Bibliotheca | Declamationes

  • Additiv zum Studium bei Quinctius Rhetor waren die jungen Flavii auch gehalten, ihre rhetorischen Kapazitäten in Deklamationen, jener anerkannten Form der Übungsrede, auch privatim zu erproben, was sich angesichts ihres gemeinsamen Wohnortes in der Villa Flavia Felix sonderlich empfahl, wo der eine den anderen korrigieren und dieser jenem zu lauschen vermochte. Als adäquat hatte sich hierbei die Bibliotheca erwiesen, welche zum einen eine Vielzahl rhetorischer Standardwerke offerierte und somit im Falle eines Dissenses bezüglich stilistischer Vorgaben das Potential zur raschen Klärung darbot, die zugleich aber ein vertrauter Raum war, in welchem insonders Manius Minor einige Zeit bei der Lektüre der schönen Dramatik zugebracht hatte.


    Am heutigen Tage nun waren der Knabe und sein milonischer Neffe verabredet, weswegen ersterer recht bald und wie gewöhnlich in Begleitung seines Leibsklaven Patrokolos am Orte erschien und sich bis auf weiteres in einer jener Leseklinen platzierte, welche die flavischen Bewohner des Hauses stets zum Verweilen einluden, um die Ankunft seines Exerzitienpartners zu erwarten.

  • "...und Neoptolemus sah dastehn und halte das Eisen, während an ihrem Gesicht sein Blick stets haftete, sprach sie:" ......... "Zaudere nicht..." "Ah...! "Zaudere nicht, laß rinnen das Blut untad'ligen Adels! Auf, ich stehe bereit: in den Hals hier oder den Busen senke den Stahl!"
    Als der Erwartete sich dem vereinbarten Treffpunkte nähert, kann Gracchus bereits dessen anfänglich noch entfernt verklingende Stimme vernehmen, wie sein Studienkollege die eigene Stimme bereits ein wenig aufzuwärmen scheint und sich zu diesem Zwecke eines Exzerpts aus den Metamorphosen des Ovidius Naso bedient. Gänzlich ohne seine ihm nachfolgende Souffleuse, die Sklavin Vulpes, hat er die kurze Textpassage allerdings nicht vollendet. Dies betrübt den Studenten indes keineswegs und so biegt er mit einem strahlenden Lächeln in die Räumlichkeit ein, den Kameraden herzlich zu begrüßen. Auch für diesen privateren Rahmen hat der junge Mann sich äußerlich sorgfältig zurecht gemacht. Da das Wetter noch immer ein sommerliches ist, trägt er eine leichte Tunika von sattem Grün mit silbrigen Stickereien. "Manius! Gut siehst du aus... Ich hoffe, du hast nicht allzu viel geübt, um mir nicht wieder die Schmach des schlechteren Schülers zuteil werden zu lassen?" Ein schelmisches Funkeln liegt bei diesen Worten in Fusus' Augen, denn derlei Aufforderung meint er natürlich mitnichten ernst. Dennoch hat den jungen Flavier durchaus eine Art spielerischer Ehrgeiz gepackt, im direkten Vergleich mit den anderen Studenten des Rhetors sowie insbesondere gegenüber und auch für Gracchus Minor ein gutes Bild abzugeben. Sein größtes Problem ist seine Abhängigkeit von einer bestimmten Tagesform, welche ihn je nach Stimmung und Laune sowie schwankender Intensität seiner Vorbereitung und wechselnder Zuneigung zu behandelten Themen und Texten ein noch zu breites Leistungsspektrum erreichen lässt - von einem kreativen, brillianten Vortrag bis hin zu einer lustlos und lückenhaft vorgetragenen Litanei hat er qualitativ ein breites Repertoire.

  • Deplorablerweise waren die Metamorphosen Ovids dem jungen Flavius nicht in derselben Intensität geläufig wie dem älteren, ob dessen der Knabe mitnichten das ohnehin kaum verständliche Gemurmel korrekt einzuordnen vermochte. Endlich erblickte er aber Fusus, dessen Scheme hinter einem Buchregal hervortrat, gefolgt von dem ebenfalls wohlvertrauten Schemen seiner ihn stets akkompagnierenden Sklavin.
    "Mein lieber Iullus, du hast augenscheinlich bereits einen Teil deiner Rede repetiert, wie mir scheint! Zweifelsohne bist du also weitaus besser präpariert!"
    Er erhob sich mit einem Lächeln auf den Lippen und strich sich eine schlichte, hellgrüne Tunica glatt, auf welcher er intuitiv seine Bulla suchte, welche er doch vor langer Zeit bereits abgelegt hatte, sodass die Hand verschämt sich wieder senkte.
    "Coriolanus war das heutige Sujet, wie mir scheint? Du präferierst die Rolle des Renegaten, soweit ich mich entsinne? Oder sagt dir inzwischen die der senatischen Delegation eher zu?"
    Selbstredend war Manius Minor bewusst, dass sein Neffe bisweilen einen gewissen Wankelmut an den Tag legte, sodass eine Entscheidung vor geraumer Zeit mitnichten stets als unumstößlich zu gelten hatte, was indessen auch dem recht trägen Onkel zum Anlass gereichte, ein wenig mehr Flexibilität seinem Leben hinzuzufügen.

  • Melodisch lacht der junge Mann auf und winkt in einer gezierten Geste gelinde ab. "Nicht doch, Manius... Keine Sorge. Ich hatte nur Vulpes gebeten, mir eine kurze und neutrale Passage herauszusuchen, um meine Stimme ein wenig aufzuwärmen. Vermutlich stammt es wie so häufig aus den Metamorphosen, da ich bildreiche Texte und Geschichten bisweilen am einfachsten memoriere." Kurz geht ein Blick seinerseits mit fragend gewölbten Brauen an die Adresse der benannten Sklavin, welche Fusus' ausgesprochene Vermutung mit einem stillen Nicken dezent zu bestätigen weiß. "Ah... Du siehst: So ist es. - Doch soll uns diese Frage nicht länger beschäftigen, denn gibt es schließlich einen Diskurs zu gewinnen!" Tatsächlich hatte Fusus' Vorbereitung nicht darin bestanden, eine Rede vollständig und Wort für Wort vorzubereiten, sondern sich lediglich gewisse Argumentationsketten für die jeweiligen Positionen zu überlegen und diese in Form der vom Rhetor seinerzeit instruierten Technik einzustudieren, ohne sonderlich an den zu verwendenden Formulierungen zu feilen. Häufig war seine Arbeitsweise in den vergangenen Übungen von einem derartigen 'Mut zur Lücke' geprägt, welcher mit als eine Ursache für seine schwankenden Leistungen gesehen werden kann. Diese Tendenzen hat Gracchus Minor vermutlich unlängst durchschaut.


    Doch ehe man sich diesem Anlass zuwenden kann, stürzt das zuvorkommende Angebot seines Kameraden, die Rollenwahl selbst zu übernehmen oder erneut zu überdenken, den noch jugendlichen Flavius in eine kleine Bredouille. Seine glatte Stirn legt sich in leichte Falten und er streicht sich grübelnd über das glatte Kinn. "Mhhh... Ich verspüre am heutigen Tage einen gewissen Funken der Leidenschaft in mir, weshalb ich tatsächlich zur Rolle des Coriolanus neige." Seine Züge glätten sich, die Stirn wird wieder straff und ein munteres Lächeln hebt seine Mundwinkel, während sich die Körperhaltung des Flaviers entspannt. "Es sei denn - versteht sich - dass du selbst begehrst dich in jene Rolle zu begeben...?" will er die Wünsche des (zumindest ihm gegenüber) stets so gutmütigen Gracchus ebenso wenig außer Acht lassen. "...ich bin da flexibel!" fügt er daher noch ermunternd hinzu.

  • Konträr zu Fusus zählte gerade das Exerzieren der eigenen Stimmgewalt zu jenen Aspekten der Rhetorik, welche Manius Minor allzu sträflich vernachlässigte, weswegen die Darlegungen seines Anverwandten in ihm den Gedanken reifen ließen, nicht stets nur seinen Patrokolos sämtliche Rezitationen zu überlassen, sondern vermehrt selbst sich wieder darin zu üben. Doch galt es nun in der Tat gemäß der Mahnung, sich gänzlich dem anstehenden Deklamieren zuzuwenden, da doch die Stimme lediglich ein Werkzeug, der flinke Umgang mit Syntax und Grammatik, mit rhetorischen Figuren und Argumentationsstrukturen hingegen den wahren Meister der Beredsamkeit auszeichnete.


    Zumindest hatte seine Prognose sich als durchaus exakt erwiesen, was indessen keinerlei divinatorische Qualitäten hatte bedurft, da 'ein gewisser Funken von Leidenschaft' bezüglich seines Neffen nicht weniger als eine kolossale Untertreibung darstellte, womit der zürnende Renegat in der Tat diesem Flavius näher lag denn jenem, der sich doch eher durch Stille und Mäßigkeit auszeichnete, welche bisweilen als Bedachtheit interpretiert wurde. Dennoch war der Knabe während seiner Präparationen gewahr geworden, dass, konträr zu den letzten Lektüren jener Historie, seine Sympathien inzwischen durchaus aufseiten des Marcius Coriolanus lagen, da doch dieser ebenso mit den Konstriktionen von Familie und Tradition zu kämpfen hatte wie er selbst, der seinerseits bisweilen träumte, sich seines feigen Vaters ledig zu sprechen, dessen Versagen offen zu verbalisieren und jene Fassade des folgsamen Sohnes zum Einsturz zu bringen. Da er indessen konträr zu jenem ohnehin des hierfür notwendigen Mutes entbehrte und zweifelsohne auch stets entbehren würde, wich er trotz sämtlicher Sympathien und unerfüllter Träume doch, um den Renegaten anderen zu überlassen, sich selbst aber zum Apostel der Folgsamkeit und Subordination zu machen:
    "Nein, nein. Du wirst zweifelsohne einen formidablen Coriolanus abgeben!"
    Nachdem die Rollenverteilung nun klarifiziert war, stand dem Beginn der Disputation im Grunde nichts im Wege, sodass es dem jungen Flavius lediglich verblieb, nochmals den Rahmen zu rekapitulieren:
    "Somit können wir beginnen. Die Streitfrage lautet: 'Darf Marcius Coriolanus an der Seite der Volsker seine Heimatstadt attackieren?'. Damit wäre deine die Pro-Seite, die zu beginnen hat."
    Selbstredend würden sie anfänglich noch einer kleinen Weile des Sammelns bedürfen, da nicht zuletzt Quintilianus ja gemahnt hatte, dass die Stegreifrede lediglich für avancierte Rhetoren ein adäquates Exercendum darstellte, die Studenten dieser Kunst hingegen stets ihre Worte zu präparieren hatten, um eine fein geschliffene Technik sich anzueignen.
    "Möchten wir übrigens lediglich Rede und Gegenrede exerzieren, oder soll eine kurze Disputation folgen? Mir wäre es gleich."
    , entdeckte er noch ein letztes propädeutisches Disputandum, ehe sie nochmalig würden ihre Strategie memorieren können, wofür Patrokolos bereits eine Tabula bereithielt, die einseitig mit den erdachten Argumenten Coriolans, rückseitig hingegen mit denen der Frauen bestückt war.

  • "...natürlich darf er das!" entgegnet Fusus unpassenderweise und noch vor Beginn der eigentlichen Diskussion auf die Fragestellung. Damit zeigt er unbewusst einerseits eine möglicherweise als unzureichend anzusehende Ernsthaftigkeit gegenüber der Aufgabe als solche, sowie andererseits aber auch eine willige und engagierte Identifikation mit der von ihm einzunehmenden Rolle.


    Natürlich ist der Flavier sich aber dessen bewusst, dass dies nicht die eigentliche Frage seines Kompagnon war und ist, weshalb er kurz darauf schon schmunzelnd abwinkt und sich besinnt: "Einer kleinen Disputation bin ich mitnichten abgeneigt, lieber Manius. Aber wir können es gerne aus dem Diskussionsfluss heraus entscheiden - wie es sich gerade anbietet." Sodenn schürzt er leicht die Lippen, hat indes noch etwas anderes einzubringen. Mit leicht schiefgelegtem Kopf mustert er Gracchus Minor nachdenklich. "...aber müsste nicht die klagende Seite die Rede eröffnen? Schließlich habe ich als Beschuldigter ein Recht darauf im Detail zu erfahren, welche Vergehen oder gar Verbrechen mir konkret zur Last gelegt werden." Seinem Tonfall nach scheint er insistieren zu wollen, dass der jüngere von beiden die Herausforderung der Eröffnung ihm abnehme. "Als Coriolanus bin ich die im gedachten Vorlauf der Deklamation agierende Kraft, welcher mit Worten aus der Initiative deiner Partei fortan Einhalt geboten werden soll." Fragend wölbt der junge Mann seine fein zurechtgezupften Augenbrauen, ist trotz vorbelastender eigener Meinung weiterhin offen für den Standpunkt seines Gegenübers.

  • Ein leichtes Schmunzeln des Knaben kommentierte Fusus' Interjektion, welche aufs Neue die Rollenzuteilung jener Deklamationen bestätigte, während er selbst sich eines weiteren Kommentares enthielt, wie dies seiner stillen Art auch entsprach. Ebenso vermied er auch eine wortreiche Kommentierung der Proposition seines Neffen, obschon eine Disputation, welche aus einer laufenden Diskussion sich ergab, zweifelsohne bereits begonnen hatte und somit jede Frage über ihr eigenes Stattfinden erübrigt hatte, da ersteres lediglich eine Präzisierung von letzterem darstellte.


    Hingegen bedurfte die Zuweisung jenes schwarzen Peters, ja gar der Accusatorenrolle, durchaus einiger Worte:
    "Es mag ein Verbrechen sein, doch stehen wir in diesem Falle keineswegs vor Gericht!"
    , interjezierte er somit, den Anverwandten, eine freundschaftliche Neckerei hinzufügend:
    "Mir scheint, du fürchtest dich, den Anfang zu machen! Und das, obschon du doch weitaus älter bist als ich!"
    Jene These war nicht zur Gänze korrekt, da doch Fusus seinen 'Onkel' lediglich um wenige Lenze übertraf, doch wagte der junge Flavius zur Pointierung seiner Aussage jene Übertreibung. Dessenungeachtet jedoch sandte er sogleich eine wegwerfende Handbewegung hinterher, um einesteils die Nichtigkeit seiner Worte zu konfirmieren, andernteils eine Großspurigkeit zu demonstrieren, die er lediglich in Präsenz seines vertrauten Freundes zu mimen wagte.
    "Doch fürchte dich nicht, ich werde den Beginn auf mich nehmen. Ich werde nur nochmals rasch einen Blick auf meine Unterlagen werfen."


    Auch dies entsprach nicht völlig der Wahrheit, da doch ein Blick auf die Unterlagen Manius Minor lediglich ein verschwommenes Feld von Wachs präsentiert hätte. Da aber Fusus inzwischen selbstredend über die visuelle Unzulänglichkeit seines 'Onkels' informiert war, mochte der übertragene Sinn sich jenem nicht entziehen. In der Tat zog der Knabe sich somit hinter eines der Bücherregale zurück, gefolgt von Patrokolos und der Tabula, die dort in relativer Abgeschiedenheit verbal zu repetieren war, unterbrochen von diversen Einwänden und Reformulierungen des sich hiesig präparierenden Rhetors, welcher bisweilen gar ganze Passagen rezitierte, um ihrer nochmalig sicher zu werden, ehe der große Auftritt erfolgte.


    Endlich war Rekapitulation der gesamten Rede jedoch vollendet, sodass Herr und Knecht sich neuerlich zu Fusus begaben in der Hoffnung, dass jener ebenfalls seine Präparationen abgeschlossen hatte und bereit war, die Schlacht zu beginnen, respektive die erste Parade zu führen.
    "Kann ich beginnen?"
    , fragte der Knabe somit ein letztes Mal.

  • Das Schweigen des älteren Flavius deutete der Knabe leichthin als einen stummen Konsens, sodass er direkt fortfuhr:
    "Ich werde also in die Rolle der Volumnia schlüpfen. Du darfst dir mich also als greise Matrone imaginieren."
    , kommentierte er indessen erstlich auf ironische Weise nochmalig seine Rolle, wobei der Gedanke ihm selbst ein verschmitztes Lächeln auf die Lippen zauberte, er sich gar einen Augenblick versucht fühlte, durch eine gebeugte Haltung und verkrümmte Finger die Karrikatur einer Alten zu mimen, ehe ihm doch gewahr wurde, dass jene Übung durchaus ernsthaft war und eine Wendung des Geschehens ins Lächerliche ihrem Übungswert zweifelsohne abträglich sein mochte. So richtete er sich vielmehr ein wenig auf und räusperte sich, um sogleich eine künstlerische Pause, gewissermaßen die Ruhe vor dem Sturm, erfolgen zu lassen.

  • "Das ist zu gütig von dir, lieber Manius, wenn eine Wahl dir auch nicht bleibt. Schließlich bin ich in diesem Szenario derjenige, welcher mit kraftstrotzenden und kampfbereiten Truppen vor den Toren deiner ach so geliebten Heimat kampiert und folglich die Spielregeln dieses Zusammentreffens diktiere, welches einzig und allein durch meine Großmut mich deiner Argumentation zu stellen, überhaupt erst zustande kommen konnte." entgegnet Fusus schon geradezu gönnerhaft, wenn nicht der aus seinen Augen blitzende Schalk ihn entlarven würde.


    Nachdem also alsjeder sich seine Zeit genommen hat, treffen sie auf dem imaginären Schauplatz erneut zusammen. Fusus hat die Gelegenheit indes weniger intensiv genutzt als sein Kontrahent, indem er lediglich noch einmal das Gedankengebäude durchgegangen ist, welches er sich mit Hilfe der vom gemeinsamen Rhetoriklehrer Spurius Quinctius ihnen vermittelten Technik hat zurechtgelegt. In der genauen, wortwörtlichen Formulierung seiner Worte hat der Flavier schon immer stärker improvisiert als dies im Sinne der reinen Lehre gewollt und üblich war.


    Fusus nimmt eine aufrechte, stolze Haltung ein und bedenkt den jüngeren Onkel mit einem feinen Lächeln. Durchaus erreicht ihn die Pointe von Manius' Implikation und vor seinem inneren Auge formt sich ein Bild seines Gegenübers, in welchem er sich in Frauenkleidern und mit langem, ergrautem Haar präsentiert. "Nichts leichter als das, meine liebe Mutter. Wir haben uns wohl lange nicht gesehen... Du siehst heute übrigens bezaubernd aus, wenn mir diese Bemerkung trotz dieser unglücklichen Umstände unseres Aufeinandertreffens gestattet ist." erlaubt er sich die kleine Neckerei.

  • Die Ironie der Kommentierung seines Scherzes ließ den Knaben seiner Konzentration nochmalig verlustig gehen, sodass er gar vergnügt in sich hineinlachte, da doch jene Worte geradezu als typische Äußerung seines Neffen zu bezeichnen waren, welche er in eben jener Form zweifelsohne seiner Mutter hätte zugeeignet.
    "Ich danke dir, mein Junge! Deine Rüstung steht dir ebenso vortrefflich!"
    , replizierte er somit, gefangen in jener amüsanten Imagination eines Fusus Militaris, der zwar hinsichtlich seines Temperamentes durchaus Similitäten zu jenem Coriolanus aufzweisen mochte, doch weder in seiner Gestalt, noch seinen Neigungen komparabel zu sein schien.


    Doch verwarf Manius Minor jenes vergnügliche Scherzen schließlich doch, räusperte sich, blickte in die Runde, als wären Fusus und die Sklaven eine Schar Geschworener, und nickte.
    "Marcius Coriolanus, siegreicher Feldherr Roms!"
    , begann Manius Minor dann endlich seine Deklamation, wobei die Anrede zugegebenermaßen die leichteste Partie jener Exerzitie darstellte, ehe der Knabe gedanklich erst in das imaginierte Haus eintrat, welches den Lehren des Quinctius gemäß als Vehikel der Kommemoration des Redetextes diente. Das Vestibulum barg hierbei wie gewohnt das Exordium, jenen Redeteil, der gleich dem Umkleideraum hinter der Porta gewissermaßen ein Präludium zum eigentlichen darstellte, in diesem Falle also der bittenden Rede der Mutter Coriolans. Durchaus fand er an den Wänden bereits ein imposantes Schlachtengemälde, welches ihm jedoch erst in den Blick geriet, als er das Lachen von Kindern vernommen hatte, die die Familie des Renegaten symbolisierten.
    "Die Väter Roms, ja selbst deine greise Mutter und deine geliebte Gattin, die Mutter deiner Söhne, stehen vor dir! Vor dir sind wir erschienen, um dir den einmütigen Willen der Quiriten zu unterbreiten, die darauf brennen, dich aufs Neue in ihrer Mitte begrüßen zu dürfen. Lange hast du die Geschicke unserer Stadt geführt und viele siegreiche Schlachten geschlagen, was dich als großen Feldherrn und Strategen auszeichnet, weshalb wir nicht zweifeln, dass du klug entscheiden und unserem Bitten Gehör schenken wirst."
    Für eine Captatio benevolentiae mochte dies genügen, wie der Knabe hoffte und welche er, wie er zu seiner größten Befriedigung notierte, trotz der Länge der Sätze fehlerfrei rezitiert hatte.


    "Vor dir stehen wir somit heute um dich zu ersuchen, von Rom abzulassen und in dein Vaterhaus zurückzukehren, anstatt es mit Feuer und Schwert zu vernichten. Doch wie konnte es zu jener schrecklichen Lage kommen?"
    Fragend blickte der Knabe um sich, als wären nicht lediglich Fusus, Patrokolos und Vulpes sein Auditorium, sondern sämtliche Bücher der Bibliotheca, die in ihren Regalen wie die Senatoren auf den Stufen der Curia ihm folgten.


    "Du entstammst doch den Marcii, einem der edelsten und ältesten Geschlechtern Roms, welches gar selbst schon zu jenen Zeiten unserer Res Publica dienten, als Iunius Brutus die Könige vertrieb! Seither lenken sie mit den übrigen Patres die Geschicke des römischen Volkes, bekleiden die höchsten Ämter im Staate, brachten Consuln und Praetoren hervor und führten zahlreiche Heere unserer Stadt in die Schlacht, wo sie unsterblichen Ruhm erlangten. Doch auch du selbst musst hinter ihnen nicht zurückstehen, denn du rettetest am Lacus Regillus einem Bürger das Leben und für deine Heimatstadt warfst du die Volsker nieder-"
    Für einen winzigen Augenblick stockte der junge Flavius, geistig sich bereits im Atrium bewegend, wo er von den Masken der Maiores hinab zu einigen Vasen geschritten war, deren assoziatives Pendant er nicht mehr sicher zuzuordnen wusste.
    "Mit Recht darfst du dich somit deiner Ahnen rühmen und ihre Verdienste hervorheben, ja es erscheint mitnichten abwegig, dass du all jene mit Misstrauen betrachtest, die nicht auf noble Herkunft und persönlichen Ruhm, sondern durch die Plebs ihre Macht legitimieren und Mitsprache in den Angelegenheit der Res Publica beanspruchen. Doch übermannte dich auch Hochmut, als du begannst, das Volk gering zu schätzen, das doch an deiner Seite gekämpft hatte, und eine Hungersnot für deinen politischen Kampf gegen die Tribuni Plebis auszunutzen. Dies waren die Gründe, warum deine Wahl zum Consul scheitern musste, da doch der Consul das Haupt der gesamten Res Publica, bestehend aus Senat und Volk von Rom. Es mag dies eine tiefe Kränkung gewesen sein, da doch dieses Amt schon diverse Male von deinen Ahnen bekleidet wurde und dir wohl anstünde. Schlimmer noch mag das Exil dich gegen dein Volk aufgebracht haben und ich muss gestehen, dass jenes Verdikt durchaus von großer Ungerechtigkeit war, dass die Tribuni Plebis ihre Macht missbrauchten und das Volk über Gebühr gegen dich aufhetzten, den Rat der Patres in den Wind schlugen und dich aus Rom verbannten.
    Das größte Unrecht begingst danach jedoch du, als du mit dem Feinde Roms paktiertest, um dich gegen dein Vaterhaus zu wenden! Als du das Heer des Feindes in das Land führtest, das deine Väter einst selbst mit ihrem Blut bezahlten, und jene dem Tode weihtest, die du einst selbst in die Schlacht führtest."

    Mit größtem Engagement rezitierte Manius Minor jene Zeilen, während sein gedanklicher Rundgang hurtig voranging, er an einzelnen Objekten verharrte, welche verlorene Wahlen, militärische Siege und grässliche Frevel symbolisierten, um endlich die Narratio zu beenden und in medias res zu gehen und damit jenen Teil seines imaginierten Hauses zu betreten, der der Familie vorbehalten war. Dort im Tablinium und dem angegliederten Tabularium mochte er jene Argumente finden, welche es zuerst zu widerlegen galt:
    "Du magst sagen: 'Rom hat mich verbannt! Ich bin kein römischer Bürger mehr!' Ich aber sage dir: Die Comitia haben jenes Verdikt aufgehoben und wünschen dich wieder in ihre Reihen zurück! Aus diesem einen Grunde sind gar mehrere Gesandtschaften zu dir gekommen, um dir die frohe Kunde zu bringen, dass du neuerlich jenem Volk zuzurechnen bist, das an Größe alle Italiker übertrifft! Du bist wieder ein Römer, wie auch-"
    Neuerlich stockte der Knabe, da ihm beinahe ein 'ich' entfleucht wäre, da er doch die Rolle der Volumnia eingenommen hatte. Da dies indessen zweifelsohne ein weiteres komisches Moment evoziert hätte, welches zu meiden er sich anschickte, korrigierte er sich, noch ehe es ausgesprochen war:
    "-deine Mutter dich geboren hat! Die Gesetze unseres Volkes und deiner Väter lassen also keinen Zweifel, dass du ein Römer bist wie ich.
    Auch magst du sagen: 'Man hat mich der Schande preisgegeben, als man mir das Consulat verweigerte!' Doch auch hier musst du erkennen, dass das letzte Wort in dieser Angelegenheit nicht gesprochen ist. Jedes Jahr werden neue Consuln gewählt, jedes Jahr besteht die Option und jedes Jahr scheitern angesehene Männer in ihrer Kandidatur! Keineswegs musst du dich also ob jener vermeindlichen Schande grämen, vielmehr nach vorn blicken: Das Volk brennt auf deine Rückkehr und möchte dich in seiner Mitte wissen. Warum also sollte es Einwand erheben gegen eine neuerliche Kandidatur, die nach dieser neuerlichen Probe deiner militärischen Kapazitäten zweifelsohne von Erfolg bekrönt sein wird, aufdass du zukünftig wieder unsere Heere zum Sieg führst?
    Du magst sagen: 'Warum sollte ich mich jenen Risiken stellen, wo mir Rom ohnehin offen steht, nachdem das volskische Heer die Quiriten bereits geschlagen hat?' Doch auch hier ergeht meine Warnung:"

    Neuerlich stockte der Knabe, da jene Passage ihm besondere Mühen bereitet hatte, wo doch jene augenscheinlichen Triumphe Roms, namentlich jener über den über Jahre Italia durchpflügenden Hannibal, historisch nach den Lebzeiten des Coriolanus lagen und somit illegitime Argumente darstellten. Letztlich war es ihm so lediglich verblieben, einige allgemeine Annotationen zu machen:
    "Die Quiriten sind ein zähes Volk, schlachtenerprobt und von unbeugsamem Willen. Iuppiter Optimus Maximus selbst hat dem Romulus die Weissagung gemacht, sein Volk, die Gens Togata, werde den Erdkreis beherrschen. Wie soll es also geschehen, dass das Volk der Volsker jenen göttlichen Spruch zunichte macht?"


    Nun endlich war die Positionierung der eigentlichen Argumente an der Reihe, für welche Manius Minor sich einiger Mahnungen Manius Maiors erinnert hatte. Lagen diese bereits ein knappes Jahrzehnt zurück, war er auch unverständig und infantil noch gewesen in jenen Tagen, so hatten sich die parentalen Worte doch gewissermaßen imprägniert und wogten immer wieder durch seinen Geist: 'Deine Herkunft, dein Stand und dein Menschsein gebieten drei Intentionen, nach welchen dein persönliches Streben stets auszurichten ist: das Wohl der Familie, das Wohl des Imperium Romanum, sowie die Wahrheit - in eben dieser Reihenfolge.' Galten jene Worte für die Flavii, so mussten sie auch generalisabel sein für sämtliche Personen similärer Herkunft und similären Standes, worunter wohl auch jener Coriolanus zu subsummieren war:
    "Als deine Mutter ermahne ich dich deshalb, deine Waffen zu strecken, wie es dir die Wahrheit, dein Vaterland und deine Familie gebieten:


    Willst du die Wahrheit nämlich nicht verleugnen, so musst du erkennen, dass dein Groll gegen die Plebs Romana ein Irrsinn ist. Gedenke der Fabel des Menenius Lanatus, die er damals zu jenen Männern sprach, die voller Zorn ebenfalls Rom den Rücken gekehrt hatten: Wie die Glieder des Leibes des Magens bedürfen, da jener sie nährt und sättigt, so bedarf umgekehrt auch der Magen der Glieder, denn wie sonst soll die Speise in ihn gelangen, wie soll der Leib sich bewegen und existieren?
    Der Staatskörper bedarf somit der Plebs und keineswegs dürfen ihre Interessen ungehört verhallen, ebensowenig wie die Klugheit und Expertise der Patres darf übergangen werden. Beide Prinzipien, Senat und Volk von Rom müssen ihre Stimme erhalten, damit der Staatskörper gesund bleibt."

    Bei der Präparation jener Worte waren dem jungen Flavius die Lektionen seines Grammaticus bezüglich des Kreislaufes der Konstitutionen von Gemeinwesen nach Polybios in den Sinn gekommen, wonach die Regierungsformen sich beständig ablösten, dass die Herrschaft eines Einzelnen, der Besten und des Gesamtvolkes stets nach einiger Zeit ins Negative driften würden, um einer anderen guten Regierungsform Raum zu bieten. Lediglich eine Mischverfassung, wie sie in Rom schon zu Zeiten besagten Historikers hatte bestanden, konnte jenen Circulus vitiosus durchbrechen und so Beständigkeit und Ruhe für das Gemeinwesen garantieren.
    "Du wirst also erkennen müssen, dass deine Ideen ein deplorabler Irrtum gewesen waren, dass deine römische Heimat das beste aller möglichen Gemeinwesen darstellt.


    Zudem ist Rom aber nicht nur ein wohlregierter Staat, er ist vor allem dein Vaterland, welches zu negieren impossibel ist! Gedenke deines Standes, der stets im Dienste jener Stadt gestanden hat, gedenke deines Ahnherren Numa Pompilius, der als erster die Kulte dieser Stadt ordnete, gedenke jener Patres, die bereits den Königen Rat und Hilfe boten, die die Unwürdigen aus dieser Stadt vertrieben und seither die Geschicke dieses Staates lenken! Bedenke auch, dass diese Stadt es war, in die hinein deine Mutter dich gebar, die dich aufzog und nährte, dass deine heutigen Feinde jene sind, mit denen gemeinsam du die Toga Virilis anlegtest, erstmalig den Senat betratest und Magistraturen bekleidetest! Du magst einen Groll gegen einige von ihnen hegen, magst dich von ihnen gekränkt und abgewiesen fühlen. Doch letztlich ist diese Stadt dein Vaterland, wurde der Tempel des Ianus, dessen Pforten deinethalben geöffnet wurden, von deinem Ahnen erbaut. Du selbst hast für sie blutige Kriege gefochten, hast unendliche Mühen auf deine Schultern geladen und die Volsker niedergeworfen, um sie groß zu machen!
    Dies ist dein Vaterland, welches du nimmermehr kannst negieren!


    Insonderheit ist es aber nicht nur dein Vaterland, sondern auch das deiner Familie. Rom ist die Stadt, wo die Gräber deiner Ahnen liegen, die Tempel, die sie erbauten, stehen! Hier ist dein Haus, sind deine Penaten und Laren heimisch! Und hier brachte deine Frau dir Söhne zur Welt, die einstmals deinen Namen tragen und dein Andenken ehren sollen! Willst du tatsächlich all dies der Zerstörung anheim fallen lassen? Willst du, dass die Gräber deiner Väter zu Staub zerfallen, deine Frau und deine Mutter in die Hände jener fallen, die du selbst gegen sie führst?
    Ich frage dich: Wer soll zu den Parentalia Opfergaben auf die Gräber deiner Ahnen stellen, wenn du eines Tages selbst die Verwesung schaust? Wer soll an jenen uralten Stätten den Göttern Roms opfern, die auch die deinen sind? Wo sollen deine Söhne Tugend und Stolz erlernen, wenn nicht an jenem Ort, wo sie die Ehrenmäler ihrer Ahnen erblicken, wo der Name Marcius klingt wie Donnerhall? Sollen sie stattdessen als Fremde in einem Dorf jener Volsker leben? Sollen sie vergessen, woher sie stammen und was sie sind?"

    Der Raum der Familie war das Cubiculum seines imaginären Hauses, der ja zum Privatissimum einer herrschaftlichen Domus zählte. Einen Augenschlag blickte er sich imaginär nochmalig darin um, doch glaubte er, jedes Detail erfasst zu haben. So verblieb die Peroratio, die seine Deklamation zu einem Ende führen sollte:
    "Nein, Marcius Coriolanus: Dies darf nicht geschehen! Höre die Worte deiner Mutter, erkenne die Wahrheit, gedenke deines Vaterlandes und deiner Familie! Lass ab von deinem schändlichen Tun, strecke die Waffen und kehre dorthin zurück, wo du herstammst, als das, was du bist: ein Patricius Romanus, ein stolzer Quirite und Sohn einer römischen Matrone! Darum bitte-"
    Ein letztes Mal stockte der Knabe, da ihm doch gerade noch zur rechten Zeit wurde gewahr, dass er ein stärkeres Verb hierfür präpariert hatte:
    "-nein: flehe ich dich an! Nein, ich befehle es dir als deine Mutter, in deren Leib du geformt wurdest und deren Milch dich genährt hat, die dich erzog und dir die Toga Virilis reichte! Lass mich nicht in Gram sterben, sondern erfülle mich mit Stolz, wie es deine Mutter verdient hat!"
    Als der junge Flavius geendet hatte, musste er erkennen, dass er sich durch seine eigenen Worte in größte Emotionalität gesteigert hatte, sodass es ihm fast schien, als wäre der Scheme des vor ihm lauschenden Fusus in der Tat der Renegat Coriolanus (obschon er sich doch nicht fühlte, als sei er ein altes Weib, das ihn geboren hatte). Nach einigem Schweigen indessen malte sich ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen, da er doch mit minimalen Insekuritäten den langen Redetext vorgebracht hatte und nicht geringen Stolz empfand, eine derartige Rede erdacht zu haben.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!