Vescularier sich letztlich tatsächlich hatte zum Kaiser ausrufen lassen, konnte nicht mehr dafür Sorge tragen, dass seine Gedanken sich zurück in die Gegenwart kehrten, sich darüber echauffierten und mit dem weiteren, notwendigen Vorgehen mochten befassten. Hatte er geglaubt der Anlass zur Flucht und die Art ihrer Durchführung wären bereits die schlimmste Schmach gewesen, welche ihn und seine Familie je hätte treffen können, so war durch die Proskription letztlich alles zunichte gemacht, was ihn je hatte definiert. Sein gesamtes Leben, seine Herkunft, seine Existenz, seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - alles, was er je getan, je erreicht hatte - mit einem Schlag, mit wenigen Worten zerstört, nicht nur der Kompromittierung preisgegeben, sondern gänzlich ad absurdum geführt - sein Leben nicht nur vor den Anhängern des Vescularius seiner Berechtigung entzogen und durch jene in Gefahr, sondern vor und durch jeden einzelnen Bürger des Imperium Romanum, der seinen Kopf für einen geradezu lächerlichen Preis dem Imperator würde eintauschen können. Nicht einmal Minor beachtete Gracchus noch viel, hatte ihm auf seine drängenden Fragen hin schon in den ersten Tagen - als zwar die Last der Flucht von ihm war abgefallen, die Konsequenzen dieser jedoch überdeutlich hatten über ihnen gedräut - mit harschen Worten jede weitere Frage untersagt, und seit dem Wissen um die Proskriptionsliste traf Minor immer öfter unverdient der Zorn und die Wut, die in Gracchus vor sich hin brodelten, welche nicht zuletzt dadurch in ihm empor kochten, da er nicht wusste, was er tun sollte, nicht wusste, wie er seinem Sohn noch in die Augen sollte blicken in dem Wissen, dessen Leben, dessen Existenz ebenfalls verwirkt zu haben. Um nur irgendetwas zu tun, zumindest seinen Sohn ein wenig abzulenken und grübelnde Fragen in diesem zu unterbinden hatte der Vater schließlich einen der Sklaven um ein duodecim scripta gebeten, doch da er in Gedanken stets an anderen Orten oder Zeiten weilte und darob überaus unkonzentriert war, verlor er die meisten Spiele. Am Ende einer solchen Partie, während der Gracchus wieder einmal in einer geradezu endlos sich wiederholenden Schleife über die Kompromittierung und Verluste hatte sinniert, welche der Vescularier von Beginn seines Auftauchens in Rom an hatte über die flavische Familie gebreitet, war der Zorn in ihm derart angewachsen, dass er sich zwangsläufig in einem Ausbruch musste materialisieren, um seine Sinne nicht mehr noch dem Wahn anheimfallen zu lassen.
"Was bist du eine ab..surde Aberration?!"
blaffte er seinen Sohn in ungewohnt feindseliger Art und Weise an, das Antlitz wutentbrannt verzerrt während er ruckartig sich erhob.
"Wie kannst du nur immer gewinnen obglei'h du dazu verdammt bist, alles zu ver..lieren!?"
Dass letztlich - gänzlich ungeachtet ihrer Fähigkeiten - bei zwei Spielern immer einer würde gewinnen müssen, selbst wenn sie durch das Schicksal bestimmte Verlierer mochten sein, gelangte Gracchus nicht in die vor Ingrimm vernebelten Sinne. Er kam um den kleinen Tisch herum, an welchem sie gespielt hatten, und zerrte Minor grob auf die Beine. Mit der Linken hielt er den Jungen am Arm fest, während er mit der rechten Hand an seinen Hals fuhr und das Lederband unter Minors Tunika hervorzerrte, an welchem die Bulla hing - das einzige Gut, welches Minor von seiner persönlichen Habe aus Rom hatte auf ihrer Flucht mitnehmen können - einzig darum, da niemand daran hatte gedacht, ihn aufzufordern, sie abzulegen, um nicht seinen Status als Bürger zu verraten.
"Es wird Zeit, dass du erwa'hsen wirst!"
Mit einem Ruck suchte er das Amulett vom Hals seines Sohnes zu reißen, doch die Kraft in seiner Rechten reichte nicht aus, dass das dicke Lederband riss, sondern nur in Minors Haut schnitt. Wutentbrannt ließ Gracchus die Bulla zurück gegen Minors Brust schlagen, ließ ab von seinem Sohn, schlug stattdessen seine geballte Faust gegen die Wand, ließ sie dort verharren, biss seine Kiefer aufeinander, schloss seine Augen und suchte das leise Zittern in sich hinab zu kämpfen, welches von seinem gesamten Leib hatte Besitz ergriffen. In der Dunkelheit hinter seinem Selbst konnte Gracchus die klirrende Spiegelung seines Gesichtes sehen, konnte das vexierende Rauschen seines Blutes hören, die torquieren Agonie seiner Seele spüren, perzipieren, wie sukzessive sein Verstand in kleinen, mauvefarbenen Tropfen aus seinem Leibe rann und im schlammigen Urgrund der Insania versank. Nicht Minor war die Aberration - er einzig und allein war der Quell allen Unbills. -
Obschon die Ankunft im Castellum dem Knaben freudige Perspektiven interessanter Explorationen eröffnet hatte, waren die folgenden Tage zu einer weitaus bittereren Enttäuschung geworden, als er in seinen kühnsten Träumen zu erwarten gewagt hatte. Zwar vermochte er seinen Leib von den Strapazen der Flucht zu rekonvaleszieren, doch emotional wie intellektuell übertraf die Isolation jene der vergangenen Tage beiweitem. Manius Maior gerierte sich abweisender und inquieter denn je, verweigerte jedweden Dialog und strafte damit seine eigenen Worte, in Mantua jenes lückenhafte Bild der wahren Umstände zu ergänzen, Lügen. Indes wagte Manius Minor es seinerseits kaum, sein Recht einzufordern ob der Tatsache, dass er mit brennender Sorge die Unrast seines Vaters zu beobachten gezwungen war, weshalb er neuerlich auf die bewährte Strategie, jedwede Regung seiner Emotionen in seinem Ínnersten zu begraben, zurückgriff.
Auch die parentale Intervention, sich die Tage der Gefangenschaft durch Spiel zu verkürzen, nahm er klaglos hin und verspürte gar eine gewisse Freude daran, als Fortuna ihr Haupt ihm zuwandte und nicht dem bedauerlich erscheinenden Vater, als er nahezu jedes Spiel für sich entscheiden konnte, obschon es ihm kaum möglich war, die Worte des Spielbrettes zu entziffern.
All jene Zuversicht schwand jedoch an jenem Tage, als sein Vater unvermittelt die Beherrschung verlor und seinen eigenen Sohn mit harschester Kritik übergoss. Niemals hatte sich eine derartige Ungnädigkeit an ihm entladen, mitnichten vermochte er dies geeignet einzuordnen, sondern begann sofort, die Schuld an diesem unerklärlichen Geschehen nicht seinem geliebten Vater, dessen Verhalten mitnichten seiner Natur entsprach, sondern sich selbst zu attribuieren, gar seine Triumphe im Spiele als ihre Ursache zu identifizieren und sich des impertinenten, fehlenden Verzichtes auf bewusst herbeigeführte Niederlagen zu schelten. Weitere Reflexionen waren ihm indessen nicht möglich, denn schon sprang Manius Maior ihn an, was den Knaben ebenfalls zu ruckartigem Erheben veranlasste und rückwärtig stolpern ließ, während auch schon neue Injurien auf ihn eindrangen, seine Gewissheit des parentalen Vetrauens in ihn und seine Kapazitäten mit einem Paukenschlag zerschlugen und seine Gefühle der Defizität weiter anheizten. Als er endlich gar in manischem Wahn an seiner Bulla sich vergriff, stürzte der Ruck den Knaben beinahe zu Boden, was lediglich durch das ebenso unvermittelte Ablassen gerettet wurde.
Dennoch war mitnichten die Wirkung der Attacke kassiert, vielmehr stürzte sie weiterhin den jungen Flavius in arge Bedrängnis und arge Konfusion, wie all dies einzuordnen wäre. Mit einem weiteren Schritt hatte er die von seinem zu einem beängstigenden Ungestüm herangewachsenen Vater gegenüberliegende und damit weitest entfernte Wand erreicht, wo er niedersank und seine Augen sich mit Tränen füllten. Bar jeden Mutes kauerte er so und hoffte, der parentale Zorn möge so rasch passieren, wie er aufgekommen war, ihm nicht seinen letzten Quell der Liebe und des Vetrauens rauben. Die Frage nach einer geeigneten Gottheit kam ihm in den Sinn, welcher in derartigen Situationen ihm Trost zu spenden willig war, doch nichts mochte ihm diesbezüglich vor dem Geiste erscheinen, sodass er gefangen blieb in seiner misslichen Lage, die Tränen der Furcht auf den Wangen spürend und den verschwommenen Schemen seines wütenden Vaters zu fixieren, in welchem nun in gewissem Maße wieder etwas Ruhe einzukehren schien.
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Aus dem fließenden Rauschen in seinen Ohren formte ein Rascheln und Knistern sich mit welchem in feine Staubkörner zermahlen die Mauern seines Gedankengebäudes um ihn her einstürzten, unendlich gedehnt, unendlich langsam, dass er jeden einzelnen Gedanken davon konnte blicken, in Erinnerungen unifizieren, in Absichten und Träume, in Hoffnungen und Erkenntnisse - und es schien Gracchus nur recht, dass mit Annullierung seiner extrinsischen Existenz auch sein Innerstes müsste sich selbst zersetzen. Wie oft schon hatte er sich verloren geglaubt, wie oft um sich her nurmehr desolate Leere apperzipieren können, wie oft sich in den tiefsten Abgrund des Lebens blickend gewähnt - wie oft doch hatte er sich geirrt, wie lächerlich waren all diese Gelegenheiten gewesen im Angesichte dessen, was nun vor ihm lag. Die Wahrheit, das Imperium und seine Familie - dies waren stets die drei obersten Maximen gewesen, welchen er die Treue hatte gehalten, doch geblieben war ihm nichts. Die Wahrheit - dass er maßgeblich am Tode des Imperator Ceasar Augustus Valerianus war beteiligt gewesen - würde auf ewig verdammt sein zu schweigen, würde zu einer Lüge gekehrt als Faktum über ihm dräuen dem Schwert des Damokles gleich; das Imperium war - durch die wahren Begebenheiten seiner eigenen Beteiligung - in die Hände eines Wahnsinnigen gefallen, hatte sich umkehrt wie die Wahrheit zur Lüge, war ein Zerrspiegel seiner selbst geworden, eine bloße Farce, in welcher er und alles, an was er je hatte geglaubt, keinen Platz, keine Berechtigung mehr kannte; seine Familie indes hatte er gleichwohl der Existenzlosigkeit, der Verdammnis preisgegeben, dass letztlich er kein Recht mehr dazu hatte, sie noch als die seine zu fordern. Das größte Übel indes erwuchs aus der Ahnungslosigkeit, welche in ihm vorherrschte, der gefühlten Machtlosigkeit gegenüber den Geschehnissen, welche ihn letztlich gnadenlos hatten überrollt, dass nichts ihm blieb als dem Prometheus gleich verdammt in der trostlosesten Einöde machtlos dem Adler entgegen zu blicken, welcher in fortwährender Iteration seinen Leib fraß - welcher indes divergent zu der Leber des Prometheus nicht wieder sich erneuerte, sondern allmählich in Bedeutungslosigkeit schwand - denn wer würde noch ihn vermissen, wer sich seines Namens in Bedauern erinnern? Ein leises Schniefen durchdrang das egozentrische Bad in seiner wahnhaften Verzweiflung, welches nicht seinem Inneren, sondern der Welt um ihn her entstammte, ihm mit aller Deutlichkeit an jene Pflichten mahnte, welche ihm einst waren zu eigen gewesen, und Scham verdrängte augenblicklich die Desperation aus seinen Sinnen über die Unbeherrschtheit, welche er seinem Sohn hatte entgegen geschleudert, dem einzigen Halt, welcher ihm noch geblieben war.
"Ver..zeihe mir, Minimus."
Es war beinahe nur ein Flüstern, eine Ansammlung ausgezehrter, tonloser Laute, welche an der Wand vor Gracchus' Miene sich brachen, leise in den kleinen Raum hinein sich verteilten, allfällig bis zu Minors Gehör, allfällig davor längst schon verklungen. Es wurde wahrlich Zeit, dass Minor erwachsen wurde - kein Kind sollte all dies ertragen, sollte all dies tragen müssen auf seinen Schultern -, doch nicht indem der Vater seiner Bulla ihn gewaltsam beraubte, sondern ihn einweihte in das Geschehen, welches längst von ihm hatte Besitz ergriffen, in welches er längst involviert und eingeschlossen war. Ein Seufzen echappierte Gracchus' Kehle, ehedem seine Stirne sich löste von der kühlen Mauer, er langsam sich umwandte. Minor kauerte am Boden, einem geschlagenen Hund gleich, und ein wenig erinnerte die Haltung Gracchus an seinen Löwen, welcher bei seinen wenigen Besuchen im Ludus Matutinus stets nur den verkrümmten, verkümmerten Leib an eine Mauer gepresst vor sich hin hatte gestarrt. Langsam trat er einige Schritte auf seinen Sohn zu, glaubte dabei ein zurückweichendes Zucken an diesem zu erkennen, woraufhin er mittig im Raume stehen blieb, zögerlich, nicht wissend, was er tun sollte, unbewusst seine Unterlippe zwischen die Zähne sog und darauf biss, die Stirne in Falten gelegt.
"Es ist ..."
, begann er schlussendlich, doch fand sich auch hierfür kein Ende, dass er letztlich die kurze Distanz zwischen seinem Sohn und sich überwand, sich neben Minor an der Wand hinabsinken ließ, durchaus darauf achtend, einen schmalen Zwischenraum zwischen ihnen zu lassen, dass sein Sohn nicht sich würde bedroht fühlen. Hatte er geglaubt, tief hinab gesunken zu sein, so musste er doch erkennen, dass er noch weit tiefer sich befand, da er gegenüber seinem Sohne über den Wahn in seinen Adern die Kontrolle hatte verloren und jenen darob zu ängstigen vermochte.
"Politik ... Politik ist eine überaus abo..minable Hydra"
, begann er sodann einen neuen Anfang,
"welche in der Unendli'hkeit ihrer Gier keine Rücksicht nimmt - auf nichts und ... niemanden."
Ohne zu sehen starrte er zur gegenüberliegenden Wand hin, aus welcher die Schatten seines Lebens sich lösten, einem marschierenden Trupp Soldaten gleich, welche er niemals würde alle bekämpfen können, welche ihn hinab zogen in ihren dunklen Grund, dass er verzweifelt suchte an der Banalität der Realität sich festzuhalten, an der Unumstößlichkeit der Vergangenheit, welche bereits hinter ihnen lag - welche zweifelsohne derart festgeschrieben war, dass jene Worte, Sätze und Geschichten würden verhindern müssen, dass das Schicksal ihre Personen aus der Erinnerung der Welt konnte tilgen.
"Ich er..innere mich nicht mehr daran, in welchem Augenblick diese Misere ihren Anfang nahm, doch zweifel..sohne entzündete der Funke, welcher zu diesem alles ver..schlingenden Feuer entflammte, sich bereits vor vielen Jahren."
Er nickte leicht, als würde er sich selbst zustimmen.
"Und ohne die Ver..antwortung für all dies in fremde Hände abgeben zu wollen, so wurden die Prämissen hierfür doch bereits in unser familiären Vergangenheit und dem letzten Willen des Ulpius Iulianus fest..gelegt."
War nicht der Mensch letztlich nur das Ergebnis aus gegebenen Prämissen, zufälligen Ereignissen und Entscheidungen anderer, zu welchen er nurmehr einen kleinen Anteil eigener Entscheidungen beitrug? Wären sie nicht zweifelsohne an einem anderen Ende der Geschichte angelangt, hätten sie nur andere Voraussetzungen in dieser Welt vorgefunden?
Oder hätten sie andere Entscheidungen getroffen
, unterbrach das Säuseln einer Reminiszenz an Gracchus' Ohr seine Gedanken, nur hörbar für ihn selbst. -
Jene drückende Furcht, welche auf Manius Minor vor Manius Maior lastete, ließ ihn trotz der Tränen und jeglicher Desperation mit wachem Geist jede parentale Regung erfassen, entsprechend dem natürlichen Reflex, welchen der Knabe von jenen Ahnen, welcher sich niemand jemals erinnerte, da sie weder Schrift noch Kultur besessen, vielmehr ein tierisches Dasein gefristet hatten, geerbt hatte, um angesichts letaler Bedrohung zum Kampfe oder zur Flucht zu schreiten, sodass er das Flüstern vernahm, ohne ihm indessen aufrichtigen Glauben zu schenken. Zu sehr war sein Geist betrübt wegen dieser Eruption siedenden Zornes, welcher ihn zu unverschuldet niedergestoßen hatte.
So zuckte er in der Tat, als der Vater sich ihm näherte, erhoben sich Nackenhaare und jede Faser des Leibes, bereit hinfortzustürmen. Als der potentielle Aggressor indessen die Politik zur Sprache zu bringen gedachte, evozierte dies eine Konfusion, welche die infantile Tension zu verringern geeignet war, da der Knabe dieses Sujet mitnichten mit einem spontanen Wutanfall an einem von Rom weit entfernten, durchaus sicher sich gerierenden Orte bei einem objektiv erquicklichen Brettspiele zu asoziieren vermochte.
Als der alte Flavius sich endlich neben seinem Sohne positionierte, wagte dieser keine Bewegung, sondern starrte erwartungsvollen Blickes sein ehemals großes Idol an, unfähig, seine Konfusion zu verbalisieren. Nach einigem Schweigen, welches dem Knaben ebenfalls unerträglich wurde, rang er sich unter größter Mühe schließlich eine Frage ab:
"Welche Misere?" -
Einem leisen Windhauch gleich säuselten die Schatten um ihn her ihre trügerischen Worte in seinen Geist, ein kakophonisches Flüstern ohne Anfang und Ende, ohne Sinn und ohne Wahrheit, zu dem einzigen Zwecke gesprochen, das Blut in seinen Ohren in tosendes Rauschen zu versetzen, dass er beinahe die Worte seines Sohnes überhörte, dass jene nur derart dumpf in den Geist ihm tröpfelten, dass es einige Augenblicke dauerte, bis die Essenz der Frage in seinem Verstand war angelangt. Langsam, als wäre sein Kopf gehalten von den zähen Strängen eines unsichtbaren Spinnennetzes, wandte Gracchus seinen Blick dem Sohne zu, die Augen weit geöffnet, besah ihn als wäre dies kindliche Wesen neben ihm ein Paradoxon, weit surrealer und unwirklicher noch als alle Larven und Lemuren um ihn her, dessen Anblick nur Staunen und Verwunderung zu evozieren vermochte.
"Welche ... Misere?"
repetierte der Vater ungläubig und argwöhnisch zugleich, ehedem stoßartig die Luft aus seinen Lungen entwich, ein Ruck durch seinen Leib sich zog, er den Kopf zurücksinken ließ gegen die Wand und ausbrach in ein schallendes Lachen, welches wohl der Sohn in solcher Art noch nie von ihm hatte vernommen, da sonstig dererlei Ungezwungenheit er nur sich gestattete in der trauten Anwesenheit eines Geliebten, in der Geborgenheit wahrer Freundschaft oder aber nach reichlichem Zuspruch erlesenen Weines. Gracchus' Leib wurde geschüttelt von jenem Ausbruch an verzweifelter Heiterkeit, dass alsbald ihm Tränen über die Wangen rannen, alsbald nicht mehr zu differenzieren war, wann dies noch freudloses Lachen war und wann dies umschlug in ein verzweifeltes Schluchzen, welches langsam nur Zug um Zug verrann, wie der letzte Rest von Würde aus Gracchus' Geiste zu rinnen schien, dass nicht einmal mehr die Anwesenheit seines Sohnes dazu gereichte, dass er noch einen Anschein von Stärke mochte aufrecht erhalten, welche er ohnehin niemals hatte besessen, und als er wieder Worte fand, waren sie durchdrängt von einer Melange aus Aporie, Desperation und Larmoyanz.
"Unser Leben ist ni'hts mehr wert, Minimus, … unsere Herkunft be..deutungslos ... nicht einmal das, was hinter uns liegt, zählt noch. Verstehst du den Sinn einer Pro..skrition, die daraus folgende Konsequenz? Es ist der Entzug jegli'her Existenzberechtigung, es erklärt jeden Mann, dessen Name auf dieser Liste steht, zu einem … zu einem Feind des Staates, welchen jeder Römer zu töten an..gehalten ist, ja dessen Tötung gar eine Be..lohnung einbringt."
Selbst ein Sklave würde ihn abstechen können ohne das Gesetz fürchten zu müssen - allfällig würde man ihm gar noch die Freiheit dafür schenken.
"Wir sind nichts mehr, Minimus, ... der Ves..cularius hat uns alles genommen, alles."
Alles. Genommen. Alles. Verloren. Nichts. Gewonnen. Alles. Zerronnen. Alles. Alles. Sogar den Verstand. Tand. Alles Tand. Allen Sinn. Dahin. Wohin? Fort. Genommen. Fortgenommen.
"Minimus!"
Ruckartig drehte Gracchus sich zu seinem Sohn und packte ihn neuerlich am Arm, schneller noch als dass dieser ihm auskommen konnte.
"Ich … ich verliere mich, Minimus!"
zischte er leise und zog den Jungen ein wenig zu sich.
"Du musst mir versprechen … du musst mir verspre'hen, dass du nicht zulassen wirst, dass der Wahn..sinn mich in seinen Abgrund reißt. Ich … wenn es soweit ist, dass der Irrsinn meinen Verstand auf..gefressen hat ... dann ... dann nimm dein Gladius, Minimus, und setzte dem ein Ende! Versprich es mir!" -
War er anfänglich der Supposition erlegen, sein Vater habe ihn nicht vernommen, erfolgte etwas weitaus grässlicheres, denn in haltloser Agonie kommentierte Manius Maior die infantile Nachfrage mit schallendem Gelächter, welches mitnichten als eine adäquate Replik erscheinen konnte ob der unbedingten Seriosität der Umstände. Augenscheinlich obsiegte nun gänzlich die Agonie und Desperation, welche sich nun auch verbalisierte. Dennoch war auch die Begründung eine Novität, denn zwar war es dem Knaben durchaus bekannt, worum es sich bei einer Proskription handelte, welche bei der Behandlung der ruhmreichen Historie des Titus Livius Erwähnung fand, indessen nicht, dass ihre eigenen Namen auf derartigen Listen verewigt waren, dass man ihnen offiziös nach dem Leben trachtete.
Vielmehr ängstigte ihn indessen der neue Habitus eines Irrsinnigen, welcher ihn unvermittelt ergriff, sodass dem jungen Flavius ein furchtsames Quieken entfuhr, um dann seinen Blick nicht abwenden zu können von dem bärtigen Antlitz, welches so nahe gekommen war, dass er es trotz jeder Fehlsichtigkeit scharf erkennen konnte. Dies vermochte indessen kaum die Obliegenheit einzuschärfen, welche man ihm anlastete, welche all dem widersprach, was sein Vater und seine Lehrer ihn gelehrt hatten, was gar höchstes Römertum zu definieren schien. Trotz seiner Jugend wusste er um die Strafe, welche das Parricidium strafte und gemeinhin als Säcken tituliert wurde, gänzlich zu schweigen davon, dass es ihm aufs höchste widerstrebte, sein strahlendes Idol, den geliebten und venerabilen Vater, welcher stets ihn mit Liebe und Anerkennung bedacht hatte, hinzuschlachten. Und doch legten der infamiliär feste Griff, das deviante Verhalten und die Manie einen Schleier über sein Gegenüber, sodass Manius Minor dieses kaum mehr als den erkennen ließ, welches ihm lieb und teuer war.
"Warum ist all das geschehen?"
fragte er endlich, da ihm jene Tragödie sich nicht erschließen mochte, er nicht verstehen konnte, wie jener verhasste Vescularius seines Vaters Leben und das eigene zerstört hatte, wo sie kaum bekannt waren. Alles gründete auf eine Causa, welche es zu entdecken galt, um jedwedes Problem zu seiner Lösung zu führen, so lehrten es die Philosophen... -
Es war die Contenance, welche dem Vater gänzlich war verlustig gegangen, die nun den Sohn auszeichnete und in ihrer Struktur, ihrer festen Richtung auf ein Ziel - dem Drang nach Verständnis und Wissen - Gracchus ein wenig zur Raison kommen ließ.
"Warum?"
Während die Frage nach dem Was ihm sarkastisch absurd, überflüssig grotesk gar erschienen war, so war das Warum tatsächlich auch ihm nicht gänzlich gegenwärtig, hatte er doch immer wieder darüber sinniert, wo in ihrem Plan der Fehler gewesen, wo sie hätten eingreifen, wo handeln müssen oder dies unterlassen. Gracchus' Griff um Minors Arm lockerte sich als seine Schultern kraftlos herabsanken, er langsam den Kopf schüttelte.
"Ich ... ich weiß es nicht. Es schien dies mir alles so evident, so ... offensi'htlich veritabel und wahrhaftig zu sein, doch letztlich ..."
Er ließ sich wieder zurück sinken bis dass er in seinem Rücken die kühle Wand verspürte, starrte durch die Schatten im Raume hindurch, suchte sich zu erinnern. Er war stets davon überzeugt gewesen, dass ein Kaiser die einzig rechte Staatsform für das Imperium Romanum bot, hatte getreulich seine Pflicht gegenüber diesem und seinem Imperator erfüllt - bis der Kaiser selbst seine Pflicht hatte vergessen.
"Der Kaiser ... Valerianus ... er hat das Imperium de..savouiert, hat die mos maiores, alle Sitten und Traditionen, alles, was Rom definiert diskreditiert. Der Staat tan..gierte ihn nicht, die Götter interessierten ihn nicht, das Volk war ihm einerlei, seine Pflichten missa'htete er. Hätte er nur ein wenig Interesse, ein wenig Anteilnahme gezeigt, hätte er zumindest einen veritablen Stell..vertreter ernannt - doch sein Desinteresse war derart groß, dass er ungerührt das Imperium an einen Mann hat aus..geliefert, welchem nichts anderes von Belang ist als die Häufung seiner eigenen Macht, seines eigenen Rei'htumes und eigenen Wohles über alle Interessen, über jegliches Wohl und Gedeihen des Imperium Romanum hinweg, welchem darüberhinaus nichts von Bedeutung ist, welcher über Leichen geht, um seine Opponenten zu neutralisieren und seine Ziele zu errei'hen."
Mühsam suchte Gracchus sich selbst zu persuadieren, dass es hingegen adäquat war über Leichen zu gehen, so es galt, ein hehres, nobles Ziel zu verfolgen - doch ein Mord blieb ein Mord blieb ein Mord, ein Mord, ein Mord. Ein Mord. Mord. Kaisermord. Kaisermörder. Mörder!
"Nein! Nein, es war ni'ht unsere Schuld. Hätte Valerianus nur ein wenig sich bemüht, hätte er nicht dem Ves..cularier freie Hand gelassen, dass dieser jede seiner skrupellosen Entscheidungen durch einen Imperator legitimieren konnte, welchen dies alles nicht im mindesten tangierte … es hätte niemals soweit kommen müssen. Verstehst du das, Minimus, es waren diese Gegebenheiten, die unumstößli'hen Tatsachen welche uns dazu zwangen, zu handeln."
Hatte er nicht gar mit dem Aelius Quarto gesprochen, war mit ihm einig geworden über das Verhältnis ihrer beider Familien zueinander, war bereit gewesen, den Kaiser bedingungslos zu unterstützen unter Zugeständnissen, welche dagegen marginal schienen, wenn nur das Wohl des Staates allem voran stand? Doch Valerianus hatte auch dies alles nicht interessiert, hatte nicht einmal seinem Bruder zugehört.
"Der Kaiser war schwach, ver..antwortungslos, sein Stellvertreter dagegen wurde immer dreister, immer skrupelloser. Einige Männer - unter ihnen Tiberius Durus, Flaccus als dessen Klient, und ich - kamen zusammen, um darüber zu beratschlagen, wie dem ein Ende zu setzen sei, wie Ves..cularius Salinator aus Rom zu eliminieren sei zum Wohle des Imperium Romanum, dessen Niedergang, so wie wir es kennen und schätzen, er Tag um Tag vorantrieb. Doch irgendetwas ... irgend..etwas schlug fehl, wir … wir … wir gelangten nicht bis zur Ausführung der Tat. Gelangten nicht … nicht bis zur Tat."
Tat. Täter. Attentäter. Kaisermörder. Mörder!
"Nein! Nein, es war nicht unsere Schuld! Der Vescularius … er ... ich ... er … er mordete … ermordete den Kaiser."
Lüge! Blutrotfarben donnerte die Anklage durch sein Gedankengebäude, dröhnte von allen Wänden, dass die Fundamente unter dem Druck erzitterten, dass der Druck in seinem Kopf ihm diesen zu sprengen suchte, dass er die Augen schloss und mehrmals den Hinterkopf gegen die Wand stieß im vergeblichen Versuche, durch den daraus resultierenden Schmerz die Verderbtheit seines Selbst aus sich heraus zu drängen. Zum Wohle des Imperium Romanum, für die Zukunft ihrer Nachkommen, aus Streben nach dem Ideal heraus - irgendetwas musste ihn angetrieben haben, doch Gracchus hatte vergessen, was dies gewesen war. Er wusste nurmehr, dass er das Imperium Romanum in die Hände eines Wahnsinnigen hatte getrieben, dass die Zukunft seiner Nachkommen nicht mehr existent war, dass er all seine Ideale hatte aufgegeben.
"Er hat es gewusst"
, flüsterte er leise.
"Er hat nur auf uns gewartet, dass wir ihm den Weg an die Spitze des Imperium Romanum ebnen." -
Der Prolog, mit welchem Manius Maior erstlich auftrat, um den generalen Kontext zu erhellen, erschien Manius Minor noch verfolgenswert, ließ ihn erkennen, dass es ein größtmöglicher Fehler in der Regierung innewohnte, gleich der Tyrannis eines Nero oder gar eines Domitianus, in dessen Adern deplorablerweise flavisches Blut geflossen war. Indessen glitten die Deklamationen bisweilen wieder in mitnichten entwirrliches Gerede herab, offenbarten die große parentale Seelenpein und errichteten die Drohkulisse eines wahnhaften Mannes, welcher klarer Worte nicht mehr fähig war. Schon war der junge Flavius geneigt, zu bekräftigen, dass er keinerlei Absicht hege, den Vater irgendeiner Tat zu bezichtigen, welche er augenscheinlich so vehement, Bruchstücken einer Defensio gleich, refutierte, da jenem ruchlosen Vescularius, dessen Idoneität zur Herrschaft nicht zum ersten Mal in flavischer Runde als fragwürdig deklariert wurde, eben sämtliche Missetaten anzulasten waren, bis hinauf zum gräulichen Mord am Kaiser selbst. Ihm das Handwerk zu legen war zweifelsohne eine Tat der Virtus, wegen welcher verfolgt zu werden schändlich war für die gesamte Res Publica. Inwieweit indessen beide Aspekte sich vereinten, wie die Bestrebungen der senatorischen Coniuratio mit dem Tode Valerians zu kontextualisieren waren, entzog sich dem Vestand des jungen Flavius. Und doch ahnte er, dass es um alles ging, dass sich sämtliche Prämissen flavischen Handelns, Res Publica, Familie und Wahrheit vereinten und jenen Imperativ formulierten, den usurpierenden Imperator zu stürzen. Indessen galt es aber noch, die konkreten Handlungen zur Erlangung jenes Zieles zu ergründen:
"Was tun wir jetzt? Weiß der Senat von alldem nichts?"
fragte der Knabe darum in unerschütterlichem Vertrauen in jenen Ältestenrat, der seit der frühesten Res Publica den Staat lenkte und stets in größter Weisheit gehandelt hatte, dem selbst sein Vater und zahllose weitere Flavii angehörten. Augenscheinlich war es an ihm, das Recht wiederherzustellen. -
Einige Augenblicke schien es als würde Gracchus dem zustimmen müssen, denn ein unscheinbares Nicken bewegte langsam sein Haupt.
"Ja … der Senat."
Ein schmales Lächeln kräuselte seine Lippen, eine ferne Reminiszenz ließ seine Augen ein wenig trüb werden, denn mitnichten galten seine Gedanken dem tatsächlichen Gremium, welches in Rom sich derart titulierte, sondern der Idee dieser Versammlung ehrwürdiger Männer, welche in stets nobler Absicht dem Wohle des Staates dienten und dem ersten aller Männer - dem Kaiser - nach bestem Wissen und Gewissen ihren Rat ließen angedeihen, und je mehr seine Erinnerung sich diesem Trugbild zuwandte, welches entstanden war in dem naiven Geiste eines jungen Mannes, eines Kindes gar, desto mehr glitt sein Antlitz ab zu einer freudlosen Maske im Wissen um die Realität.
"Der Senat ist nurmehr ein Schatten seiner selbst. Die eine Hälfte besteht aus Vescularius' Gefolgs..leuten, welchen er seit langem bereits im Namen des Kaisers den Weg in die Curia Iulia hat geebnet, die andere Hälfte hat er gekauft oder be..droht, und die anderen ..."
Gracchus' Wortfluss stockte, da ihm wurde bewusst, dass dies augenscheinlich mehr als zwei Hälften waren, mehr als ein Ganzes - doch andererseits waren jene weiteren Männer ohnehin nicht mehr im Senat.
"Andere, welche dem sich nicht wollten unterordnen, haben Rom verlassen oder wurden letztli'h von Vescularius in den Carcer gesteckt oder ins Exil verbannt, den Viniciern oder Furianus gleich."
Ein wenig mehr sank Gracchus in sich zusammen.
"Nein, durch den Senat ist keine Hilfe zu er..warten, Minimus, alles was nun noch zählt sind Soldaten und Legionen. Es wird zu einem Bürger..krieg kommen, Römer werden Römern gegenüber stehen, Römer werden gegen Römer kämpfen, Römer werden Römer töten."
Was war der geeignete Begriff für jene Männer, welche dies hatten ausgelöst? Massenmörder? Volksmörder?
"Wir ... wir können nichts tun."
Ihr Leben lag in der Hand der Legionen, welche Gracchus in ihrer Art gänzlich fremd waren, die bisherig für ihn nur in Nachrichten, Geschichten und Worten hatten existiert, zumeist weit fort an den Rändern der Provinzen, welche durch die Weisung des Imperators auf Landkarten wurden disloziert - doch tatsächlich hatte er keine Vorstellung von der gewaltigen Kraft tausender Soldatenstiefel, welche über das Land marschierten, hatte keine Vorstellung vom Klirren tausender Klingen, keine Vorstellung von den Schreien aus tausenden Kehlen, von der Menge an Blut, die aus tausenden römischen Leibern floss. Doch die Furcht vor tausenden Larven, welche an seinem Halse würgten, war endlos, würde gleichsam niemals mehr versiegen können, denn selbst wenn Cornelius' Truppen den Sieg sollten davon tragen, selbst wenn Cornelius als Kaiser in Rom würde eingesetzt, die Larven würden ihn nie wieder loslassen, das Leben wäre nie wieder wie zuvor.
"Nimmermehr"
, flüsterte Gracchus und stierte auf den Boden, hatte die Anwesenheit seines Sohnes vergessen und fiel weiter in die Tiefe hinab. Einst hatte er geglaubt, der gräulichste Aspekt des Fallens wäre der Aufschlag auf den harten Grund - doch mittlerweile sehnte er sich nach dem Aufschlag, nach dem Zerschellen am Boden, denn weit schlimmer noch war stets immer tiefer zu fallen, ohne Aussicht auf ein Ende. -
Die parentale Narration, welche das wahrhaftige Angesicht des Senates enthüllte, ihn als Gremium politisch opportun handelnder Akteure entlarvte, erschrak den jungen Flavius zutiefst, öffnete ihm einen ersten Zugang zur Realität jener hohen Politik, welche er bislang lediglich idealisiert und historisiert in den Werken großer Autoren, allen voran eines Titus Livius erkundet hatte. Dass diese Versammlung der Ältesten indessen auch Speichellecker beherbergte, welche einem unrechten Manne anhingen, hatte er bisher in jene düstere Vergangenheit projiziert, mit welcher spätestens Flavius Vespasianus als strahlender Princeps ein Ende gemacht hatte. Doch viel deplorabler noch präsentierte sich die Lage, dass gar sein eigener Onkel Furianus in die Klauen jenes abscheulichen Tyrannen geraten war, was man ebenso bis zu diesem Moment sorgsam vor ihm verborgen hatte.
"Onkel...Flavius?"
entfuhr es ihm entsprechend, gänzlich andere Namen übergehend, welche ihn ohnehin kein imaginäres Bild asoziieren ließen, somit gänzlich nichtssagend waren.Augenscheinlich ließ gar Manius Maior, sein binnen kürzester Zeit vom strahlenden Helden und Idol zu einem bedauerlichen, Furcht verbreitenden Feigling dahingeschmolzener Vater, jedweden Mut sinken. Dies aber mochte nicht in das Bild Manius Minors von seiner stolzen Gens sich einfügen, welche ihm stets als mächtig, weise und tugendhaft war präsentiert worden, welche stets in jenem großen Spiel der Throne seine Figuren zu setzen gewusst und ihr Ziel nicht aus den Augen verloren hatte. Mitnichten war er bereit, sich nach all jenen Strapazen, welche er auf sich genommen hatte, die Gesellschaft detestabler Leichen, den Schmerz endloser Ritte, die beständige Furcht vor Entdeckung und zuletzt die ennuyanten Tage in völliger Isolation, um sich nun dem Fatum zu fügen, um apathisch seinem Untergang entgegenzutreten. War die Gens Flavia nicht zu Ruhm und Ehre, gar zum Kaiserthron gelangt, gerade weil sie das Spiel der Soldaten und Legionen aufs Meisterlichste beherrschte? Hatte man ihm nicht die Berichte vom Jüdischen Kriege, der Kühnheit des Divus Vespasianus, der Weisheit des Flavius Felix, der die Flotte dirigiert hatte, und der Stärke des Flavius Aristides, seines Onkels, an langen Abenden in schillerndsten Farben ausgemalt? Sollte all dies Lüge gewesen sein?
"Aber...Onkel Aristides!"
interjizierte er ob dessen, rang um Worte und ergänzte endlich
"Wir müssen etwas tun! Die Virtus gebietet es!"
Das war alles, was er von der teils redundaten Belehrung eines Artaxias oder seines Grammaticus, aber auch sämtlicher Verwandter bewahrt hatte: die Tugend allein war eines Flavius würdig, und vor allem offenbarte sie sich in Situationen, welche aussichtslos erscheinen mochten wie jene, in welcher Mucius Scaevola durch seine schlichte Unbeugsamkeit die Etrusker zum Abzug bewegt hatte, oder jene, in welcher Horatius Cocles allein deren furchterregendem Heer die Stirn geboten hatte! Im Angesicht all jener bitterer Enttäuschung, welche die letzten Tage und Wochen über ihn ausgegossen hatten, wollte er sich nun nicht kampflos unter das Joch der Niederlage beugen!
"Dafür leben wir doch, Vater! Oder nicht?"
fügte er endlich an, neuerlicih mit leisem Zweifel behaftet. Am Ende mochte in der Tat auch alles lediglich eine Mär, welcher er aufgesessen war, gewesen sein... oder doch nicht? -
Mit trübem Blicke starrte Gracchus den dunklen Fußboden an, über welchen in Schlieren und Schemen die Schatten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waberten, suchte ein Muster zu erkennen, welches einen Weg ihm vorgab, die Möglichkeit, auch nur einen einzigen Fehler zu korrigieren, welchen er hatte begangen, konnte dabei nicht einmal erfassen, ob dies alles tatsächlich ein Fehler gewesen war oder er einige Monate zurück nicht ebenso wieder würde handeln wie er es hatte getan. Wer nicht gelernt hatte, zu kämpfen, sollte nicht in den Krieg ziehen, denn es konnte nur die Niederlage an diesem Ende stehen - doch hätten sie vorausahnen müssen, dass aus ihren Taten ein Krieg würde erwachsen?
"Aristides?"
Gracchus' Brauen zogen sich fragend zusammen, dann weiteten seine Augen sich neuerlich. Kaisermörder! Volkesmörder! Vetternmörder!
"Marcus Aristides? Bei allen Untergründigen, du hast wohl Recht ..."
Sofern dies noch möglich war, sank Gracchus' Gestalt weiter in sich zusammen, die Couleur seiner Stimme unterlegt mit einem sublimen Zittern.
"Auch ihn haben sie zweifels..ohne eingekerkert, da er doch von uns allen in geringster Ferne zum Kaiser wohnte. Wir können nur ... nur hoffen, dass er noch am Leben ist."
Der Gedanke daran, dass sein Vetter in den Händen der Schergen des Vescularius mochte zu Tode gekommen sein, trieb ihm neuerlich Tränen in die Augen, denn Gracchus liebte Marcus Aristides einem Bruder gleich, mehr als er je einen seiner eigenen Brüder hatte geliebt oder auch nur geachtet. Seitdem er ein junger, orientierungsloser Knabe gewesen war, hin- und hergerissen zwischen der Pflicht und dem Aufbegehren gegen seinen Vater, war Aristides ihm ein Vorbild gewesen, hatte er den Vetter bewundert für die Leichtigkeit seiner Art, mit welcher er nahezu jede Schwierigkeit konnte meistern, ihn bewundert für seinen Weg, welchen er stets mit Zufriedenheit gegangen war. Abrubt wandte er sich Minor zu und fasste ihn noch einmal hart am Arm.
"Du, Minimus, du musst die Virtutes leben, solange es dir noch mögli'h ist! Ich ... ich habe sie ..."
… zurückgelassen ...
"... ich habe sie ..."
… eingebüßt ...
"... ich habe sie ver..loren, Minimus, und ich bin nicht sicher, ob es möglich ist, diesen Ver..lust noch einmal zu nivellieren."
Er ließ ab von seinem Sohn und erhob sich schwerfällig, mit einer Hand sich an der Wand abstützend, ein wenig schwankend. Er musste diesen Raum verlassen, diesen Sumpf aus Desperation, diesen Moloch aus Aporie, konnte nicht länger die Gegenwart Minors Unschuld ertragen, welche er mit jedem Augenblick seiner eigenen Präsenz mehr zerstörte. Erst als er die Tür hatte geöffnet wurde ihm gewahr, dass dies nicht seines Sohnes Kammer war, die Mauern um ihn her nicht einmal Teil ihres Zuhauses, es keinen Weg gab zurück zu seinem eigenen Cubiculum. Er öffnete den Mund, ohne dass ein Laut dem entkam, legte schlussendlich die Lippen wieder aufeinander und presste die Kiefer zusammen, trat trotz aller Unschlüssigkeit auf den Gang hinaus, schloss die Türe hinter sich und suchte den Weg an den Hinterausgang des Praetoriums, in der Hoffnung, die kühle Luft würde seine Gedanken ein wenig abkühlen können. -
Schon regte sich leise Hoffnung in dem Knaben, als der Vater den Namen seines Vettern artikulierte, als erwecke er hierdurch Remineszenzen an seine Bestimmung, welche er doch selbst beständig an seinen Sohn weitergegeben hatte. Doch rasch zersprang sie einer Blase gleich, als Manius Maior neuerlich in Tränen ausbrach, als sei er kein adulter, wohlangesehener Senator, Praetorier und Pontifex, sondern ein Altergenosse seines Jüngsten, denn selbst Manius Minor beschämte inzwischen ihr Vergießen.
Augenscheinlich kam es aber weitaus erschütternder, denn zu der spontanen, weiberhaften Offenbarung innerster Gefühle gesellte sich nunmehr auch noch die totale Kapitulation vor all jenen Ansprüchen, welche eines Patrizier würdig waren und seine Existenzberechtigung repräsentierten. Was verblieb, war ein gebrochener Mann, ein gleichsam sklavisches Wesen bar jeder Würde, das sich davonschlich wie ein geprügelter Hund.
Zurück blieb ein gänzlich verstörter Flavius, der, zusammengekauert wie ein Welpe, dem trottenden Schritt seines einstigen Idols hinterherblickte, dessen Konturen nicht nur ob seiner Hypermetropie, sondern auch aufgrund seiner beklagenswerten Desillusionierung, welche sich in liquider Form durch die Tränendrüsen ihren Weg bahnte, stetig verwischten. So wie er den physischen Leib weniger und weniger auszumachen vermochte, so gelang es ihm in demselben Maße nicht mehr, die admirable Gestalt mit ihrem scharfen Verstand, ihren klaren Prinzipien und ihrem umfassenden Wissen um den Mikrokosmos Familie und Politik wie den Makrokosmos des gesamten Orbis Terrarum, welche er so lange als klaren Fluchtpunkt in seinem Leben glühend verehrt hatte, zu fassen.
"Papa..."
formten seine Lippen noch zuletzt jenen Kosenamen, wessen er seit geraumer Zeit sich nicht mehr bedient hatte in der Meinung, er gezieme sich eines Jünglings nicht mehr, coram publico seinen Vater auf diese Weise zu adressieren. Nun hingegen war er zu einem Symbol geworden für den einstigen Heroen seiner Infantilität, welchen so schmerzlich er schon vermisste seit jener Stunde, als sie die Villa Flavia Felix hinter sich gelassen hatten, wo der parentale Verfall begonnen haben mochte, ablesbar an Wortlosigkeit und einem besonderen Maße an Unnahbarkeit. Nunmehr hatte sich jenes Ideal nicht nur vom Leibe Manius Maiors abgetrennt, sondern selbst dieses Gefäß hatte Manius Minor verlassen. Zurück blieb ein verdrossenes, bis zum Scheitel mit Kummer angefülltes, gänzlich hilfloses Bündel Furcht, welches sich in eine Ecke kauerte, das bunte und doch triste Farbenspiel, welches seine Fehlsicht ihm darbot, anstarrend. -
Als Gracchus den braunfarbenen Mantel, welchen er kurz nach der Flucht aus Rom hatte von dem Verwalter auf Cornelius Scapulas Landgut erhalten, um seine Schultern legte, graute weithin im Osten gerade der anbrechende Morgen, drängten sukzessive die Strahlen der gemächlich emporsteigenden Sonne sich über den Horizont. Leise trat er noch einmal an das Bett zu seinem schlafenden Sohn Minor heran, zog ein wenig diesem die Decke weiter über die Schultern, während ein sanftes Lächeln seine Lippen umschmeichelte. Es dauerte ihn, Minor zurücklassen zu müssen, doch wenn es eine Zukunft für die Familia Flavia Graccha gab, so lag sie dort in diesem Bett, friedlich ruhend und in aller Unschuld der Jugend. Es war am Morgen zuvor gewesen, da die neuesten Nachrichten aus Rom im Castellum der Legio waren eingetroffen und die alles verändernde Meldung auch an Gracchus' Ohr. Bis zum Nachmittag hatte er vor sich hinbrütend über die sich ihm bietende Möglichkeit nachgedacht, seinen Plan mehrmals verworfen, nur um bald darauf ihn wieder neu zu fassen, bis dass er letztlich fest entschlossen war, dies Wagnis einzugehen. Seine Chance war überaus gering, die Unwägbarkeiten immens, doch wenn auch nur die geringste Aussicht bestand, das dräuende Schicksal abwenden zu können von dem Imperium, welches letztlich auch durch sein Zutun dem Reich und seinen Bewohnern bevorstand, so musste er dies versuchen, selbst so es ihn sein Leben sollte kosten.
"Lebe wohl, mein Sohn"
, flüsterte er leise.
"Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen."
Sodann ließ er ab von Minor und verließ leise den Raum. Auf seinem eigenen Bett blieb nur eine Wachstafel zurück, welche er bereits am Abend zuvor einem Sklaven hatte diktiert.
Mein Sohn,so du diese Zeilen liest, werde ich bereits weit fort sein, und es liegt in den Händen der Götter, ob wir uns je wiedersehen. Es haben sich Gegebenheiten in Rom gewandelt, welche womöglich uns und dem gesamten Imperium noch zum Vorteile können gereichen, ob dessen es meine Pflicht ist zu versuchen, dies herbei zu führen. Der Weg zurück nach Rom mag voller Gefahren sein - insbesondere in Anbetracht meines derzeitigen Status -, und auch dort ist die Aussicht auf Erfolg allfällig nur sehr gering, doch so marginal meine Chance auch sein mag, so unbedeutend ist meine eigene Person in Anbetracht des Wohles des Imperium Romanum und unserer Familie, ob dessen ich dies Wagnis muss eingehen.
Solange ich fort bin, Quintus Flaccus nicht bei Gesundheit und weitere Anverwandte nicht in erreichbarer Nähe, wirst du dich den Weisungen des Titus Aurelius Ursus fügen. Er ist ein viabler Mann, welcher zweifelsohne für dein Wohn nach besten Möglichkeiten wird Sorge tragen.
Was auch geschieht, Minimus, erinnere dich stets daran, dass du ein Flavius bist, und dass ich stolz auf dich bin.
Mögen die Götter stets ihre wohlwollenden Hände über dich halten!
Dein Vateredit: Link
-
Leise schlich sie auf nackten Sohlen dem Obersklaven hinterher und verbarg sich hinter einer Säule, als er vor der Tür stehend nach links und rechts umsah und das Zimmer betrat. Nun hieß es warten, bis er wieder rauskam. Soweit sie aus dem Geschwätz in der Küche raus gekriegt hatte, wohnte hinter der Tür ein kleiner Junge, der von seinem Vater zurück gelassen wurde, weil dieser etwas zu erledigen hatte. Zu dem Duo gehörte noch ein älterer junger Mann, aber der musste abseits allen Bewohnern wohnen, weil er eine Krankheit mitgebracht hatte von der er laut den Lagerärzten noch nicht als wieder gesund angesehen wurde. Angeblich hatte sich die erkrankte Köchin beim Essen bringen bei ihm angesteckt, weil er sie angehustet hatte. Angehustet.... wie konnte man von einem einzigen Huster schwer krank und arbeitsunfähig werden? Marei richtete ihre abschweifende Aufmerksamkeit zurück auf die Tür. "Vale bene, dominus." sprach der Obersklave und schloß die Tür hinter sich. Gleich würde sie sich selber zur Tür schleichen und einen Blick hinein werfen.. gleich.. es handelte sich nur noch um wenige Sekunden.. gleich... Ja! Jetzt war der Obersklave ganz um die Ecke gebogen. Marei jubelte innerlich auf, nicht entdeckt worden zu sein und eilte zur Tür. Ohne anzuklopfen trat sie ein und lehnte sich sofort nach dem Türeschliessen ans Türblatt. "Heh Kleiner.. ich weiß, dass du da bist." flüsterte sie mit freundlicher Stimme. "Ich bin die Marei."
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Zitat
Original von Manius Flavius Gracchus
Mein Sohn,so du diese Zeilen liest, werde ich bereits weit fort sein, und es liegt in den Händen der Götter, ob wir uns je wiedersehen. Es haben sich Gegebenheiten in Rom gewandelt, welche womöglich uns und dem gesamten Imperium noch zum Vorteile können gereichen, ob dessen es meine Pflicht ist zu versuchen, dies herbei zu führen. Der Weg zurück nach Rom mag voller Gefahren sein - insbesondere in Anbetracht meines derzeitigen Status -, und auch dort ist die Aussicht auf Erfolg allfällig nur sehr gering, doch so marginal meine Chance auch sein mag, so unbedeutend ist meine eigene Person in Anbetracht des Wohles des Imperium Romanum und unserer Familie, ob dessen ich dies Wagnis muss eingehen.
Solange ich fort bin, Quintus Flaccus nicht bei Gesundheit und weitere Anverwandte nicht in erreichbarer Nähe, wirst du dich den Weisungen des Titus Aurelius Ursus fügen. Er ist ein viabler Mann, welcher zweifelsohne für dein Wohn nach besten Möglichkeiten wird Sorge tragen.
Was auch geschieht, Minimus, erinnere dich stets daran, dass du ein Flavius bist, und dass ich stolz auf dich bin.
Mögen die Götter stets ihre wohlwollenden Hände über dich halten!
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~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Er kauerte im Unterholz, gepeinigt von den Dornen immergrüner Gewächse, welche hier im Schatten der Bäume gediehen, und spähte an der Seite seines Bruders hinaus auf die Lichtung, auf welcher seine Mutter, eine Wölfin, die Fährte eines Tieres witterte, welches ihr zur Speise dienen und damit zugleich ihre Milchquellen zugunsten ihrer Adoptivsöhne erwecken sollte. Wie nicht selten, so erhob sie aber lediglich ihr Haupt und trottete sogleich einem Busch mit Beeren entgegen, welcher sich ihr als vegetarische Alternative darbot und ihrer Abneigung riskanter Waghalsigkeiten, welche eine Jagd stets mit sich brachte, entgegenkam.Dann aber vernahm der Knabe Schritte samtiger Pfoten und eine Katze schlich auf die Lichtung. Ihr voluminöser Leib schien beinahe die Erde zu touchieren und ihr Haupt war kahl, was in allem einen überaus abstoßenden Anblick bot. Doch anstatt dieses miserable Wesen durch wölfische Drohgebärden in die Flucht zu schlagen, stimmte die Wölfin ein Winseln an. Sie griff ihre Adoptivjungen am Nacken und zog sie vondannen, doch die Katze folgte ihr auf dem Fuße. Mit stupender Behendigkeit sprang sie über die kleine Familie hinweg und stellte sich in die Bahn.
Die Wölfin indessen, ungeachtet der Enge, in welche sie getrieben war, stimmte kein Knurren an, mit welchem sie den Kontrahenten mit Leichtigkeit vertrieben hätte. Stattdessen verlautbarte er, der Säugling, welcher unsanft abgesetzt worden war, ein herzerweichendes Klagen, welches rasch auch sein Zwillingsbruder an seiner Seite intonierte. Ihre animalische Mutter indessen senkte ihr Haupt, fiepte einem Jungtier gleich und bot jene Gestik dar, welche eine Unterwerfung zweifelsohne anzeigte. Die adipöse Katze richtete sich stolz auf, dann präsentierte sie stolz ihre Fänge, untermalt von einem Fauchen, das die Wölfin schlichtweg in die Flucht schlug.
Das Heulen der Zwillinge schwoll an zu einer lautstarken und zweifelsohne weithin hörbaren Klage, die ihre Adoptivmutter jedoch nicht zur Rückkehr zu bewegen vermochte. Stattdessen schlich die Katze auf das Bündel der beiden Knaben zu, beugte sich zu ihnen hinab und präsentierte ihren gierigen Rachen, ehe sie mit zermalmender Kraft zustieß.
~~~
Der Knabe fuhr voll Schrecken aus dem Schlafe. Romulus und Remus waren ob der Feigheit der Wölfin die Opfer jener furchterregenden Katze geworden, Faustus würde bestenfalls ihre bleichen Säuglingsknochen vorfinden und Rom niemals begründet werden!Erst nach einiger Zeit erkannte der junge Flavius, dass er mitnichten ein todgeweihter Säugling, sondern der Spross eines edlen Geschlechtes im Exil eines Legionscastellum war, dass er in seiner Ruhestatt weilte und die ersten Sonnenstrahlen eines warmen Sommertages durch die Fensterläden spitzten. Dennoch mochte der Schrecken ihm nicht aus der Gliedern fahren und er blickte um sich. Augenscheinlich hatte sein Vater bereits das Weite gesucht, vermutlich um seinem Habitus entsprechend einen Spaziergang durch das Praetorium zu unternehmen, welcher fast scheinen mochte, als wolle er durch die stetige Okkupation mit derartigen Aktivitäten die Nähe seines Sohnes meiden.
So zuckte der Knabe achtlos mit den Schultern, wischte sich den Schweiß von der Stirne (jene Nachtmären, welche ihn kontinuierlich heimsuchten, vermochte er inzwischen auf weitaus bessere Weise beiseite zu wischen, als ihm das vor Monaten noch gelungen war), entstieg seiner Bettstatt und entledigte sich seines schweißgetränkten Nachthemdes, welches er achtlos zu Boden fallen ließ. Zwar gebrach es dem legatischen Haushalt an einer suffizienten Anzahl von Sklaven, um die regelrechten Flüchtlingsströme aus Roma umfassend zu versorgen, ihnen also etwa eine adäquate Anzahl an Leibsklaven zur Verfügung zu stellen, welche sofort nach dem Erwachen bereitstanden, um die Gäste einzukleiden, doch zumindest würde im Laufe des Tages ein Unfreier erscheinen, um die Betten aufzuschütteln und das Nachtkleid zu wechseln.
So musste Manius Minor sich, wie auch in den vergangenen Tagen ihres Aufenthaltes, selbst nach der bereitliegenden Tunica greifen, diese sich überziehen und mittels eines Gürtel raffen, was er erst hier in Mantua von seinem Vater gelernt hatte, da eine derartige Aufgabe in der Villa Flavia Felix durch Sklaven bestellt wurde. Indessen verweilte er vorerst barfüßig, da ihm das Zubinden der Sandalen noch immer gewisse Misslichkeiten bereitete, zumal er heute nicht auf die parentale Unterstützung in Form repetetiver Explikationen zum Verbinden der Riemen verzichten musste.
Dessenungeachtet erspähte er eine unbekannte Tabula auf dem parentalen Bette, trat neugierig näher, um zu sehen, ob es sich wohl um ein Exzerpt eines literarischen Werkes handele, wie Manius Maior bisweilen eines anfertigte. Dies hätte in seinem behaglichen Heim im fernen Rom zweifelsohne nicht den Hauch eines Interesses geweckt, doch ob der stetigen Gleichförmigkeit der Tage im Exil, des Mangels an allen Dingen, welche ein kindliches Leben lebenswert gestalteten, gab er seinem schwachen Trieb der Neugierde nach und ergriff das Schriftstück, vermochte aber ob seiner Fehlsichtigkeit lediglich eine konturlose Fläche auszumachen. Erst weites Hinwegstrecken und größte Anstrengung ließen ihn einzelne Lettern ausmachen, endlich den Text entziffern.
Was er aber las, erweckte größte Furcht in dem Knaben, denn sein Traum hatte sich in die Realität gewandelt: Er war gänzlich allein und den Drohungen der Wildnis schutzlos ausgeliefert, worüber auch schöne Worte und Mahnungen nicht hinwegzutäuschen vermochten. Sein Hasenfuß von einem Vater, jene Schande für das flavische Geschlecht, für alle Patres Romae, für die Maiores und die ganze Welt, hatte das Weite gesucht, um alles zu verraten, was er seinen Sohn jemals gelehrt hatte, nur um seine schäbige Haut zu retten. Die Furcht wandelte sich in gerechten Zorn und in ohnmächtigem Groll warf Manius Minor das Schreiben mit größter Wucht gegen die Wand, von welcher es abprallte und hinter dem parentalen Bett verschwand.
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Zitat
Original von Marei
"Vale bene, dominus." sprach der Obersklave und schloß die Tür hinter sich. Gleich würde sie sich selber zur Tür schleichen und einen Blick hinein werfen.. gleich.. es handelte sich nur noch um wenige Sekunden.. gleich... Ja! Jetzt war der Obersklave ganz um die Ecke gebogen. Marei jubelte innerlich auf, nicht entdeckt worden zu sein und eilte zur Tür. Ohne anzuklopfen trat sie ein und lehnte sich sofort nach dem Türeschliessen ans Türblatt. "Heh Kleiner.. ich weiß, dass du da bist." flüsterte sie mit freundlicher Stimme. "Ich bin die Marei."
Seine These einer parentalen Flucht aus Mantua und jedweder Verantwortung hatte die übrigen Bewohner des Castellums, welche mit dem Knabe in Kontakt traten, nicht überzeugt, doch in ebenso geringer Weise hatten deren Beschwichtigungen, Manius Maior befinde sich auf einer höchst wichtigen und geheimen Mission, bei jenem nicht gefruchtet. In der Folge mied er auch den Kontakt zu Aurelius Ursus und dessen Familia, zog sich in sein Cubiculum zurück und besuchte bestenfalls bisweilen seinen Onkel Flaccus. In großem Maße fristete er sein Dasein im Schlafe, im Genuss von Viktualien und dem Hören von Geschichten, welche Sklaven zu rezitieren hatten.Ob dessen suchten mit Regelmäßigkeit besorgte Sklaven ihn auf, erkundigten sich nach seinem Wohlbefinden und bemühten sich, den jungen Gast zu anderen Aktivitäten zu motivieren, was selten gelang. Kurz nachdem der junge Flavius aber den Versuch, ihm ein erquickliches Ballspiel zu offerieren, welches er schon ob seiner Fehlsichtigkeit nicht zu praktizieren vermochte, refutiert hatte, öffnete die Tür sich ein weiteres Mal. Schon war der Knabe versucht, eine unwillige Bemerkung auszustoßen, als er eine infantile Stimme vernahm.
Obschon der Legatus über seinen Sohn verfügte, welcher im Alter eher seinem Bruder Titus glich, hatte Manius Minor diesen niemals zu Gesicht bekommen. Indessen wusste er um die Existenz unfreier Kinder in der Familia Aurelia, worauf die unwirsche Adresse indessen nicht hinwies.
"Was willst du?"
fragte er endlich und reckte sich ein wenig, ohne die sitzende Position auf dem Bette zu verlassen. In der Tat identifizierte er dank der gewissen Entfernung eine Person mit einem schwarzen Schopf, die dem Genus ihres Namens zufolge weiblichen Geschlechts sein musste. -
Was wiillst du? hallte es aus dem Bett zurück. Durus sprach auch so, wenn er schlechte Laune hatte. Marei zuckte mit den Schultern und beobachtet den Jungen im Bett aufmerksam. "Hmh, ich möchte wissen, ob du echt bist.. aus Fleisch und Blut. Du bist ein kleiner Junge, der von seinem Vater zurück gelassen wird, weil dieser etwas zu erledigen hat. Zu dem Duo gehört noch ein älterer junger Mann, aber der muss abseits allen Bewohnern wohnen, weil er krank ist." erzählte sie ihm gerade heraus was sie bisher aus dem Geschwätz in der Küche zusammen getragen hatte und fügte noch etwas ohne jeden Vorwurf in der Stimme hinzu. "Du lässt dich nicht einmal zum Spielen blicken... geht es dir nicht gut? Kann ich dir helfen?" Sie wollte wissen, was mit dem Jungen los war. Es war in ihren Augen einfach ungewöhnlich, stundenlang auf dem Zimmer zu hocken. Nagut, wenn man Stubenarrest oder krank war, war das ein Grund, aber einfach so? "Ich habe nicht viel Spielzeug, aber ich kann Durus fragen, ob er mir etwas von seinem Spielzeug für dich ausleiht."
-
Mitnichten entsprach es seiner Autoperzeption, sich als "kleiner Junge" zu titulieren, viel weniger, eine derartige Anrede vonseiten einer Unfreien zu akzeptieren, immerhin zählte er bereits zwölf Lenze und würde binnen weniger Jahre die Toga Virilis verliehen bekommen und seine Geschicke der Res Publica zur Verfügung stellen. Dessenungeachtet schätzte er noch immer den Gebrauch von Spielzeugen, insbesondere seines geliebten Caius, jener hölzernen, in Laufe der Jahre durch intensiven Usus überaus abgenutzten Miniatur eines Nilkrokodils, welches sein claudischer Onkel ihm vor Jahren zukommen hatte lassen.
Und so schwankten seine Affinitäten, zum einen hin zu schroffer Refutation eines derartig ungebührlichen Habitus, welchen jene Marei offenbarte, zum andern aber zu einem gewissen Vorwitz, welcher drängte, die offerierten Spielgeräte zu akquirieren, um die trüben Tage in Einsamkeit mit Leben zu füllen. Nach den Tagen der Isolation und der Verdrossenheit bahnte sich hingegen endlich ein dritter Weg die Bahn und der Wunsch, seinen deplorablen Status einer Person mitzuteilen, traf ausgerechnet jenes vorwitzige Sklavenmädchen:
"Wie sollte es mir gehen, wo ich gänzlich verlassen bin? Mein Onkel liegt im Sterben, meine Mutter und Geschwister weilen an einem unbekannten Ort, mein Vater hat mich zurückgelassen! Seit Tagen und Monaten verlebe ich eine degoutierliche Zeit, ob zu Pferde oder inkludiert in dieses Haus, gefangen wie ein Tier und vertrieben aus der Stadt meiner Familia!"
Er zog seine Füße an den inzwischen wieder rundlich gewordenen Leib und umschlang sie mit den Armen, während sein Blick klagend zu seinem Besucher sich wendete, als wäre dieser seinerseits responsabel für all jene Umstände, welche dem Knaben das Gemüt beschwerten. -
Mit offenem Mund und großen Augen starrte sie den Jungen an, von dem sie nicht wusste, wie alt er tatsächlich war. Sie sah ihn immer noch im Bett sitzen.. vielleicht würde sie erkennen, dass er größer war als sie wenn er aufstand und daraus schlußfolgern müssen, dass er älter war. Alle Menschen, die größer waren als sie selbst waren älter, das bisher immer so gewesen. "Verlassen?" zog sie das Wort heraus welches ihn offenbar am meisten traf und schüttelte den Kopf. "Du bist nicht allein. Du musst gucken was du das beste draus machst und gucken, wie du da wieder raus kommst oder es verändern kannst. Von selbst kommt nichts heraus... nicht mal aus 'auf etwas warten'." erwiderte sie selbstbewusst. "Du bist kein Tier, Junge, du bist ein Mensch mit Haut und Haar. Magst du keine Pferde? Magst es nicht zu reiten? Ich würde so gerne wieder reiten gehen wenn ich könnte und dürfte." Während sie sprach kam sie immer näher und setzte sich auf den Schemel der seinem Bett am nächsten stand. "Warum bist du aus deiner Stadt vertrieben? Wegen deinem Papa? Wo ist deine Mama hin?" Sie trug eine rote Tunika mit gelben Borten, die Farben der Aurelier. Dazu braune Sandalen und eine braun-grün gefleckte Spange für die Scheitelsträhnen im brünetten offen liegenden Haar. "Du hast Geschwister? Wie schön.. ich habe keine... zumindenst weiss ich nichts von denen."
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