Seit einigen Wochen weilte Dexter nun im Hause seiner Familie in Rom. So war es nicht ausgeblieben, dass er seine Verwandten, und sie ihn, zumindest flüchtig kennengelernt hatten. Beziehungsweise dass er die Bekanntschaft, bei jenen, die für ihn lediglich eine Erinnerung aus Knabenzeiten gewesen waren, wieder aufgefrischt hatte.
Dexter zeigte sich stets wohlerzogen, und artig hatte er Bericht erstattet über seine Studienzeit in Athen, auf Skios und am Museion von Alexandria. Tiefergehende Gespräche hingegen hatte er bisher kaum geführt. Was daran liegen mochte, dass er durch die Warnungen seiner Mutter eine inhärente Reserviertheit gegenüber der Gens seines Vaters aufrechterhielt. Stets hielt er sich gewappnet gegen böse Überraschungen, beobachtete genau, achtete bei jeder Geste und Gebärde eines Anverwandten darauf, ob darin Anzeichen eines lauernden Wahnsinnes mitschwangen. Bisher hatte er zwar keine eindeutigen Hinweise auf ein solches Übel entdecken können. Doch ebensowenig hätte er die Hand dafür ins Feuer gelegt, dass seine Verwandten sich ungetrübten geistigen Wohlbefindens erfreuten.
Die Räder der Welt drehten sich weiter in jener Zeit. Die Blockade der Stadttore war endlich aufgehoben worden. Der Senat war während vieler Sitzungen damit beschäftigt, dem Reich einen neuen Kaiser zu küren, und mehr und mehr zeichnete sich bereits ein Sieg des Aquilius Severus ab. Die Ludi Ceriales wurden, wohl aufgrund dessen dass der plebeische Aedil sein Budget schon in der letzten Amtszeit verbraucht hatte, recht unspektakulär begangen.
Dexter war in Begleitung Tanits und Molochs viel in der Stadt umhergeschweift. Auf den Foren und in den Thermen hatte er die Ohren gespitzt. Auch hatte er einigen Bekannten seiner Mutter und seines Stiefvaters Höflichkeitsbesuche abgestattet.
Noch war Rom ihm nicht wieder Heimat geworden. Er vermisste das Museion, das Leben auf dem Campus, die inspirierenden Gespräche, er vermisste (schmerzlicher als er es in ihrer Gesellschaft je für möglich gehalten hatte) seine Commilitonen und die raren Freunde unter ihnen. Bisweilen zog er sich dann in die Bibliothek zurück, und vergrub sich in einer der Schriftrollen, die er kistenweise als Abschriften aus Alexandria mitgebracht hatte. Er hatte sie der Hausbibliothek einverleibt, von A wie Atomlehre bis Z wie Zenons Paradoxa. Zum Unwillen des alten Mago studierte er sie jedoch nicht nur dort, sondern schleppte beständig irgendein Werk mit sich herum.
Im Augenblick war es ein Kommentar zu den Zehn Tropen des Ainesidemos von Knossos in dem Dexter las. Es war im Chrysotriclinium, wo er sich auf einer Polsterbank ausgestreckt hatte. Aufgrund der Festtages hatte Tanit ihn heute dazu bewegen können, sich in eine elegante Synthesis mit Kornährenmuster zu kleiden. Doch Dexter hatte etwas Schroffes an sich, etwas Widerborstiges in seinen Bewegungen, was auch das eleganteste Gewand in dem Augenblick in dem er es anlegte, zur puren Zweckmäßigkeit verdammte. Nie hielt sich ein Faltenwurf lange, edle Stoffe zerknitterten zwangsläufig, und Stickereien, die zuvor durchaus kunstvoll gewirkt hatten, schienen an ihm nurmehr rustikal.
Dexter hatte den Kopf in die Hand gestützt, und eine grüblerische Furche stand zwischen den Brauen. Er war etwas zu früh zur abendlichen Cena der Familie erschienen. Die Sklaven waren noch bei den letzten Vorbereitungen. Und so wartete Dexter, versunken in große Gedanken über epoché und phainómena, auf das Eintreffen der anderen Familienmitglieder...