Alle Bedenken der Sklavenschaft in Hinblick auf die grauenhafte Wetterlage in den tosenden Wind schlagend stürmte Gracchus in den Hof hinaus und quälte sein Pferd in den kalten Regen. Binnen weniger Augenblicke hatten sie im Galopp jene kurze Distanz überwunden, welche sonstig zu Fuß ihn an den Felsen ans Meer brachte, durchquerten alsbald gen Norden den kleinen Zypressenwald, in welchem die Spitzen der Bäume im Winde sich bedenklich zu den Seiten neigten trunken schwankenden Zyklopen gleich. Nie zuvor hatte der Flavier diese Grenze überschritten, hinter welcher Callistas Anwesen zu finden war. Zu dieser Jahreszeit lediglich karge Wiesen schlossen sich an die Bäume an, hernach eine Aue um einen schmalen Bachlauf, welcher an diesem Tage an einigen Stellen bereits über die Ufer trat. Unbeirrt trieb Gracchus das Pferd durch das Wasser, querte brach liegende Felder, einen Baum hier, einen Baum dort, umwand eine aus unförmigen Steinen errichtete Umzäunungsmauer, doch nirgends war ein Dach zu sehen, welches auch nur einem Bauern eine Behausung mochte bieten, geschweige denn der schönen Callista. Callista, welche keinen Augenblick gealtert schien in all der Zeit seit ihrem Zusammentreffen Jahrzehnte zuvor in Rom. Der Wind peitschte um ihn her und zerrte an seinem Mantel, an der nassen Mähne des Pferdes und jedem Halm, welcher seinen Weg säumte. Nirgendwo auch nur eine Spur von Callista. Callista, die nichts erschüttern oder überraschen konnte, da sie stets alles bereits zu wissen schien. Weit draußen am Horizont, über dem tiefschwarzen Meer, flackerten Blitze und erhellten für einen kurzen Augenblick das dunkle Wolkengetürm. Callista, die immer schon auf dem Felsen ausharrte oder einen Augenblick nach ihm kam, gleich zu welcher Stunde. Als würde der Regen sie hinfortspülen wich die von Ingrimm genährte Spannung aus Gracchus, was gleichsam auf das Pferd sich übertrug da er die Zügel lockerte, wie auch seine Oberschenkel sich nicht mehr in die Flanken des Tieres pressten. Callista, die seine Vergangenheit kannte wie sonst niemand, die von Ereignissen Kenntnis besaß, von welchen niemand außer er selbst wusste ohne dass ihm dies war sonderbar erschienen. Ohne dass er das Pferd weiter antrieb verlangsamte dies seinen Schritt, tänzelte nervös auf der Stelle inmitten eines von Stoppeln überzogenen Feldes, unschlüssig wohin sein Reiter in diesem Gewirr aus Regenfetzen und Donnergrollen es wollte lenken, überhitzt und ausgekühlt zugleich. Callista, die selbst keine Vergangenheit und keine Gegenwart ihr Eigen nannte. Gracchus spürte nicht die kalten Tropfen, nicht den zerrenden Wind, hörte nicht das nahe Tosen und ferne Grollen, sah nicht seinen getreuen Sciurus ihm folgen. Callista, die nicht existierte, war alles, was seine Sinne vermochte zu füllen. Callista.
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Tagelang sprach Gracchus kein Wort, nicht zu seinen Sklaven, nicht zu Sciurus. Er stand auf, aß spärlich, eilte an die Küste und harrte aus auf dem Stein am Meer. Doch niemand kam. In seinem Kopf dröhnte eine dissonante Kakophonie, in seinem Bauch rumorte gefräßiges Natterngezücht und sein Herz war durchbohrt von tausenden Splittern desperater Hoffnung, doch Callista kam nicht wieder. Erst wenn die Sonne sich anschickte unterzugehen kehrte er in sein Haus zurück, aß kaum etwas und starrte in die Flammen einer Feuerschale oder einer Kerze bis dass es Zeit zum Schlafen war. In der Nacht wälzte er sich von einer auf die andere Seite, von Unruhe und Alb getrieben, erwachte des Morgens kaum ausgeruht. Er reagierte nicht auf die Fragen der Sklaven nach seinen Wünschen, nicht auf die Worte seines Vilicus in Hinblick auf Neuigkeiten oder anderweitige Zerstreuung. Er reagierte nicht auf die Untersuchung des Medicus, welchen Sciurus nach drei Tagen einbestellte, welcher indes keine körperliche Insuffizienz - zumindest keine, welche nicht bereits bekannt war - konnte detektieren. So laut die Stille um Gracchus her tönte, umso unermesslich kakophonischer das Chaos in seinem Inneren, in welchem ihm unmöglich war, einen klaren Gedanken zu fassen. Er suchte mit sich selbst ins Reine zu kommen, doch sein Gedankengebäude war ihm verschlossen, die Welt um ihn her verwüstet und öd, die Götter blieben stumm, nicht einmal die wilde Insania bot ihre wirren Antworten ihm dar. Er glaubte sich zurückgerissen in jenen Zustand, in welchem er seine Familie und sein Leben hatte vergessen, war dieser Trug ihm doch ebenso wahrhaft erschienen wie Callista, gleichwohl ihre Existenz weit größere Vehemenz in sich barg, denn mochte eine Vergangenheit, ein Leben sich durch Worte ändern lassen, so war die Schaffung eines Menschen ein Werk weit bedenklicheren Ausmaßes. Ziellos streifte er durch die vergangenen Wochen und Monate, suchte Erleben und Erkenntnis miteinander in Einklang zu bringen, suchte einen Halt, doch verlor Tag um Tag nur mehr und mehr sich selbst.