Domus Sulpicia | Das Domizil des Flavius Gracchus Minor

  • Am Morgen nach jener ersten Probe vom Saft des Schlafmohnes erwachte der junge Flavius mit einem überaus blümeranten Gefühl innerhalb seiner Vitalia. Obschon keineswegs ihn die vertrauten Leiden des erloschenen Weinrausches plagten, da doch er am Vorabend keinen Anlass mehr hatte erkannt, sich hemmungslos dem Weine zu ergeben, so hatten jene Wirkungen sich keineswegs durch ein Wohlsein vertauscht, denn statt seinem Haupte schmerzte nun primär sein Unterleib.
    "Patrokolos... mir ist unwohl!"
    , murmelte er dem Diener zu, welcher wie gewohnt zu seinen Füßen auf seinem Lager sich hatte ausgestreckt, nachdem er seinen Herrn nach einem Abend voll wohliger Saturiertheit und erquicklicher Gespräche nach Hause hatte geleitet. Wie Manius Minor nunmehr gewahr wurde, vermochte er jenes Geschehen, konträr zum Ende der üblichen Gelage im Hause des Dionysios recht deutlich zu memorieren, was indessen ihn nicht mit ungetrübter Freude erfüllte, denn es erschienen ebenso Remineszenzen an einen Tanz, welchem er sich gemeinsam mit Anaximander und Dionysios zu späterer Stunde hatte hingegeben und der bestenfalls einem Schauspieler zur Ehre hätte gereicht.
    "Erwache, Patrokolos!"
    , fügte er, nachdem der Sklave sich nicht rührte, mit größerem Nachdruck an. Die Übelkeit in seinem Inneren trieb ihm bereits den Schweiß auf die Stirne und schon fürchtete er, in seine Liegestatt zu vomitieren, würde man ihm nicht rasch seine Waschschale oder ein alternatives Behältnis reichen. Doch Patrokolos schlief augenscheinlich den Schlaf der Gerechten, denn anstatt wie gewöhnlich eiligst sich zu erheben, wand er sich nur ein wenig auf seinem Lager und ließ ein zufriedenes Schmatzen vernehmen.


    Mit einem tiefen Seufzen fasste der junge Flavius endlich den Beschluss, selbst tätig zu werden und schob zaghaft ein Bein von der Kline. Die Bewegung seiner Glieder indessen entlockte seinem Magen ein grimmiges Knurren, welches, wie der assistierende stechende Schmerz offenbarte, keineswegs dem Hunger, sondern vielmehr der Überfülle war geschuldet. Neuerlich seufzte der Jüngling, doch glitt er endlich von seinem Bett und machte einige Schritte hinüber zu dem Tisch, auf welchem eine Schüssel sowie eine Karaffe mit klarem Wasser ihn erwartete. Jeder Schritt schien einen neuen Schwall eisigen Schweißes aus seinen Poren zu treiben, verbunden mit einem gräulichen Rebellieren sämtlicher Vitalia. Gerade zur rechten Zeit gelangte er noch ans Ziel und erbrach sich, ohne die Spiegelung seines Schemen im blankgeputzten Metall zu achten, herzhaft in die Schüssel. Derartiges war ihm mit Wein niemals geschehen (obschon er sich am Abend des Gelages selbst nicht selten bewusst zum Vomitieren hatte gereizt, um einem Unwohlsein zuvorzukommen).
    Nachdem sein Magen augenscheinlich sich hatte entleert, wurde der junge Flavius noch sehr viel deutlicher jener abscheulichen Kälte gewahr, welche der Schweiß seines Leibes selbst zu produzieren schien, sodass ihn trotz des sonnigen Morgens geradezu ein Schüttelfrost befiel. Noch immer drückte ihn sein Unterleib und so brach er, nicht im geringsten geneigt, sich länger auf den Beinen zu halten, kraftlos an Ort und Stelle zusammen. Gelehnt an die filigranen Beine des Tischchens, welches durch die Last seines Gewichtes gänzlich an die Wand wurde gerückt, blickte er zu jenem schemenhaften Bündel, welches sein Diener musste sein und rief mit jämmerlicher, klagender Stimme:
    "Patrokolos!"
    Dann schloss er die Augen. Opium hatte ihm einen fabulösen Abend bereitet. Der Morgen war eine abscheuliche Mär.

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Er schwebte. Mitnichten gleich jenem Schweben,welches der Corpus im freien Fall zu verspüren glaubte, sondern vielmehr gleich einem Vogel, einem erhabenen Habicht, welcher in unendlicher Höhe seine Bahnen zog auf der Suche nach Beute. Doch obschon er mit größter Klarität zu sehen imstande war, ja weitaus schärfer als in frühesten Kindertagen, da sein Augenlicht ihm noch nicht seine Dienste hatte aufgekündigt, so bedurfte er dessen doch nicht, um sich irgendeiner Nahrung zu bemächtigen, da er im Stande höchster Saturiertheit sich wähnte, in dem weder Hunger noch Durst, weder Furcht noch Reue, weder Trauer noch Desperation ihn torquierten, sodass er gänzlich er selbst konnte sein und schlichtweg sich dem puren Genusse der Faktizität der eigenen Existenz konnte hingeben. Und in der Tat war diese Existenz in höchstem Maße delektabel, denn nicht nur wärmte ihn eine bald purpurne, bald leuchtend orangene Sonne über ihm, auch kühlte ihn der Wind unter seinen Fittichen, respektive Armen. Unter ihm zogen Wolken in den infiniten Nuancen des Regenbogens vorbei, bald scharlachrot, bald himmelblau, grasgrün oder glänzend gülden. Zugleich erfüllte erquickliche Musik den Himmel, durchzog ihn visibel in behäbigen Wellen, welchen schwebend er folgte in ihrem tranquillierenden Auf und Ab.


    Weit unten erblickte er die Urbs, welche aus dieser Perpektive nicht lebhafter als ein winziges Bauerndorf wirkte. Vorwitzig stieß er hinab, hielt auf das Forum zu, wo endlich aus dem statischen Muster der Häuser sich ein wildes, ameisengleiches Gewusel an Menschen löste, deren Identität ihm dank seines famosen Auges trotz der Distanz sich rasch offenbarte: Hier zog der Princeps sorgengram seine Runden durch die imperialen Gärten, dort eilte geschäftig sein Vater, der Consul, gefolgt von einer Entourage serviler Geister, von einem Termin zum nächsten, während der Praetor auf seinem Tribunal sich ob infiniter Nihilitäten, in diesem Falle eines Ehrenhändels zweier arroganter Emporkömmlinge, das Hirn zu zermatern hatte, ein Kandidat hingegen in strahlendweißer Toga von einem Senatoren zum nächsten scharwenzelte, gleich der Katze um den wohltemperierten Brei, und zwei unter ihnen verbissen um einen Immobilienhandel disputierten, welcher ihren ohnehin bereits unermesslichen Reichtum noch mehren sollte. Sie alle waren überaus geschäftig, wuselten hierhin und dorthin und kamen doch nicht vom Fleck, zu schweigen von den Mannen auf dem Capitolium, die ihren letzten Denar in einen imposanten Stier hatten investiert, um die Götter zu versöhnen, während am Auguraculum ein privater Augur seinem Tagewerk nachging, abergläubischen Narren durch Weissagungen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Es war ein gewöhnlicher Tag in Roma, jener vermeintlich bedeutendsten Stadt auf dem Erdenkreis, und doch jagte hier kein einziger dem Glück, sondern jeder lediglich dem schnöden Mammon, dem leeren Ruhm oder der imaginierten Pax Deorum nach.


    Unbeschwert gewann er so neuerlich an Höhe, durchstieß die wollig-weiche Wolkendecke und reihte sich ein in jenen Fluss aus Musik und Glückseligkeit, der über Berg und Tal und die unendliche Weite des Mare Nostrum hinweg ihn stetig vorwärts, ja aufwärts führte bis hinauf in die obersten Sphären, wo die Sterne gleich bescheidenen Öllampen am Dach der Welt hingen, obschon auch dies lediglich eine Illusion musste sein, da das All doch unendlich, die humane Imaginationskraft hingegen begrenzt war. Da doch jene schwindelnden Höhen ihm nach einiger Zeit ebenso nicht mochten behagen, wendete er seine Direktion aufs Neue und tauchte wieder hinab in die Tiefen der Menschen. Seine Destination war nunmehr indessen der südliche Kontinent, wo unermessliche Wüsten den Horizont bedeckten, durchbrochen von kleinen Karawanen und Lagern, in welchen im Wechsel gierige Händler, nicht minder gierige Banditen und tollkühne Soldaten in lebensfeindlicher Atmosphäre ihr Dasein fristeten.


    Mit einem Schlag seiner Flügel beschleunigte er daher seinen Flug und eilte vorwärts, hin zu dem grünen, palmengesäumten Streifen auf der schwarzen Erde des Nilus, wo der Sage zufolge Überfluss und Wohlstand regierten. Doch was musste er erblicken? Emsige Bauern, die unermüdlich die Räder antrieben, welche mehr und mehr Wasser und fruchtbaren Schlamm auf ihre Felder pumpten. Orientalische Despoten, die ängstlich hinter bewaffneten Knechten sich verschanzten, während ihre Häscher zugleich mehr und mehr aus den wehrlosen Bauern herauspressten. Fischer und Fährleute in winzigen Booten, die ohne Rast ihren Fang, respektive obsolete Luxusprodukte aus dem Orient von hierhin nach dorthin führten. Alle exhaustierten sich ohne jede Lust, jeder mühte sich, seinen Schlund noch üppiger zu füllen, seinen Nachbarn an Wohlstand zu übertreffen, immer mehr und mehr zu erwirtschaften.


    Wieder stieß er sich also ab, gewann an Höhe und Distanz, bis endlich er des Meeres wurde ansichtig und davor jener Stadt, die der große Alexander selbst hatte begründet. Hier in den hellenischen Städten, die seit Jahrhunderten im Wohlstand schwelgten, doch seit jeher politischer Macht entbehrten, musste die Glückseligkeit doch zu finden sein! So hob er aufs Neue an und überflog die ärmlichen Viertel von Rhakotis, um zum Zentrum und der Agora vorzudringen, an welcher sich die Heiligtümer griechischer Lebenskunst reihten. Doch was musste er entdecken? Im Gymnasion wohlgestalte Epheben, die doch sich im Ringkampf die Gelenke destruierten und beim Boxen ihre lieblichen Antlitze zermalmten, um damit die Gunst eines anderen Jünglings zu erringen. Im Theatron hingegen buhlten die Artisten um die Gunst des Publikums, fristeten Stunden und Tage mit dem Präparieren von Texten und dem Exerzieren dramatischer Gesten, anstatt sich ihres Lebens zu erfreuen.
    Desillusioniert wandte er sich auch von jenem tragödienhaften Possenspiel ab, welches das Leben schrieb.
    Zuletzt überflog er das Museion, den Hort der Musen, welcher die klügsten Häupter des Erdkreises versammelte. Hier zumindest musste doch die Glückseligkeit zu finden sein! Doch was erblickte er? Eitle Gelehrte, deren Gedanken nicht um die Lust des Wissens, sondern den Schmerz der Unwissenheit kreisten, welche die Gelehrsamkeit als ein Schlachtfeld behandelten, auf es lediglich den studierenden Kollegen zu schlagen galt. Und selbst die Akroatoi, die sich auf den Wiesen dort lagerten, visitierten die Lektionen und Disputationen nicht etwa aus eigenem Antrieb, sondern auf den Ratschluss ihrer Väter hin, um sich des Titels jener reputierlichen Institution schmücken zu können.


    Der Anblick so großer Narrheit inmitten des Zentrums der Weisheit ließ ihm das Herz schier springen. Wo nur sollte er den Trost eines edlen Vorbildes finden?
    Vom Dach des Paneion stieß er endlich sich kraftvoll in die Höhe, breitete seine Flügel aus und stieg und stieg und stieg. Er passierte die possierlichen, vielfarbigen Wolken, die lieblichen Ströme der Musik, selbst das himmlische Blau bis hinauf zur Nacht der äußersten Sphären, wo einsam die Sterne ihr Licht versprühten. Hier, in den höchsten Höhen mussten die Unsterblichen zu finden sein, die die Weisheit vollendet hatten, ja womöglich Epikur selbst zu einem der ihren hatten erkoren.
    In der Tat erblickte er, nachdem er die Sonne hatte passiert, ein fernes Leuchten, der Morgenröte gleich. Freudig hielt er darauf zu, beschleunigte seinen Flug, eilte und eilte und...


    ~ ~ ~


    ...erwachte. Keineswegs das Licht einer polychromen Sonne, sondern lediglich sanfte Strahlen, welche die Fensterläden seines Schlafgemaches durchbrachen, beschienen sein Antlitz und hatten ihm augenscheinlich den Schlaf geraubt. Mit einigem Bedauern gedachte er der soeben noch durchlebten phantastischen Realität seiner Träume, der Schwerelosigkeit und Klarität des Geistes, jenes Über-den-Dingen stehens, welches er dank der Lehren Epikurs hatte gewonnen. Obschon er zu der Einsicht war gelangt, dass er mit der Intervention der Unsterblichen nicht mehr hatte zu rechnen, so verspürte er doch den Wunsch, ihrer zumindest im Traume ansichtig zu werden, um Trost zu finden vor so viel Tollheit der Welt, sei es in Rom, sei es in Alexandreia oder anderswo. Der Reichtum unserer Natur ist begrenzt und leicht zu erwerben; aber der Reichtum an wertlosen Meinungen weitet sich aus ins Unendliche. Wie wahr doch jene Einsicht war!


    Und doch war er genötigt, vorerst mit jener einzigen Welt sich zu arrangieren und die Narren Narren sein zu lassen. Er schluckte einen säuerlichen Gustus in seinem Munde, zweifellos ein Relikt des gestrigen Opiumkonsums, hinab und griff gedankenverloren nach dem Becher, welcher Morgen für Morgen ihm unermessliche Labsal erschaffte und nahm einen Schluck kühlen, klaren Wassers.

  • Wie so oft hatte der junge Flavius es versäumt, sich des Abends noch vom Hause des Dionysios in sein angestammtes Bett zu transferieren, sondern war auf der Kline vom Opiumrausch direkt in den Schlaf hinübergeglitten. Die Sonne hatte die uniformen Dächer Alexandreias somit bereits überschritten, als er, noch immer leicht berauscht, endlich die Domus unweit des Paneion erreichte, wo Diogenes wie so oft ihm schweigend öffnete und er die wohltuende Kühle des Hauses als scharfen Kontrast zur morgendlichen, doch konstant schwülen Hitze der Straßen verspürte. Indessen war es ihm an diesem Morgen mitnichten vergönnt, schlicht in seine Kammer zu schleichen, um dort sich ein weiteres Mal dem Schlafe zu ergeben, denn just in jenem Augenblicke, da er gen Heimat strebte, hatte Sulpicius Cornutus sich aufgemacht, eben jene zu verlassen, sodass beide sich immediaterweise hinter der Pforte begegneten. Obschon der junge Flavius selbstredend außerstande sich sah, im Halbdunkel des Schattens die Mimik seines Kontrahenten zu identifizieren, so kommunizierte doch eine steife Haltung, verbunden mit dem Stemmen beider Fäuste in die Hüfte des ältlichen Rhomäers dessen Missbilligung angesichts jenes Anblicks, welcher sich ihm erbot: Ein trunkener Jüngling, einen Odeur aus süßlichem Parfum, Wein, Schweiß und Opium verströmend, gehüllt in ein ägyptisches Gewand, dessen Schnitt einer Stola glich, dessen Stoff jedoch in überaus unzüchtiger Weise transparent den dicklichen Leib des Flavius offenbarte. Dessenungeachtet, da doch jener Aufmachung keineswegs mehr gewahr und benebelt vom Opium, salutierte Manius Minor seinen Gastgeber mit einem vergnügten
    "Chaire, Sulpikios!"
    , soeben noch sich kontrollierend, um selbigem nicht dem Usus der Myrmidonen gemäß um den Hals zu fallen und innig zu küssen. Sämtliche Heiterkeit wich hingegen mit einem Male, als Cornutus lediglich ein Wort formulierte, in welches er sämtliche Abscheu, den Degout langer, doch untätiger Observation jenes unsteten Wandels und daraus resultierender eisiger Verachtung legte, derer seine Stimme kapabel war:
    "Flavius."
    Ein Schweigen entsprang jener winzigen Impuls und breitete sich mir rasender Velozität, gleich dem Ascheregen über dem verdammten Pompeii, über die gesamte Domus aus. Zumindest erschien es dem flavischen Jüngling so, denn der ihn geleitende Patrokolos wie auch Diogenes pointierten ihr timides Schweigen durch ein betretenes Senken der Häupter, stiller Wind regte kein Blatt in dem beschaulichen Garten und es deuchte ihm, dass selbst die Vögel schienen die Gravität jener Konfrontation ahnten und ihren unbeschwerten Gesang interrumpierten.
    Erst nach infinit lange sich ziehenden Herzschlägen sog Sulpicius beschwert als laste ein Koloss auf seiner Brust, neuerlich Luft in seine Lungen und setzte zu weiteren Worten an, welche ob ihrer schieren Vielzahl dem Effekt jenes ersten nachstanden, ob ihres Inhalts jedoch kaum eine Novität addierten und somit lediglich der Explikation dessen dienten, was Manius Minor bereits aus jener primären Adressierung hatte deduziert:
    "Ich bin enttäuscht. Ich habe dir stets alle Freiheit gelassen, der sich ein junger Alexandriner nur erfreuen kann. Du hattest hier alle Möglichkeiten, die ein Knabe deines Standes sich nur wünschen kann: Ein vertrautes Dach über dem Kopf, einen wohlwollenden, deiner Familie ergebenen Klienten zum Patron, den größten Schatz an Wissen und Weisheit, den die Welt je gesehen hat, keine einzige Verpflichtung und keine Vorschriften, denen du dich beugen musstest. Und was hast du daraus gemacht?"
    Der klagende Zeigefinger, in seiner Wirkung einer Manus Cornuta gleichkommend, eilte nach vorn und punktierte den jungen Flavius schier.
    "Du hattest nichts besseres zu tun, als dir die schlechteste Gesellschaft Alexandrias zu suchen, Fresser und Weinsäufer, Lustknaben, die es durch irgendeinen grausamen Scherz der Tyche zu Geld gebracht haben, um es jetzt sinnlos herauszupulvern! Von allen Philosophen, die es hier zu studieren gibt, hast du dir den unnützesten und schädlichsten herausgesucht, um selbst seine Lehre noch zum schlechteren zu führen!"
    Jene Worte elongierten die Punktion des Zeigefinger im Geiste des Jünglings zu einem scharfen Spieß, welcher nun inmitten seines Herzens stieß und ihn im Innersten verletzte. Mochte er mit Missinterpretation, ja Unverständnis seines Lebenswandels gerechnet haben, so lädierte ihn die Beleidigung seines Idols, des großen Weisen, den so eifrig er studiert und verstanden zu haben er vermutete, zutiefst und evozierte trutzigen Widerstand, welcher ihn seinerseits die Arme, einem symbolischen Bollwerke gleich, vor der Brust ließ verschränken.
    "Und was bist du nun?"
    Voll Desperation warf Cornutus die Arme in die Luft, in hilflosem Gestus zu den Himmlischen gleichsam eine überdimensionierte Manus Cornuta formierend und die Stimme nun merklich hebend:
    "Ein parfümierter Kinäde, schlimmer gekleidet als die schamloseste Straßenhure Alexandrias! Du kannst dich glücklich schätzen, so schlecht zu sehen, dann musst du wenigstens nicht deinen Anblick im Spiegel ertragen!"
    Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann, die Exzitation in jeder Regung transportierend, beherzt auf- und abzuschreiten.
    "Ich habe viel zu lange tatenlos zugesehen, ich dachte, das wäre eine Phase, die schnell vorbei gehen würde, glaubte an deine gute Erziehung und deine noble Abkunft, dachte 'Was soll schon geschehen?'! Aber ich war naiv, ja habe die Dummheit der Jugend sträflich unterschätzt, mich viel zu wenig eingemischt! Und jetzt ist es so weit gekommen, dass es fast zu spät ist, ja nicht nur du, sondern durch dich auch mein Haus zum Gespött von ganz Alexandria geworden ist, dass sie dem tollen Flavius, dieser Karrikatur eines Achilles nachsehen und über seinen närrischen, pflichtvergessenen Gastgeber lachen!"
    Er erstarrte und wandte sich mit einem Ruck dem Jüngling zu.
    "Aber damit ist jetzt Schluss, junger Mann!
    Wäre ich deiner Familie nicht aufs Engste verbunden, wäre dein Onkel Flavius nicht mein geschätzter Patron und dein Vater nicht Consular der römischen Republik, dann würde ich dich halbtot prügeln und im finstersten Rhakotis aussetzen lassen, damit du dort deinen Lebensunterhalt so verdienen kannst, wie deine Aufmachung es nahelegt!"

    Manius Minor erstarrte angesichts so großer Offenheit und sog unwillkürlich Luft ein, ohne sie wieder entweichen zu lassen.
    "Aber das wäre wohl selbst angesichts deiner Missratenheit ein Affront gegen deine Familie, die ja immerhin auch ein paar sehr anständige Persönlichkeiten hervorgebracht hat! Ich muss mich also wohl darauf beschränken, den Schaden zu begrenzen und dich ihrer Bestrafung zu überlassen!"
    Der Sulpicius trat ganz nahe an den Jüngling heran, sodass dieser jenes Odem auf der schweißverklebten Haut konnte spüren.
    "Ich will dich hier nicht mehr in meinem Haus haben, nicht in meiner Stadt, nicht in meiner Provinz! Das nächste Schiff nach Italia wird dich hier fortschaffen, das schwöre ich beim Stein des Iuppiter! Und glaube nicht, dass du mich mit irgendwelchen Lügengeschichten bei deiner Familie anschwärzen kannst: Ich werde einen Brief an deinen Vater schicken und an meinen Patron, der den deinen klar vor Augen führen wird, warum ich dich hier nicht mehr dulden kann!"
    Ruckartig zog er sich zurück und wandte sich um.
    "Ab auf dein Zimmer! Pack deine Sachen zusammen!"
    Mit jenen Worten rauschte er davon, den jungen Flavius, welcher angesichts jener vernichtenden Philippica gänzlich perturbiert noch nach Worten rang, links beiseite lassend und durch die Pforte dem Anwesen entschlüpfend ihrem Blicke sich entziehend.


    Zurück blieb Manius Minor, gänzlich konfundiert zwischen traumatischem Erschrecken, revoltierlicher Refutation jener konzentrierten Personifikation der von Epikur gegeißelten leeren Meinung und Beschämung ob einer derartigen Traktierung durch einen Klienten der Familie. Ratlos blickte er zu Patrokolos, welcher ebenso, vom Wein benebelten Sinnes, seinen Blick erwiderte, dann zu Diogenes, dessen Habitus ebenso Irritation offenbarte, doch bereits der ersten Erstarrung entronnen war.
    "Tut, was er sagt. Denkt nicht einmal daran zu fliehen. Mein Herr wird euch finden, egal ob in Neapolis, Alexandria oder der ganzen Provinz."
    Mit der Hand deutete er hinauf zur Treppe, welche zum Schlafgemach des jungen Gastes führte. Und benommen ob jener bedrohlichen Prognose und einer absoluten Insekurität, welche Maßnahme nun adäquat mochte erscheinen, folgte Manius Minor jenem Ratschlusse und begab sich, gefolgt von Patrokolos und sogleich an der ersten Stufe strauchelnd, aufwärts.

  • "Was sollen wir nur tun?"
    , sprach Manius Minor voller Desperation, kaum war die Tür seines Schlafgemaches ins Schloss gefallen, durchquerte den Raum und warf sich aufs Bett. Einem inprävisiblen Regenfalle gleich war jenes Unwetter über ihn hereingebrochen, ihn gänzlich unpräpariert ertappend und so schutzlos bis aufs Hemd durchdringend. Obschon die disrespektible Traktierung, ja jener präzeptorale Habitus, als sei er sein Pater Familias, nicht dessen Klient, den jungen Flavius nicht wenig verärgerte, die Offendierung seiner Philosophie und des ihr lediglich sich approximierenden Lebensstiles gar Empörung und Refutation evozierte, so vermochte er doch nicht zu leugnen, dass die Schroffheit und brutale Konfrontation in ihm eine irrationale Furcht erweckte, die noch immer in diesem Augenblicke, da der Donner war verhallt, sein Herz einer eisigen Klaue gleich umschloss, sodass beinahe Panik sich in ihm die Bahn brach.
    "Ich weiß nicht."
    , replizierte Patrokolos in einem Timbre, welches dem flavischen Jüngling lediglich von jenen Myrmidonen war bekannt, welche zu gierig vom Becher des Morpheus hatten gekostet, sodass zur Gänze sie ihres Willens waren erledigt und zu existierenden, halluzinierenden Marionetten mutierten.
    Keineswegs war dies die adäquate Gesellschaft, um nun rationale Pläne zu disputieren, ja selbst um jenen Sturm der Emotionen in seinem Leibe zu ordnen oder schlichten Trost zu finden, weshalb der Jüngling erbost aufsprang, zu dem sich neben der Tür auf dem Boden niedergelassenen Diener eilte, hierbei strauchelnd und beinahe in ihn stürzend zu ihm gelangte und ihm sodann eine schallende Ohrfeige zu platzieren.
    "Patrokolos, gib Acht!"
    , befahl er über seinen Freund gebeugt, nunmehr sämtliche Emotionen durch den gerechten Zorn ob der Teilnahmslosigkeit seines Gegenübers kanalisierend und somit verdrängend, in jenem Tone, der ihm von seinen Familiaren in Rom nur allzu vertraut war.
    Der Schwindel des nunmehr ihn mehr torquierenden denn inspirierenden Rausches ergriff ihn nun endgültig und riss ihn zu Boden, sodass er neben Patrokolos sich aufraffte, ehe er jeden in seinem Geiste aufblitzenden Gedanken hastig verbalisierte, als vermöge er hierdurch den zweifelsohne dazwischen sich verbergenden richtigen Handlungsweg zu isolieren:
    "Wir müssen fliehen! Zu Dionysios! Nein, dort werden sie uns suchen, meine Gesellschaft scheint ihm ja bekannt! Vielleicht besser zu Epimenides, der mag weniger prominent sein... aber leichtlich wird er ihn identifizieren...
    Oder wir verlassen schlicht die Stadt, gehen zum Hafen und mieten uns ein Schiff, fahren ihm davon, den Nilus hinab oder nach Achaia! Ja, zum Kepos nach Athen!... aber wie sollten wir dies finanzieren?
    Nein, wir kommen ihm zuvor und schreiben einen Brief an meinen Vater... oder nein, an Onkel Felix... oder nein, an Iullus, oder an Lucilius, oder an Vindex! Ja, Vindex wird uns erneut ein Exil bieten, er tat es ja bereits! Gibt es eine Schiffspassage nach Cremona?
    Nein, welch Unsinn, Cremona liegt ja inmitten der Cisalpina..."

    Plan um Plan taufte auch, verpuffte indessen, kaum war er genannt, erwies sich stets absurder denn der vorherige, weshalb Manius Minor, einen mysteriösen, aszendierenden Druck auf seine Schläfen, verbunden mit einem drohenden Hyperventilieren verspürend, endlich verstummte.
    "Ich benötige einen Schluck Opium!"
    , konstatierte er das Augenscheinliche, als endlich er ihm wurde gewahr, dass lediglich die Droge ihn würde in jenem erforderlichen Maße kalmieren, um generell zur Fassung eines klaren Gedankens imstande zu sein. Kaum war jene Einsicht formuliert, stieß der Jüngling heftig gegen seinen Diener, welcher seine Gedankenströme bisherig durch keinen Laut hatte disturbiert.
    "Auf, du tumber Narr, hole mir einen Becher Opium!"
    , kommandierte er scharf und erweckte tatsächlich Patrokolos aus jener Lethargie, in welcher Sulpicius ihn hatte auf mysteriöse Weise gestoßen. Ungelenk rappelte er sich auf, lehnte sich gegen die Wand und murmelte
    "Ja, Domine..."
    , womit er zu jener Truhe schwankte, in welcher der junge Flavius seit geraumer Zeit einen privaten Vorrat des Mohnsaftes aufbewahrte, um des Morgens, wenn der Konsum des vorigen Abends ihm die Glieder lähmte, das Verlassen der Bettstatt zu erleichtern.

  • Kurz darauf saß der junge Flavius, sichtlich kalmiert, auf seiner Bettstatt und spintisierte über die vorliegende Situation. Mehr denn offensichtlich war ihm die Absurdität jener sulpicischen Hyperreaktion, welche mitnichten in Relation zu seinen vorgeblichen Vergehen stand, zumal selbiges in keinster Weise justitiabel ihm erschien, da doch nicht er, sondern Cornutus jener war, der leeren Meinungen hinterher eilte, anstatt das einzig Rationale zu tun und seinen Begierden zu folgen, wie Manius Minor und die Myrmidonen dies erkannt hatten. Insofern glaubte der junge Flavius sehr viel legitimer in der Position, den Klienten seines Oheims ob jener sinnlosen Okkupationen zu schelten.


    Dessenungeachtet befand Sulpicius sich hiesig jedoch in einer Position, welche es ihm gestattete, nach Gutdünken mit seinem Gaste zu verfahren, da der flavische Jüngling doch in dieser Stadt über keinerlei Kontakte von Potential verfügte, da die politisch-gesellschaftliche Abstinenz des Myrmidonenkreis es ja geradehin untersagte, den politischen Potentaten der Polis gefällig zu sein und sich auf das abstruse Spiel von Gabe und Gegengabe einzulassen. Obschon es Manius Minor bis zu diesem Tage war misslungen, die genaue Beschäftigung seines Gastgebers zu erfahren, welche selbiger zu einem sonderbaren Mysterium erklärte und bei jedweder Thematisierung dieser Frage das Sujet abrupt wechselte, so stand doch außerfrage, dass selbiger über fabulöse Relationen in die innersten Zirkel des alexandrinischen Machtsystemes verfügte, ja die großen Demagogen der Ekklesia nicht selten in sein bescheidenes Heim zum Trinkgelage lud und bisweilen gar den Palast des Eparchos frequentierte, sodass die nebulösen Warnungen Diogenes' zweifelsohne von Substanz waren.
    In keinem Falle würde es ihm bei einem der Myrmidonen, sei es dem schillernden Dionysios, sei es dem stillen Epimenides, in Sekurität zu leben gestattet sein, da doch stets jene alexandrinische Version der Vigiles, welche am ersten Tage seiner Lebens in dieser Stadt ihm gar das Geleit zum Hause des Sulpicius hatten gegeben, drohte, in Erfüllung einer winzigen Gefälligkeit für ihren augenscheinlichen Gönner sämtliche Oikoi seiner Freunde zu verwüsten und seiner wieder habhaft zu werden, was wiederum nicht nur ihm selbst, sondern zweifelsohne auch seinem Gastgeber zum Schaden würde gereichen.
    Vielweniger erschien es ratsam, auf eigene Faust sein Glück zu versuchen, da es ihm zum einen an Geld, zum andern an praktischen Fähigkeiten zu dessen Erwerb fehlte, zumal selbst die Perspektive einer Okkupation als Lustknabe, wollte man von seinem Widerstreben, eine derart ehrlose Beschäftigung aufzunehmen, absehen, in Anbetracht seiner Unansehnlichkeit wenig Erfolg versprach. Ohne finanziellen Spielraum würde indessen auch sein spatialer Spielraum begrenzt bleiben, zumal ihm, sollte Sulpicius, was zweifellos würde geschehen, seine Drohungen wahr machen und an seine Familia schreiben, das Netzwerk der Flavii würde verschlossen bleiben, welches selbst in dieser dem Senat theoretisch verschlossenen Provinz eine basale Infrastruktur hätte geboten. Gedankenverloren ertastete er seinen Siegelring, welchen Manius Maior ihm anlässlich seiner Liberalia hatte gereicht und der ihm mit größter Sekurität Zugang zur Villa Flavia vor den Toren der Stadt, wo, wie ihn deuchte, sein Vetter Serenus während seiner Studien hatte gelebt, würde gewähren.
    Doch was sollte er dort, da man auch an jenem Ort zuallererst ihn würde suchen? Keineswegs würde Cornutus ruhen, ehe er seinen Gast wohlbehalten an die Familia überstellt würde haben, da er doch Gracchus Maior hatte gelobt, Gracchus Minor zu hüten wie seinen Augapfel.


    Die unumstößliche Faktizität jener Überlegungen hingegen klarifizierte im ganzen Manius Minors Lage als überaus misslich, ja besiegelte geradehin die singuläre Option, sich dem Schicksal schlichtweg zu ergeben und der Dinge zu harren, die da mochten kommen.
    Resigniert nahm Manius Minor einen weiteren Schluck aus dem Thanatos-Becher.
    Mitnichten verspürte er Lust, in den irrsinnigen Moloch Roms zurückzukehren, wo nichts denn Schmerz ihn erwartete: So würde er seine ersten wahren Freunde (so man von Diarmuid, Iullus, Vindex und dem guten Lucretius, deren Kontakt er sträflich hatte vernachlässigt, mochte absehen) niemals wieder sehen, ja selbst außerstande sein, ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen und damit ihnen die Sorge um das Schicksal ihres Achilleus ersparen, würde jener vortrefflichen Polis, welche zwar objektiv kaum besser mochte sein als Rom, jedoch mit weitaus plaisierlicheren Remineszenzen war verbunden, den Rücken kehren müssen. Neben jenen Abschieden bot indessen auch die Urbs nichts denn Unlust, begonnen bei seiner zweifelhaften Familia, zweifelsohne bereits geknechtet unter der Knute seiner Natter von Schwiegermutter, sodass ihm geliebte Anverwandte sämtlich das Weite hatten gesucht. Dann all jene Zwänge aristokratischer Existenz, jene sinnlose Selbstentsagung gegen alles Schöne und Gute, um eine strahlende Fassade der Anständigkeit und Tugend zu wahren, hinter welcher hingegen doch nur Faulheit und Niedertracht lauerten und jenen Koloss der Familia Flavia Romae langsam, doch beständig von innen zerfraßen. Endlich seine familiar bereits vorausbestimmte Zukunft, angefüllt mit der Reproduktion jenes Irrsinns, indem auch er würde genötigt sein, den Lauf der Ehren anzutreten, welcher ihm noch unerstreblicher erschien denn der Stadionlauf im Gymnasion, und um die Gunst jener zu buhlen, die noch potenter waren als man selbst, um Ehren und Ländereien und Posten zu erringen, obschon sie doch als consulare Familie respektablen Wohlstands über mehr als genug von all jenem verfügten.
    "Vielleicht sollte ich den Schierlingsbecher wählen."
    , konstatierte der junge Flavius endlich, als ihm jene Situiertheit zur Gänze wurde gewahr.
    Patrokolos, inzwischen ein wenig besser zu sich selbst gelangt, blickte aus der eigenen Lethargie wie der Position am Fuße des Bettes hinauf zu seinem Herrn.
    "Und ich?"
    Manius Minor seufzte. Zweifelsohne würde Patrokolos, sollte sein Herr sich das Leben nehmen, den Zorn der Flavii auf sich ziehen, womöglich gar selbst den Tod finden, was indessen in epikureischer Weltsicht ebenso gut mochte antizipiert werden:
    "Du trinkst selbstredend nach mir!"
    Nun wurde die Stimme des Sklaven ein wenig trutziger, als er die Arme auf den angezogenen Knien verschränkte und erwiderte:
    "Ich will aber nicht sterben. Ich habe noch Pläne für mein Leben!"
    Niemals hatte der junge Flavius erwogen, dass sein Diener einen autonomen Willen, ja gar separate Pläne für die Zukunft mochte hegen, da doch seine gesamte Existenz, jeder Tag und jede Stunde war lediglich auf den Zweck hin orientiert, seinem Herrn eine Hilfe zu sein. Gewiss hatte der Jüngling vor Jahren erfahren, dass Patrokolos bisweilen sich davon schlich, um auf eigene Faust sich zu vergnügen, doch erschien es doch als eine differente Lage, ob sein Diener gelegentliche Kurzweil suchte oder im Stillen derartig fundamentale Vorhaben verfolgte, dass ein spontanes Scheiden aus der irdischen Existenz sich als inakzeptabel ihm darbot.
    "Welche Pläne?"
    , fragte Manius Minor daher gänzlich naiv und voller Erstaunen. Vernehmlich enerviert erfolgte die Replik:
    "Was schon? Die Pläne eines Sklaven: Eines Tages frei zu sein, ein eigenes Haus, eine eigene Familie zu haben! Mein Leben lang musste ich stets das tun, was meine Herren von mir wollten, zuerst in Padua, dann in Cremona und seither bei dir. Verstehe mich nicht falsch, du bist mir stets ein guter Herr gewesen, sehr viel besser als der vorherige! Aber auch ich bin ein Mensch und will eines Tages frei über mein Leben bestimmen können!"
    Abrupt verstummte Patrokolos, augenscheinlich der Ungeheuerlichkeit seiner Worte gewahr werdend, welche auch seinen Herrn perplexierte, da die Existenz, ja die widerstandslose Obödienz des Gesindes im flavischen Hause eine derartige Evidenz darstellte, dass man weder sie, noch die vermeindliche Position der anderen Seite zu ihr jemals reflektierte. Doch nun, geschärft durch die Perspektive Epikurs, blieb es dem Jüngling nicht erspart, Verständnis aufzubringen für diese Position, denn nicht umsonst hatte der große Meister Sklaven und Freie gleichermaßen um sich gespart, Hierarchien der Rechtsstellung ignoriert und jedem das offene Wort gewährt, was nur konnte bedeuten, dass eben jeder ihm gleichermaßen als Mensch von Wert und Respektabilität galt.
    "Das hattest du niemals erwähnt..."
    , bemerkte der junge Flavius, beseelt von jener Einsicht und betroffen von der Offenheit seines Dieners, nein einzig wahren Freundes! Patrokolos seufzte.
    "Wie auch? Du bist mein Herr, ich bin dein Sklave! Wenn du dich nicht gerade in einem Zirkel von Epikureern bewegst, sind unsere Plätze klar verteilt. Mir steht es nicht zu, Wünsche zu haben, schon gar nicht nach meiner Freiheit!"
    Der junge Gracche musste konzedieren, dass dies durchaus der Wahrheit entsprach. Dennoch fühlte er sich schuldig, niemals auch nur den Hauch einer Sensibilität für die Wünsche seines Dieners aufgebracht zu haben, ihn auch hier in Alexandria, mit all jener philosophischen Bildung, in allem epikureischen Eifer doch ihn nicht besser behandelt zu haben als einen Schoßhund, den man bisweilen das Stöckchen ließ apportieren, bisweilen ausschalt und eben auch gelegentlich liebkoste. Stets war Patrokolos treu an seiner Seite gestanden, hatte nicht nur das getan, was ihm explizit war aufgetragen worden, sondern voller Aufopferung jede seiner Unzulänglichkeiten, Sorgen und Nöte mitgetragen, ihm freundlichen Rat erteilt oder Trost gespendet, wann immer ihm danach hatte verlangt.


    Schweigend und noch immer beseelt vom Scham jener Ignoranz erhob sich der flavische Jüngling mit mäßigem Geschick und kehrte an die Seite seines Freundes zurück, ließ sich einem Sacke gleich neben den kauernden Leib sinken und seufzte neuerlich.
    "Es tut mir leid, mein lieber Patrokolos. Ich könnte dir selbstredend testamentarisch die Freiheit schenken."
    Patrokolos schnaubte verächtlich und vermerkte in sarkastischem Tonfalle:
    "Ich wusste gar nicht, dass dein Vater dich aus der Patria potestas entlassen hat!"
    Aufs Neue entwich Manius Minor ein Seufzen. Selbst in jener intimen Stunde annihilierten die Tradition und die Fakten des römischen Rechts, jener so ansehnlichen, doch ebenso bisweilen hinderlichen Konvention menschlicher Provenienz, seine Pläne. Wollte er Patrokolos nicht einem gräulichen Tode überantworten, so musste auch er am Leben bleiben, musste gar sich dem Verdikt des Sulpicius fügen.
    "Dann verspreche ich dir feierlich, dir die Freiheit zu schenken, sobald ich dazu imstande bin. Beim Stein des Iuppiter."
    , mühte er sich, zumindest einen gewissen Trost seinem Freunde zu bieten.
    "Ich dachte, Epikur ist der Meinung, die Götter vollstrecken keine Flüche und Eide."
    Diesmal sprach nicht beißender Sarkasmus, sondern versöhnliche Ironie aus den Worten seines Dieners, welche anzeigte, dass jedwede Missstimmung zwischen den beiden, so sie jemals mochte bestanden haben, als abrogiert war zu ästimieren. Dann legte der Sklave den Arm um die hängenden Schultern seines Herrn, welcher seinerseits den Kopf an die Schulter des Sklaven legte.
    "Danke."
    , hauchte Patrokolos und wischte damit für eine gewisse Spanne all jene Sorge und Furcht ob ihrer beider Zukunft hinweg.

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