Civitas Mattiacorum | Iter est meta

  • Die Legion passierte die Stadt über die Via Principalis, welche an der Regia vorbei direkt über die Rhenus-Brücke führte. Dem militärischen Gebrauch gemäß reihte sich der junge Flavius mit den übrigen Tribunen nach der Vorhut und den Signa ein, während das Gros der Truppe hinter ihnen marschierte. Obschon zweifelsohne nicht mehr als etwa die Hälfte der Gesamtstärke jener Armee parat stand, um jene Ambulatura zu versehen, so ergaben die knapp dreitausend Milites einen beachtlichen Heerwurm, welcher die gesamte Stadt durchzog, ehe er sich in Castellum Mattiacorum auf die Landstraße ergoss.


    Der junge Flavius, hoch zu Ross und umgeben von einer überaus professionell anmutenden Entourage aus Tribunen und Ordonnanz-Offizieren, verspürte einen Enthusiasmus, welchen er im grauen Alltag der principalischen Administration schon nicht mehr für possibel gehalten hatte. Als sodann die erste Cohors, welche hinter dem Offizierskorps zu marschieren, ein altes Soldatenlied intonierte, weckte dies immediat einen Tatendrang, als ginge es nicht lediglich zu einem routinierten Übungsmarsch, sondern ins Feld der Ehre selbst:
    "Ein weiter Weg, ein weiter Weg,
    und zwanzig Jahr sind um,
    da stand es in dem Scheunentor,
    mein Kind in Clusium.


    Die spanischen Mädchen sind honigsüß
    und die in Gallien wie Gold
    ihr sanften Vögel Thrakiens
    von Herzen war ich euch hold.
    Jedoch mein Kind in Clusium,
    das ich küsst und verließ in Clusium
    ich nie vergessen sollt.


    Ein weiter Weg, ein weiter Weg,
    und zwanzig Jahr sind um,
    doch immer steht nach dir mein Sinn,
    mein Kind in Clusium.*"

    Sim-Off:

    * aus: Sutcliff, Rosemary: Der Adler der neunten Legion (1954)

  • Der polyphone Klang jener Soldatenweise, intoniert von den rauen Kehlen der ersten Kohorte erklang in den Ohren des jungen Flavius, welche für gewöhnlich eher den geschulten Stimmen professioneller Sänger lauschten, nicht sonderlich wohlgestalt. Dennoch transportierten sie eine amoureuse Melancholie, die auch den jungen Tribun erfasste, während Verw um Vers in seinen Geist gelangte.


    Auch Cornelia Squilla hatte er vor vielen Lenzen, wenn auch nicht ganz zwanzig an der Zahl, erstmalig getroffen, als Cornelius Scapula, der engste Freund seines Vaters, konsentiert hatte seine Nichte dem ersten Spross der Flavii Gracchi zur Frau zu geben. Manius Minor war damals noch ein unvernünftiges Knäblein gewesen, inkapabel rechte Worte zu formulieren, gänzlich zu schweigen von der Kapazität, die Tragweite jenes Bundes zu ermessen, welchen ihre Gewalthaber für sie geschlossen hatten. Selbstredend vermochte er indessen nicht mehr sich jenes ersten Aufeinandertreffens zu entsinnen, obschon er aus Erzählungen wusste, dass er wenig Interesse an jenem fremden Maidlein gehegt hatte, welches vom Arm ihrer Tante auf sein Decklein gesetzt worden war, ohne seinerseits seinen Blick von ihrem Püpplein abzuwenden.


    Ebensowenig war die Cornelia als eine Schönheit zu bezeichnen, ja sie mochte wohl mit keiner einzigen der Töchter der römischen Aristokratie in Konkurrenz treten, da sie, realistisch exprimiert, schlichtweg als hässlich war zu titulieren: Ihre Zähne waren schief, ihre Gestalt nicht schlank, sondern schlicht knochig, ihre Haut unrein und in einer Weise von Ekzemen besetzt, dass sie einer Kraterlandschaft glich, ihr Blick trüb, ihre femininen Rundungen inexistent und ihr Haar dünn, sodass der junge Flavius ihr zweifelsohne geraten hätte, niemals ohne Perücke das Haus zu verlassen.
    Durchaus hatte er sie bereits geküsst (respektive sie ihn auf die Wange), doch hatte jener Berührung weder Intimität, noch gar Erotik oder dergleichen transportiert.


    Dachte er hingegen heute an sie, so war er genötigt zu konzedieren, dass diese Gedanken überaus selten auftraten, ja er genau genommen die letzten fünfzehn oder zwanzig Lenze seit ihrer Verlobung fast exklusiv lediglich dann an sie gedacht hatte, wenn Manius Maior oder ein anderer Anverwandter ihn ihr bezüglich angesprochen oder ermahnt hatte, dass er selbst während seiner Jugend in Rom sie lediglich zwei- bis dreimalig im Jahr anlässlich seines und ihres Dies natalis sowie einer akzidentiellen Situation leibhaftig getroffen und zu diesem Anlass einige formelle, aufgesetzte Worte gewechselt hatte.
    Frug man ihn, wer sein Kind sei, wäre Roma sein Clusium, so memorierte er Cornelia Squilla lediglich aus formellen Gründen, während sein Herz ihm spontan eher Claudia Silana vor Augen führte. Wo jene einem vertrockneten Gesteck glich, war diese ein prächtiger Blütenstrauß; wo jene ihm ennuyant erschien, brillierte diese mit philosophischer Bildung und wo jene ihn gänzlich kalt ließ, evozierte diese ein Wechselbad der Emotionen zwischen Furcht und Begehren.
    Der junge Flavius wollte nicht so weit gehen zu postulieren, er sei Claudia Silana verfallen, da keineswegs er beständig an sie dachte oder primär sexuelles Begehren gegen sie empfand. Doch hatte er zu konzedieren, dass er durchaus gerne an sie dachte und dass, je länger die Distanz zu ihr währte, desto mehr jene Befangenheit und der Kleinmut, der angesichts der frevlerischen Lehren, welchen sie augenscheinlich folgte, sowie ihrer Anmut befallen hatte, schwanden. Wäre er genötigt, sein Kind in Clusium zu benennen, so hätte zweifelsohne es sich um Claudia Silana gehandelt!

  • In Aquae Mattiacorum legte die Legion eine längere Rast ein, um der Vorhut einen hinreichenden Vorsprung zu gewähren, da nunmehr sie die kommoden Straßen hinter sich lassen und auf direktem Wege sich in die Wildnis begeben würden, welche das kultivierte Land in der Etappe vom Limes trennte. Selbstredend waren die Pioniere auch hier außerstande, einen sekuren Weg durch die temporär undurchdringliche Vegetation zu bahnen, doch verbreiterten sie zumindest jene gebräuchlichen Trampelpfade, auf denen die Indigenen sich durch den Wald bewegten, auf eine Breite, welche es den Legionären gestattete zu zweit nebeneinander zu marschieren.


    Deplorablerweise trat im Laufe des Nachmittags eine Obliegenheit hinzu, da es begann zu regnen und der gestampfte Erdboden sich unter den zahllosen Caligae in schlammigen Morast verwandelte, sodass es notwendig wurde die Route durch Gezweig und bisweilen mitgeführtes Stroh zu sichern.
    Dennoch musste selbst das Ross des Tribuns bereits immer wieder sicheren Tritt suchen, obschon der Legionsstab ja direkt nach der Vorhut und dem Legionsadler rangierte. Der junge Flavius selbst wurde indessen primär durch die Humidität seiner Paenula disturbiert, gegen welche er sein Paludamentum getauscht hatte, sodass er Zeit genug hatte, die groteske Vegetation zu seiner Linken und Rechten zu betrachten: Moos und Flechten bedeckten Baumstämme und Unterholz gleichermaßen und formten bisweilen gar Fäden, die Stalagtiten gleich zur Erde strebten. Das feine Geäst erschien inpermeabel und die dichten Blätterkronen absorbierten derartig viel Licht, dass der Wald düster und bedrohlich wirkte. Niemals hatte er eine derart morbide Vegetation erblickt, deren Zweige und Äste verkrümmten Fingern und Gliedmaßen, deren moosbedeckte Borken der runzligen Haut uralter Weiber und deren herabhängendes Blätterwerk, glänzend in der Humidität des Regens, dem tristen Haar eines Gespinstes. Obschon jene knorrigen Gewächse keineswegs den Larven und Lemuren glichen, so fühlte Manius Minor sich doch an Totengeister erinnert und ihm schauderte. Ob Varus similäre Formationen erblickt hatte, ehe sein Heer dem Verderben anheim gefallen war?

  • Seine Füße trugen ihn entfremdet von seinem Leibe über den Boden. Wenn er den Boden sah, sah er seinen eigenen Abgrund, wie er sich mit Blut tränkte. Richtig oder Falsch - waren nicht mehr leicht zu trennen. Noch immer brauchte er jede geistige Kraft, um sich nicht von dieser Welt abzuwenden und zudem zu werden, was er immer bekämpft hatte. Einer Kriegsbestie, die nur noch im Chaos seine Glückseligkeit fand. Den Krieg verließ man nicht mehr. Nie wieder war man die selbe Person, wenn man Dinge gesehen hatte, die andere nur aus Geschichten oder Albträumen kannten. Sie brachten Angst mit sich. Eine Angst, die taub machte und einen sprachlos zurückließ. Was war aus ihm geworden? Diese Frage verschmähte sein eigenes Selbst, dessen Arme weit offen standen, um Liebe zu empfangen aber nicht mehr fanden. Der Marsch zog durch seine Monotonie an seiner geistigen Gesundheit, die nicht mehr derartig geraten war. Diese höllischen Bäume, der morastige Boden und das grüne Maas mit seiner satten Farbe verhöhnten seinen Fußweg. Das Blattwerk verdunkelte im sanften Schatten zwischen dem Licht einige Flecken in seinen Angesicht. Wenn sich Verus eine Hölle vorstellen konnte, war dies seine Hölle. Ein ewiger Marsch, um immer wieder in den Krieg zu ziehen. Er konnte diesem Gedanken nur noch Schlechtes abgewinnen. Immer näher kam diese Taubheit an sein Herz, die sein Gesicht bereits eingefroren hatte. Ein Krieger war er. Ein Soldat Roms, der nicht aus Stein war aber dennoch zum Stein gemacht worden war. Die verlassenen Augen des Tiberius erhoben sich, um zum Tribun hinauf zu blicken. Was fühlte er? Auch er würde eines Tages sein Verderben finden. Diese Welt hielt niemals etwas Gutes für eifrige Tapfere bereit. Suchte Verus ein Gespräch? Eigentlich unmöglich in seiner Position aber dennoch wirkte der Tribun seltsam fremd in dieser kriegerischen sowie brutalen Welt der Legionen, dass er vielleicht die richtigen Antworten für den leidenden Mann hatte, der sich unter seiner Rüstung gerne versteckte.

  • War der Regen etwa eine Stunde nach dem Verlassen der Landstraße beachtlich angeschwollen, sodass rasch nicht lediglich die Wollmäntel der Mannschaften, sondern ebenso der erlesene, scharlachrote Mantel des jungen Flavius gänzlich durchtränkt war, weshalb auch die wohlgefettete Kapuze baldig nicht mehr das kühle Nass von seinem Haar ferne hielt. Für einen Augenblick erwog der Jüngling, seinen Helm zu tragen, um sich mit dem impermeablen Metall vor den Himmelswassern zu schützen, doch ehe er diesbezüglich einen Entschluss hatte fassen können, war sein Haupt bereits derart durchnässt, dass es unerheblich erschien. Fortunablerweise unterblieb indessen ein Wind, welcher die Feuchtigkeit in wahrhaftige Kälte gewandelt hatte, was die Sorge des Jünglings, durch die ungesunde Wetterlage sich final noch zu erkälten, als unbegründet erscheinen ließ.


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    Am späten Nachmittag schließlich wandelte der vehemente Platzregen sich in ein feines Nieseln, welches nach und nach verschwand, sodass Manius Minor endlich imstande war, seinen inzwischen schwer gewordenen Mantel abzulegen. Bereits als er die Kapuze vom Haupte nahm, erblickte er auf einem Hügel die Destination ihres Marsches: über den Baumwipfeln in der Ferne erhoben sich sanft die Ausläufer des Taunus Mons und auf einem von ihnen ein noch recht klein sich ausnehmender Turm, aus dessen schmalen Fenstern in der oberen Etage bereits matt das Licht von Öllampen glänzte.
    "Ich sehe bereits den Turm!"
    , rief der Tribun daher erfreut aus und blickte vergnügt hinab zu seinem Beneficarius, der zu Fuß an der Seite seines Vorgesetzten den Strator-Dienst versah und nunmehr ebenso seiner Erleichterung Ausdruck verschaffte:
    "Iuppiter sei Dank!"
    Gebannt heftete der junge Flavius seinen Blick weiter auf jene noch recht fern sich ausnehmende Szenerie, welche nicht lediglich das Ende ihres Marsches, sondern ebenso das Ende des Imperiums repräsentierte. In den Berichten, welche Roma erreichten, war dies jene Linie, die die Zivilisation von der Barbarei dividierte, hinter der undurchdringliche Wälder, öde Sümpfe und widerspenstiges Land zu einem Leben in der Primitivität verdammten, während diesseits römischer Fleiß die Natur bezwang, um aus ungebändigter Wildnis fruchtbare Felder und saftige Weiden zu formen, die jenen Glücklichen, welche unter dem segensreichen Szepter Roms lebten, Nahrung generierten.
    Doch aus der Nähe, in welche sie nun behäbig sich begaben, vermochte man kaum zu differenzieren, welcher Anteil des Waldes unter der Herrschaft Roms stand und welcher nicht. Imperium und Peripherie verschwammen zu einem einzigen Meer nasser Baumkronen, bisweilen felsiger Abhänge und sanfter Hügel. Einzig die Wachtürme ragten daraus hervor gleich seltsamen Fremdkörpern inmitten der gleichförmigen Vegetation. Auch als sie sich weiter approximierten und der Jüngling baldig jene Schneise identifizierte, die seit der Befestigung des Limes die Wachtürme miteinander verband, glichen sie den sich schlängelnden Einbrüchen des allseitigen Blätterdaches, welche größere Bäche und Flüsse sich bahnten.


    Jenes Bild stimmte den Tribun nachdenklich: Keineswegs spiegelte jene Realität die Propaganda wider, die in Rom allerorten zu vernehmen war, welche die großen Klassiker der Historiographie und Belletristik über die Grenzen verbreiteten. Bisweilen schien es ihm, als gleiche Roms Präsenz in der Provinz dem Wachturm vor ihm, welcher einsam und allein inmitten ungezähmter Natur sich wiederfand, sie zwar in einem gewissen Raume überblickend und bisweilen gar formend, faktisch jedoch verloren in jener infiniten Wildnis, die ihn umgab.
    Mochte Mogontiacums Castrum, das mächtige Theater und die zahlreichen Bauten nach italischem Vorbild jene Zivilisation verbreiten, der der junge Flavius entstammte, so wog dies doch keineswegs die Weiten des Landes auf, durch die Duccius Vala und seine Entourage tagein tagaus ihren Weg bahnten, um in Weilern fern der römischen Städte, in welchen zweifelsohne oftmals nie ein Römer seinen Fuß gesetzt hatte, die Herrschaft auszubreiten, die vorgeblich so segensreich wirkte. Bedachte er die Dörfer am Ufer des Rhenus, welche er auf der Reise hierher passiert hatte, so deutete oftmals nichts darauf hin, dass der Grund, auf welchem sie standen, im Besitz Roms war. Fern schienen prächtige Tempel, distinguierte Kultur und quiritische Ordnung, nicht näher als hier am Ende des Reiches.


    Der Jüngling blickte zur Seite, wo die Pioniere jene Bäume und Sträucher, die sie zur Bahnung des Weges entwurzelt hatten, achtlos liegen gelassen hatten. Erdige Wurzeln ragten hier neben noch grünen Zweigen und morschem Geäst hervor, alles mit allem perturbiert, sodass man kaum zu erkennen vermochte, was Baum, Strauch oder Unterholz war gewesen.
    Wirkte die Präsenz Roms in diesen unwirtlichen Landen nicht similär? Glichen die Gerichtsreisen des Statthalters mit seiner Entourage in die kleinen Städtlein nicht den Äxten der Pioniere, die angestammte Pflanzen ausrissen und achtlos beiseite warfen, um den dröhnenden Stiefeln der Soldaten, welche jener ungezähmten Natur so fremd waren wie eine italische Kolonie selbst, einen Weg zu bahnen? Verwirrte das römische Recht nicht angestammte Sitten und Normen, wie sie jenseits des Limes tadellos funktionierten? Profitierten die Provinzialen, gedrückt durch Steuern und Frondienste, von der ach so segensreichen Dominanz der Gens togata oder wurden sie nicht lediglich entwurzelt und reifen Ähren gleich aufgetürmt, aufdass sie sich in die Visionen ihrer fremden Herren fügten?


    Zweifelsohne war es seine Pflicht, an diesem Orte seinen Dienst zu verrichten, war es notwendig, jene wilden Barbarenhorden zu kontrollieren, um nicht die Tage des Marius zu reanimieren, in welchen Kimbern und Teutonen die Alpen überquert und Italia mit Schrecken überzogen hatten. Doch war es nicht eine Lüge, jene Mission durch den Anspruch zu verbrämen, Rom brächte den Barbaren Kultur und Zivilisation?


    Mit jenen Zweifeln im Geiste, stumm über sie nachsinnend, ritt der Tribun dahin und überwand die letzten Meilen bis zu ihrer Destination, wo die Vorhut zweifelsohne bereits begonnen hatte, das Feld zu präparieren.


    Bild: DSC03196 by Groundhopping Merseburg, auf Flickr

  • Als der Stab den Limesturm erreichte, hatte die Vorhut unter Aufsicht von Tribun Severus in der Tat bereits mit den Präparationen des Lagerbaues begonnen. Neben stumpfen Rodungsarbeiten, wie sie Pioniere sie während des Marsches zu vollführen gehabt hatten, waren bereits pedantische Agrimensores in Aktion getreten, welche mit Hilfe ihrer Gromata die Insulae des zu errichtenden Lagers absteckten, sodass bereits ein Gewirr an Schnüren, geheftet an divers gefärbte Fähnlein, den planen Grund zu Füßen des Wachturmes überzogen. Während die Arbeit mit dem Groma den jungen Flavius durchaus zu faszinieren geeignet war, evozierte die Einsicht, dass eine Unzahl an Fallstricken das Lager nunmehr durchzog, in ihm eine gewisse Insekurität, nachdem er zu Füßen des Turmes abgesessen war. Folglich beschied er, jene Bauphase besser aus sicherer Distanz zum Boden von der Plattform des Turmes zu verfolgen, was ihn zwar nötigte, eine überaus schmale leiter zu erklimmen, ihn jedoch immerhin mit einem fantastischen Ausblick belohnte: Die Wolkendecke war über dem Barbaricum aufgerissen und während die Sonne langsam sich dem Horizonte zuneigte, tauchte selbige die Baumwipfel, Moore und gelegentlich aufscheinenden Lichtungen in ein warmes Licht. Als er sich umwandte, erwarteten ihn dagegen weiter jener sinistre Himmel, welcher sie den ganzen Tag bereits mit dicken Tropfen torquiert hatte, was beinahe seine kritischen Reflexionen hinsichtlich der römischen Zivilisation zu konfirmieren schien. Während die heimischen Götter augenscheinlich das unter den römischen Caligae gequälte Land beweinten, lächelten sie milde über den ungezähmten Hängen des Taunus Mons und die dortig hausenden Mattiaker!


    Nur mit einem Seufzen vermochte Manius Minor endlich den Blick von jenen infiniten Weiten zu nehmen und sich den Geschehnissen zu seinen Füßen zuzuwenden. Dort erreichte Kohorte um Kohorte den vorgesehenen Lagerplatz, welcher sogleich in Besitz genommen wurde: Hinter dem Rücken der Wache, welche sich dem Feindesland zuwandte, hoben die Männer mit stupender Velozität einen Graben aus und häuften dahinter einen Erdwall auf, welcher mit Rasensoden der Lichtung und Steinen befestigt wurde, stießen obig ihre Pila Muralia und gefällte Bäume aus dem inneren der geschaffenen Fläche in den gestampften Boden, um eine Brustwehr zu schaffen, sodann erst errichteten sie die Zelte für ihre Offiziere und final ihre eigenen Unterkünfte. Gleich einer komplizierten Maschine schien jener einzelne Soldat eine separate Funktion auszufüllen, welcher er unter den Augen seines Centurio wie ein Zahnrad nachging. Nirgends vermochte der junge Flavius ruhende Milites zu entdecken, wie sie im Castellum nicht selten zu erblicken waren, jeder beugte sich augenscheinlich widerspruchslos der Knute seines Vorgesetzten.


    Einzig die Auxiliarsoldaten, welche den Dienst auf diesem Posten versahen, schienen nicht tangiert vom geschäftigen Treiben zu Füßen ihrer Heimstatt: Als der Tribun einen Blick in die Wachstube des Turmes warf, erblickte er zwei von ihnen, wie sie die Astragale warfen, was dem Jüngling ein Lächeln entlockte. Seit jenem Tage, als jene Instrumente des Glücksspieles sein präferiertes Amt als Vigintivir hatten entschieden, hatte er sich nicht mehr ihrer bedient, doch verlangte ihm nun durchaus danach, an jenem Spiel zu partizipieren. Deplorablerweise sprangen die beiden Soldaten jedoch sogleich auf und nahmen Haltung an, als sie seiner gewahr wurden, und der Zauber des unschuldigen Zeitvertreibs entfleuchte unter der militärischen Oberfläche ihrer Existenz. Mit einem Seufzen fügte auch der flavische Jüngling sich wieder jenem Kontext und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.
    "Nun, Milites, alles ruhig?"
    "Jawohl, Tribunus!"
    , erwiderte einer der beiden, dessen dunkler Teint auf eine Herkunft aus fernen Landen schließen ließ.
    "Formidabel! Ich hoffe, wir disturbieren eure Wache hier nicht allzu gravierend."
    "Nein, Tribunus! Es ist... ehm... eher eine willkommene Abwechslung!"
    "Dann lasst euch nicht ablenken!"
    , finalisierte Manius Minor jene kurze, doch wenig erquickliche Unterredung. Inzwischen mochte sein Zelt errichtet sein und die Tribunen zur Stabsbesprechung sich versammeln. Selbst wenn er kaum über eine Expertise verfügte, welche bei der Administration jenes militärischen Kolosses etwas beitragen mochte, durfte er sie impossibel verpassen, wollte er mehr Kenntnis über die Necessitäten und Gebräuche des soldatischen Betriebes gewinnen!

  • Die Stabsbesprechung im Zelt des jungen Flavius nahm keine sonderlich lange Zeit in Anspruch, da sie doch lediglich einen routinierte Marschübung ohne Scheingefecht absolvierten, weshalb lediglich Absonderlichkeiten des vergangenen Tages aufs Tableau gebracht und die geplanten Abläufe des kommenden zu referieren waren. Im Folgenden verabschiedete Manius Minor seine Collegae sowie die führenden Centurionen, welche nun zweifelsohne die Nachtwachen ihrer Untergebenen einzuteilen und sämtliche übrige Obliegenheiten für das laufende Quartier zu bewerkstelligen hatten.


    Zuletzt salutierte der Tribun schließlich Tiberius Verus:
    "Vale Tiberius."
    Der Jüngling ergriff die Hand des erfahrenen Veteranen, welcher auch diese Besprechung durch seine Kommentare bereichert hatte, als schlagartig ihm eine Frage in den Sinn kam, die ohne weiteres Erwägen er verbalisierte:
    "Gehörst du im Übrigen der patrizischen Gens der Tiberii aus Rom an?"
    Konträr zu jenen innumerablen Iulii, Claudii, Flavii etc. zählte der Gentilnomen "Tiberius" nicht eben zu den verbreitetsten des Imperiums, was jenen Vorwitz erweckte. Womöglich hätte Manius Minor die Standesabzeichen des Centurionen identifizieren können, welche in Form kleiner Lunulae an den Caligae des Tiberius hingen, doch seine Hypermetropie verbot ihm, jene korrekt zu identifizieren, was letztlich ihn nötigte, sich verbal diesbezüglich zu erkundigen.

  • War es seine Wahrnehmung oder verflog die Zeit ohne sein bewusstes Zutun? Zwar hatte er seine Pflicht erfüllt, das wusste er aber irgendwie war ihm die wirkliche Partizipation daran entgangen. In letzter Zeit schien er Aussetzer seiner Erinnerung zu erleben. Scheinbar funktionierte ein Teil von ihm, ohne das bewusste Entscheiden des anderen. Verus fühlte sich taub, ungelöst und angespannt in dieser Situation. Er versuchte diese Taubheit abzuschütteln, die ihn ermüdete und wollte mehr als ein Beifahrer in seinem Leben sein. Dennoch blieb er auch jetzt wieder nur Teilhaber und nicht Entscheider. Andere entschieden über sein Leben, welches festen Bahnen folgte, wie Planet einer Flugbahn. Als Centurio leistete er stets gute Arbeit und galt als effizienter Befehlsempfänger, der akurat und zielgerichtet seine Aufträge mit seinen Soldaten umsetzte. In letzter Zeit fiel aber auch seinen Soldaten auf, dass er herzloser wirkte und seine Freundlichkeit, die er sich zu bewahren versuchte, wie eine Maske geraten war. Sie war zu einer reinen Floskel verkommen. Seitdem er von seiner Geliebten getrennt war, sei es auch nur für ein paar Tage, schien seine Menschlichkeit rapide zu zerfallen und der mechanische Centurio kehrte ein. Im erwachten Moment, aus seiner entfernten Wahrnehmung gerissen, salutierte er seinem Tribun. Auch Verus umgriff die angebotene Hand fest, wie es römisch war. Die Frage seines Vorgesetzten überraschte den erfahrenen Soldaten, der mit dieser Frage nicht gerechnet hatte. Insofern konnte er auch nur unvorbereit antworten: "Ja, Tribun. Ich bin unter Umständen sub aquila geraten. Dennoch bereue ich diesen Schritt nicht." Er ließ offen, welche grausamen Umstände dies waren und verband die Antwort auch mit einer offenen Rechtfertigung, da es unüblich für seinen Stand war, ex caligae zu dienen.

  • Die Replik des Tiberius erklang in den Ohren des Tribuns ein wenig nebulös, vermochte doch die Formulierung 'unter Umständen' einerseits die Aufmerksamkeit auf die Kontexte jenes extraordinären Karriereweges lenken, andererseits jene jedoch nicht zu explizieren. Für einen Augenschlag rang der Jüngling somit invers, ob er sich diesbezüglich weiter erkundigen oder jene womöglich unrühmliche Historie (denn warum sonst sollte ein Patrizier den Weg des Miles gregarius wählen?) beschweigen sollte, beschied jedoch final, da der Centurio seinem Lebensweg durchaus ein positives Fazit extrahierte, es zu wagen:
    "Welche Umstände mögen einen Patrizier zum Centurio werden lassen?"
    , fragte er daher unverhohlen und lächelte, um seine Frage nicht allzu kritisch erscheinen zu lassen.

  • Ein böses und todessehnsüchtiges Schmunzeln legte sich auf seine Lippen. Nun fragte der Tribun tatsächlich die eine Frage, die den armen Tiberius schon mehrere Jahre beschäftigte. Verus musste nicht überlegen aber die Worte bedächtig wählen, um nicht irrsinnig oder verloren zu erscheinen. "Ich denke, dass ich die gesamte Geschichte in einem kurzen Abriss berichten muss, damit du verstehst, Tribun," leitete Verus seine Worte ein, um den Flavius schonend in eine abgründige Geschichte einzuführen. Nun war der Veteran selbst die längste Zeit seines Lebens Soldat aber hatte die Gründe für dieses einsame Leben niemals vergessen und auch niemals vergeben. "Ich wuchs einst in Rom und Achaia auf. Meine Familie besaß in Achaia Latifundien, die ich später beanspruchen konnte. Neben Fabricae und verschiedenen Landgütern besaßen wir auch einige Gestüte. Uns erging es gut. Ich konnte sogar eine Ehe schließen." Verus brach ab, da die Erinnerung an Calena schmerzte. Er senkte seinen Blick für einen Atemzug ab, um diesen dann wieder zu erheben. "Mit der Machtergreifung des Salinator und dem Untergang des Tiberius Durus, traf es uns ebenso hart. Salinator hegte einen Groll gegen jeden Tiberius und entsandte gewalttätige Häscher, die uns vertrieben und den Besitz in seine Hände überführten. Ich konnte mit meiner Frau fliehen," führte er seine Erzählung ohne Detailliebe fort, da er den Flavius nicht mit unnötigen Details verwirren wollte. Verus war lange genug Offizier, um eine Geschichte entsprechend zu straffen und weitesgehend von sensiblen Emotionen zu befreien. "Wir versteckten uns in Rom in einer Insula und lebten das Leben einfacher Leute. Schließlich endete die Herrschaft des Pseudo-Rex und wir konnten aufatmen. Ich schrieb dem Augustus einen Bittbrief, zumindest einen Teil unseres Besitzes wieder herzustellen aber dieser wurde nie persönlich beantwortet. Wir wurden vertröstet," erklärte Verus die unmittelbare Vorgeschichte und seine Worte klangen bitter. "Ich fand keine Arbeit und noch immer war das Ansehen der Tiberii beschädigt. Zwar unterstützte uns in dieser Zeit Tiberius Lepidus aber er selbst sah uns eher als Ballast als wirklichen Gewinn für seine eigene Lebensführung. Unsere Ersparnisse waren aufgebraucht und ich suchte bei den Göttern Ratschluss, die mir in einem fieberhaften Traum eine klare Antwort gaben, dass ich dem Adler dienen sollte. Um meiner Frau die Schande eines kläglichen Lebens zu ersparen und mir selbst die Ehre zurück zu verdienen, die uns immer wieder verwehrt wurde, ging ich sub aquila. Gleichsam musste ich mich von meiner Frau scheiden lassen und ließ diese in Rom zurück. Ohnehin war es eine Schande, dass ich als Sohn Roms nicht einmal ihr Geschmeide belegen konnte," sprach er weniger verbittert und deutlich sachlicher. "Auch erlaubte mir der Dienst, einen gleichen Umstand, der uns widerfahren war, für andere zu verhindern. Ich konnte Rom schützen und das bewahren, was die künftigen Gierigen und Machthungernden verderben wollten. Ich diente mit fester Absicht und entschloss mich den harten Weg zu gehen, um auch jene Fähigkeiten zu erlernen, die einst Rom groß gemacht hatten: Tugend, Tapferkeit und Wehrtüchtigkeit," schloss er ab und fand sich erneut im Selbstbetrug wieder. Glaubte er wirklich noch an jene Tugend? Der Mann bemerkte schlicht, dass ihm diese Erinnerungen immer noch verfolgten und belasteten. Sein Gesicht verfinsterte sich und seine Augen wurden leer. "Ich diente über viele Jahre an vielen Fronten und als die Grenzlegionen verstärkt wurden, entsandte man auch einen Teil meiner einstigen Stammeinheit aus der Legio Prima an die Grenze. Meine militärische Karriere ist eine übliche Karriere eines tüchtigen Miles, der mit Stand und Ansehen handelt. Als Optio führte ich bereits kleine Einheiten und schließlich, noch zu meiner Zeit in der Prima, wurde ich zum Centurio erwählt. Hier an der Grenze führte ich meine Karriere als Statorum einer Grenzbefestigung fort und wehrte verschiedene Überfälle ab. Man erhob mich nach erfolgreicher Führung der Befestigung in die Primi Ordines der Legio Secunda, um es knapp zu formulieren, Tribun." Damit schloss die militärische Seele Verus seinen Lebensbericht ab und nickte dem Flavius ernst zu. Die grausamen Details seiner Feldzüge und Einsätze ließ er bewusst aus, um nicht erneut tief in diesen Gedanken zu verschwinden.

  • Dem jungen Flavius entgingen die Nuancen in der Mimik des Tiberius selbstredend, doch entnahm er dem Timbre in seiner Stimme durchaus einen melancholischen Beiton, weshalb er bereits fürchtete ein unrühmliches Kapitel in der Lebensgeschichte des Centurio aufgeschlagen zu haben. Was hingegen folgte, war zwar eine hinlänglich triste Narration, welche jedoch Manius Maior eher bemüßigte den Tiberius zu bemitleiden als zu schelten. So schuf bereits die Anverwandtschaft zu Tiberius Durus, jenem ehemaligen Freund Manius Maiors, dessen Hochzeitsfackel er als Knabe einst getragen hatte, eine gewisse Sympathie, welche jener alte Consular zwar auf höchst plumpe Weise erworben hatte, die jedoch auch die postmortale Abwendung Manius Maiors von seinem vormaligen Freunde überdauert hatte. Dass er endlich sein Schicksal der Flucht, nährte selbige noch weiter, obschon andere Passagen jener Biographie ihm ein wenig dubios erschienen: Verfügten die Tiberii nicht über Freunde, welche sie selbst in jenen Tagen, als sie ihrer Reichtümer beraubt gewesen waren, bei sich aufgenommen hätten? Welchen Grund mochte Cornelius Palma, jener Princeps mit mäßigem Fortune, gehabt haben, Verus nicht sogleich zu rehabilitieren und warum hatte er nicht die Assistenz seines Anverwandten Tiberius Lepidus erhalten? Schließlich stellte sich ebenso die Frage, ob es schicklich war, eine eheliche Verbindung zu lösen, um sich folgend als simpler Miles gregarius in der Legion einzureihen und gleichsam die natürliche Familie für eine artifizielle hinter sich zu lassen.
    "Auch mein Vater und ich waren genötigt, vor dem grausamen Zugriff jenes Vescularius zu fliehen."
    , bemerkte er somit nachdenklich, während zugleich er spintisierte, ob eine alternative Deutung jener Geschichte nicht simplerweise die war, dass Tiberius Verus den Sturz der Tiberii genutzt hatte, sich von allen Pflichten und Obliegenheiten eines wahren Patriziers zu liberieren, wie er selbst es in radikalerer Weise ebenfalls bereits versucht hatte, obschon zweifelsohne der Lebenswandel eines Soldaten, selbst eines gemeinen, durchaus ehrenvoller mochte erscheinen als jener eines hedonistischen Philosophen. Dennoch mochte auch dies als eine gewisse Similität zwischen beiden Patriziern darstellen.
    "Auch ich wählte den Kriegsdienst, obschon er für uns Patrizier mitnichten obligat ist. Jener Weg mag in anderer Weise hart sein als der eines einfachen Miles, doch verstehe ich deine Intention."
    Widerstreitende Emotionen durchschwirrten den Geist des Tribuns, hin- und hergerissen zwischen Argwohn und Verständnis, zwischen Abscheu vor einer dergestalten Refutation der eigenen Geburt und Faszination für die Radikalität des eigenen Opfers. Nach einigem Zögern entschied er schließlich, jenen Konflikt offen zu formulieren:
    "Und dein rasanter Aufstieg-"
    Manius Minor hielt dafür, dass der Centurio nicht mehr als vierzig Lenze zählte, und dennoch bereits in die Primi Ordines aufgestiegen war.
    "-beweist deine Befähigung. Womöglich hättest du in jenen Tagen nach dem Sieg Palmas zu meinem Vater kommen sollen, der ein Freund des Tiberius Durus war und dir zweifelsohne Obdach geboten, ja dir womöglich ermöglicht hätte, den Cursus Honorum zu beschreiten."
    Der Tiberius verfügte über einen mysteriösen, sinistren Charakter, welcher Manius Minor bisweilen Rätsel aufgab, doch wäre er damit in der patrizischen Gesellschaft Roms zweifelsohne kein Einzelfall gewesen.

  • Niemand konnte wirklich verstehen, warum Verus im falschen Eifer jegliche andere Rettung verweigert hatte. Er hatte sich selbst anderer Möglichkeiten entzogen, um seiner verdammten Ehre zu folgen, die ihm bis heute nichts als Pein und Leid gebracht hatte. Niemand konnte begreifen, warum eine eigentlich gute Seele, im Blute anderer seinen Segen fand. Vielleicht mussten einige Menschen mehr geben, als sie erhalten konnten. "Jeder hatte zu dieser Zeit sein persönliches Joch zu tragen. Entweder man verstellte sich und diente dem Pseudo-Rex oder wurde in Pein oder Elend getrieben," erweiterte Verus die Aussage des Flavius mit seinen Worten und gab damit Verständnis preis. Es schien nicht so, dass Verus einen großen Groll hegte oder wirklich emotional teilnahm, denn seine Stimme war gleichbleibend kräftig aber nicht schreiend. Als Soldat hatte er lernen müssen, dass das Leben nicht immer das war, was man sich wünschte und oft war es einfach nur grausam ungerecht. Dieser Tiberius fügte sich in diese Welt ein und fand seinen Platz derzeit allein unter den Waffen, denen er mehr vertraute als jedem Menschen. Böse war Verus nicht aber auch sicherlich nicht unschuldig. Durch seine Hände waren im Kampf viele Leben genommen worden. Trotz seines warmen Herzens und seiner versteckten Güte, war dort was, was kalt brannte und eine heimliche Schuld war. Er bezahlte seinen Preis auf seine Weise. "Meine Intention ist nicht immer klar und manchmal auch mir nicht verständlich," offenbarte sich der Veteran nun doch, da er hoffte, dass der Flavius nicht die gleichen Fehler machte, wie einst er. "Ich äußerte eine Idee von Ambition und Motivation aber das Schlachtfeld kennt keine Tugend oder Gegenwert, sondern allein Blut und Brutalität. Mein rasanter Aufstieg ist meiner kriegslustigen Vergebung zu verdanken. Ich machte jede Arbeit, die mir aufgetragen wurde. Jegliche Tat, die Blut verlangte, war die meine und ich erkaufte mir damit jene geteilte Ehre, die uns zu Dienern des Mars macht," drückte sich Verus verschlüsselt aus, da er nicht zugeben konnte, moralische Zweifel an seinem Tun zu haben aber dies auch nicht vollständig verbergen konnte. "Ich habe den Tod mehrfach gesehen. Ich habe ihn selbst beinahe erlebt und durch meine Waffe starben viele Feinde. Am Ende stand die Legion auf den Gebeinen der Gefallenen und der gemeinen Feinde," gruselte ihn selbst der angebotene Gedanke. Wieder roch er jenes Schlachtfeld, spürte das warme Blut, welches in sein Gesicht spritzte und über seine Arme lief. Verus war wieder dort und seine Augen verloren jene Lebenskraft, wurden zu leeren Kristallen der militärischen Macht, die er und andere waren. Der Tod war in ihm und wollte ausbrechen, in gieriger Erfahrung und dem einsamen Abgesang des eigenen Vergehens. "Ich hätte...," wollte er eine Antwort finden aber brach dann. "Wünsche werden niemanden retten. Die Vergangenheit ist abgeschlossen. Es ist zu spät für mich. Ich bin gebunden durch Eid und Blut an den Krieg und kenne auch keinen anderen Weg mehr," war schließlich die dahingeworfene Antwort, die auch Selbsterkenntnis war. In der Tat war in der einsamen Nacht oft der Wunsch nach einem anderen Leben oder einem anderen Sein da. Ein Wunsch, so fragil und seltsam, dass er nur heimlich bedacht wurde. Denn jeder Soldat wusste, dass es keine Flucht aus der Erinnerung gab. Man war eben das, zudem man geworden war. Die Zeit hatte sie alle geformt und Verus eben zu einem einsamen Wolf, der eine Heimat suchte aber niemals finden konnte. Wenn nicht Idun wäre, wäre der Wolf längst verhungert auf seiner Suche nach Wärme.

  • Der junge Flavius, in Vescularius' Tagen noch ein unmündiger Knabe, dessen Interessen eher dem Spiel mit seinen Legionärsfigürlein und den grammatischen Exerzitien seines Paedagogus Artaxias gegolten hatten, nickte schweigend, da doch auch er jene Version der Historie aus den Mündern seiner Anverwandten und ihrer Gäste vernommen hatte und durchaus zu glauben geneigt war.


    Mitnichten leuchteten dem Tribun hingegen die folgenden Worte ein, ja sie ließen ihn gar ein wenig an der Ratio seines Opponenten zweifeln, da er doch selbst mit 'Intention' lediglich den Wunsch, dem Lande dienen und sich Ruhm zu erwerben, bezeichnet hatte, was einem vernünftigen Mann doch stets einleuchten oder zumindest nachvollziehbar erscheinen musste.
    Unerwartet brachen sodann jedoch aufs Neue düstere Reflexionen über das Schlachtfeld hervor, welche den flavischen Jüngling daran erinnerten, dass auch seine letzte Unterredung mit dem Tiberius in jenes sinistre Gefilde abgedriftet war und es folglich wohl ein Lieblingsthema des Centurio darstellte gleich einem Greisen, der beständig von bestimmten Episoden seines Lebens berichtete, obschon die Differenz selbstredend jene war, dass ein Greis für gewöhnlich melancholisch einer guten alten Zeit nachtrauerte, während Verus sich selbst durch seine tristen Remineszenzen in umso düsterere Stimmung zu stürzen schien. Bei Manius Minor indessen evozierten diese Rapporte über das Grauen des Soldatenberufes ein gewisses Befremden, da sie doch sich keineswegs in die gebräuchliche Narration vom Ruhm der römischen Waffen, vom süßen, ehrenvollen Dienste fürs Vaterland und das Wohl, das die Legionen durch ihren zweifelsohne schweren Dienst dem Lande bescherten, einzufügen vermochten. Er dachte zurück an den Sonnenuntergang über dem Barbaricum, jene ironische Inversion der gebräuchlichen Interpretationen des römischen Imperialismus im meteorologischen Gewande.
    Der Jüngling legte die Stirne in Falten angesichts all jener devianten Gedanken. Auf der einen Seite schien der Segen Roms für die unterjochten Völker dubitabel, auf der anderen Seite selbst die Geistesbildung und Stählung des einzelnen Soldaten, welcher angeblich doch per aspera ad Astra gelangen sollte, anstatt wie jener miserable Tiberius als gebrochene, von Selbstzweifel torquierte Figur dem Schlachtfeld zu entfleuchen. Er dachte zurück an Onkel Aristides, jenen in seiner Kindheit stets fröhlich sich darbietenden Mann, an Herius Claudius Menecrates, den stolzen Patrizier, der ebenso sämtliche Ränge durchlaufen und nunmehr bis zur Praetur sich aufgeschwungen hatte. Waren sie nicht lebende Exempel für die Wirksamkeit des Kriegsdienstes als Schule des Lebens? War der Centurio vor ihm womöglich schlicht zu schwach, die Strapazen des Kriegsdienstes gedeihlich zu nutzen? Glich er nicht den armseligen Kriegsversehrten, die ihr Praemium Militare verjubelt hatten und schließlich als Bettler in den Gassen Roms lebten, um all jenen Passanten, welche unklugerweise bei ihnen verweilten, mit klagender Stimme ihre infortunable Biographie zu berichten? Oder zumindest eine nützliche Kriegsmaschine ohne das Vermögen, das eigene Handeln hinsichtlich seiner Sittlichkeit zu reflektieren, sodass es der Führung eines wahren Aristokraten bedurfte, um seinen Blutdurst von willkürlichem Mord und Blutvergießen hin zu einer sinnvollen Defension der Inkapablen zu kanalisieren?
    "Suum cuique*."
    , kommentierte der Tribun final ein wenig sarkastisch, um sich nicht stärker auf in jene Zweifel zu engagieren, welche womöglich gar ihn in die Gefahr mochten verleiten, die Tugend an sich infrage zu stellen und wieder jenen Weg in den Abgrund einzuschlagen, den Epikur ihm so verführerisch anpries.
    "Der Schutz unserer Zivilisation ist zweifelsohne bisweilen eine überaus hässliche Angelegenheit."
    Im Geiste des Jünglings erschienen schlagartig jene Worte der Aeneis, die einst er unter Artaxias' Ägide auswendig zu rezitieren gelernt hatte: Tu regere Imperio Populos, Romane, memento - hae tibi erunt artes -, pacique imponere Morem, parcere Subiectis et debellare Superbos**. Die Potenz, die Hoffärtigen zu überwinden, war zweifelsohne Teil jener Kunst, welche die Götter den Quiriten verliehen hatten und deren Exponent nun vor ihm stand.
    "Was du tust, mag nicht immer erfreulich sein, doch ist es wohl unumgänglich."


    Sim-Off:

    * Jedem das Seine
    ** Dein sei, Römer, das Amt, als Herrscher die Völker zu zügeln. Dies ist die Kunst, die dir ziemt, die Gesetze des Friedens zu schreiben, dem, der gehorcht, zu verzeihn, Hoffärtige niederzukämpfen!"

  • Was war schon erfreulich in einem Leben, welches allein dem Dienst galt? Es verschwand zwischen dem Dienstalltag und der Hoffnung auf einer Änderung. Nein, Verus hatte nicht jenes Licht verloren, doch strahlte es nur weiter Ferne. Das Vaterland war für Verus auch nur noch ein Begriff, kein heroisches Ziel mehr, dem er folgte. Es gab genug Rechtfertigungsversuche für Gewalt. Es gab genug politische Schachzüge und am Ende zahlten die einfachen Soldaten, wie Verus mit ihrer Hingabe und Aufopferung für die Spiele anderer. Verus erinnerte sich an die Spielzeugfiguren aus Holz und Ton, mit denen er früher Legionär gespielt hatte. Ein bitteres Schmunzeln zeigte sich. "Es gibt ein Lied bei uns, welches vielleicht mehr erklärt, als ich es je könnte. Es sei meine Antwort auf deine Aussage, dass jedem das seine widerfährt," sagte Verus und blickte in den Himmel, um sich an die Worte jenes Liedtextes zu erinnern. Er wollte es möglichst akurat wiedergeben, damit der Flavius nicht nur heroische Heldensagen kannte, sondern auch den Blick des einfachen Soldaten, welcher stets für andere blutete. "Mein Rom, ich vergaß, wer oder was ich war: nur ein kleiner Tonsoldat, dem das Feuer Leid antat," begann er mit fast gesundener Stimme in Melodie den Text anzupreisen. "Standhaft steht der Tonsoldat, auf dem Schlachtfeld bunt bemalt. Tapfer zieht er in den Krieg, denn die Urbs ist verliebt. Er denkt an sie und singt ein Lied," setzte er fort und senkte dann seinen Blick vom Himmel herab, um die nächsten Zeilen besonders zu betonen: "Spiel mit mir mein Vaterland! Zeig mir den Weg zu ihr, reich mir die Hand; Spiel mit mir mein Vaterland; Zeig mir den Weg zu ihr; Reich mir die Hand, geliebtes Vaterland." Er brach ab und suchte nach Luft, denn die Worte trafen genau jenen Punkt, an dem er seine Erinnerung, wie ein bösen Schatz verwahrte. Die Gefallenen und die Eindrücke holten sich ein und gaben sich preis. Der Veteran schloss für einen winzigen Augenblick seine Augen, als er das Wärme das Feuers dachte, welches einst seine Waden versenkt hatte. Auch der Geschmack des Blutes, welches über seine Lippen lief, wollte nicht sofort weichen. Verus hatte sicherlich mehr gesehen, als es für sein weiches Herz gut war. Dennoch raffte er sich auf, schüttelte den Gedanken und verbannte die Erinnerung wieder in die Truhe in seinem Herzen. "Der Schutz dieser Gesellschaft ist immer eine hässliche Angelegenheit," stellte der Centurio knapp fest und nickte dem Flavius ernstlich zu. Dabei wurden die kalten Augen ersichtlich, die nun gar starrend auf dem jünglichen Angesicht des Tribuns lagen. Verus hatte getötet und der Tod hatte sich in diesen Augen verbissen. Vielleicht waren diese Augen auch das, was die vielen dahingerafften Feinde durch seine Hand gesehen hatten. "Ich tue, was ich gut kann. Es mag sicherlich nicht heroisch sein oder den Heldentaten entsprechen, die besungen werden. Doch wir alle tun das, was wir können. Diese Welt ist nicht erfreulich, sondern voller anstrengender Tat und Pflicht," antwortete Verus mit fallenden Worten. Der kleine Sarkasmus des Tribuns war ihm nicht entgangen und so seufzte der Veteran nur, da ihm klar war, dass dieser Tribun viel mehr seinen Märchen folgte, als der Wahrheit. Er konnte nicht begreifen, was er nicht selbst gesehen hatte. Noch war der Flavius kein Tonsoldat und würde es wohl auch nie sein. Das Vaterland spielte nicht mit ihm. Verus wurde klar, dass eine Offenbarung vor diesem Mann sinnlos war, denn er konnte nicht verlangen, dass ein junger Patrizier die bekannten Heldensagen verneinte. Er konnte ja auch nicht verlangen, dass er Rom von seinem strahlenden Podest hob, um es der Erde nahe zu bringen. Die Realität war doch zu kalt und zu trist, so denn sie diesem Flavius genug bieten konnte. Verus entschied sich wieder für das übliche Theater, welches sich immer als lukrativ erwiesen hatte. Ein Theater für nicht-militärische Erwartungen über das Militär. "Wir dienen Rom, damit dessen Licht für immer strahlen möge. Ohne Rom wäre die Welt nur Chaos," begann er sein altes Stück erneut und lächelte todesverachtend. Verus hoffte damit, diesen Tag wenigstens ohne weitere Erklärungen zu beenden. Der Centurio glaubte nicht daran, dass dieser Flavius wirklich jemals das Schlachtfeld verstehen würde. - Und noch weniger wirkliches Kriegshandwerk erleben wollte. Also ließ er sich wieder als Tonsoldat nieder und spielte den eifrigen Marsch, welcher stets beachtlich wirkte auf unerfahrene Militärs. Kalter Schmerz war nun im Leibe verbannt, wie einst sein geliebtes Vaterland.

  • Die Volksweise, welche der Tiberius intonierte, reanimierte den verdrängten Zweifel im Geiste des Tribuns doch wieder aufs Neue und vermochte auch ihn in jene Melancholie zu reißen, die den Centurio mit jedem Worte mehr erfasste. Womöglich war es hochmütig, jene deplorablen Kriegsversehrten mit ihren tristen Geschichten zu verachten, hatten sie doch ihre Unversehrtheit, ja ihr Leben in den Dienst Roms gestellt, hatte sich zu jenem Tonsoldat gemacht, mit welchem die Feldherren zu spielen pflegten. Niemals hatte der junge Flavius als Knabe erwogen, was es realiter bedeutete, wenn Legionäre gleich seinen Holzfigürlein auf dem Schlachtfeld fielen, dass keineswegs ein gebrochenes Glied durch einen findigen Diener und ein wenig Klebstoff zu salvieren war und die Toten nicht schlicht aufzurichten und zum nächsten Schlachtfeld zu transportieren waren.


    Als Verus geendet hatte, beobachtete der Jüngling somit voll Compassion, wie augenscheinlich ein Schwall von Emotionen über ihn hinwegfegten, ehe aufs Neue er die Kontrolle über sich zurückgewann, um seinen Standpunkt aufs Neue zu konstatieren. Obschon er die Augen seines Opponenten im Halblicht der Dämmerung nicht zu identifizieren vermochte, erschauderte er vor der Kälte, die aus seinen Worten sprach.
    In jenem Punkte zumindest mochte er durchaus Recht behalten, denn auch dem jungen Flavius war seine Pflicht zumeist eher Last denn Lustbarkeit, auch er vermochte sich Angenehmeres zu imaginieren, als allmorgendlich bei Sonnenaufgang sich zu erheben, um tagein tagaus sich ennuyanter Administration zu widmen, unterbrochen von schweißtreibenden Exerzitien mit dem Gladius und geistlosen Konversationen mit tumben Soldaten. Schon das Vigintivirat war ihm als Plage erschienen, doch immerhin erhellt von der Perspektive, danach das Leben eines vollendeten Epikureers ergreifen zu können. Nun jedoch wusste er nicht recht, ob überhaupt Grund zur Hoffnung bestand, da doch seit jener maternalen Vision im Krankenbett er keine Nachrichten aus dem Jenseits mehr erhalten hatte, sodass er selbst bei größten Mühen dazu verdammt war, um den Lohn all jenen Laborierens zu bangen.


    "Wir haben jene Rolle zu geben, welche uns zugewiesen ist."
    , resümmierte er endlich auf die patriotische Floskel des Tiberius, deren mangelnder Ernst ihm in der Tat entging.
    "Doch dürfen wir wohl hoffen, dass ein wenig von Roms Schein auch unser Leben erhellen wird."

  • Jeder Mensch fand seine Rolle in dieser göttlichen Komödie, die keiner Belustigung diente aber nicht an Ironie sparte. Verus hatte sich an seine Rolle nie ganz gewöhnen können aber spielte mit aller Kunst auf! Schall und Rauch, Effekte und Zauberei wirkten durch seine Hände, die mehr sein konnten als Mordinstrumente eines gestandenen Kriegers. Gebete waren gesungen worden und doch fand Verus niemals die Rolle, die seinen Händen wohlgefällig war. Und so vernarbten sie mit jedem Gemetzel und jeder schändlichen Tat im Namen einer Idee sowie einem Ideal. Wenn die Dunkelheit vor seine Augen zog und die Vergangenheit überwachsen; wenn die Priester von einem Weg sprachen und die Philosophen eine Wahrheit offenbaren wollten, kam Verus eine Sehnsucht in den Sinn. Er war gleichsam verloren und gefunden. Die dunkle Nacht schien endlos und doch erinnerte er sich an etwas, was längst keinen Namen mehr hatte. Eine schlichte Sehnsucht, die eine Fontäne der Vergebung war und den Augen Licht gab. Er warf seine Seele ins Gewässer jener Fontäne und fand Unendlichkeit in einer schlichten Erkenntnis, dass alles nur eine Geschichte war. Mit einer Bewegung deutete er hinauf zu den gefühlten Himmeln. Es schien fast so, als ob er die verborgenen Sterne berühren wollte. Verus wollte eine Geste abgeben, um seinem Gedanken Wirklichkeit zu verleihen. "Unter den Himmeln stehen wir als einfache Wesen und begreifen nicht, welche Wunder sich uns vorgetan. Unter den Himmeln stehen wir, und sehen nicht, welche Wunder sich in uns getan. Unter den Himmeln stehen wir, in fester Absicht nicht zu vergehen und doch vergehen wir in einem Atemzug, der über ein Meer streift," zitierte Verus ein eigenes Gedicht, welches er in einem Moment der Lethargie und Agonie seiner einsamen Reise in ferne Schlachtfelder erdacht hatte. "Unter den Himmeln, scheint alles verloren und doch war es hier, wie ein vorbeirauschender Wind," schloss er sein Gedicht mit einem Lächeln ab und nickte dem Flavius zu. Alle fanden ihre Vergebung, wenn sie danach suchten; auf die eine oder andere Art. Verus wusste, dass es auch für ihn eines Tages Vergebung geben würde aber noch nicht. Noch war nicht seine Zeit gekommen. Der Krieg folgte ihm und somit war es mühselig an einen anderen Weg zu denken. Absolution musste verdient werden durch ständige Aufrichtigkeit. "Wir erhellen unser Leben, Tribun," war schließlich die Antwort, um dem Theaterstück einen Hauch von Sinn zu geben. Verus war überzeugt davon, dass Menschen sich einander Sinn gaben. Vielleicht hatte er dies erst durch Idun gelernt. "Rom ist groß und ein Licht aber es wird von vielen kleinen Fackeln zum Strahlen gebracht, die wir alle in uns tragen." Verus schien erleichtert, für einen Moment die Maske des harten Kriegshundes abzulegen und sein Gesicht fand Menschlichkeit, da seine Augen an Frost verloren. "Vergiss' niemals, dass Ideale ohne Tat leblos sind, Tribun," mahnte Verus dem neuen Tribun und wollte ihm eine Lehre für sein zukünftiges Leben schenken, die man mitunter nur verstand, wenn man auf dem Mordacker gestanden hatte. Es war sicherlich mutig, einen höhergestellten Hierachen eine Lehre so offen zu gestehen aber Verus in seinem Stande als Altgedienter nahm sich den Moment als Gelegenheit. Es war ihm persönlich wichtig, dass mutige Männer mit Herzen führten und nicht herzlose Bürokraten.

  • Mit Erstaunen vernahm der jungen Flavius eine weitere poetische Rezitation, welche selbstredend er nicht als eine Eigenkreation zu würdigen wusste, doch immerhin es als beachtlich genug erachtete, dass jener desillusionierte Kriegsknecht über eine dergestalt sensible Ader verfügte. Überhaupt präsentierte der Tiberius nun ein konträres Antlitz zu den vorhigen Äußerungen, wirkte er nahezu beglückt trotz des noch immer düster angehauchten Sujets seiner Äußerungen. Auch sein finaler Schluss mochte in gewisser Weise eine Binsenweisheit reproduzieren, da doch kaum ein Mann von Bildung eine Gottheit wie Roma sich als personales Wesen imaginierte, sondern vielmehr in ihr einer Idee huldigte, welche zweifelsohne von den Unsterblichen geliebt und von den Sterblichen aufrechterhalten wurde.


    Der Rat des Centurio verpuffte indessen ohne sonderlichen Eindruck, erschien er dem Tribun doch zu sehr als altkluge Plattitüde, welche höchstens unreflektierte Platoniker zu irritieren vermochte, hatte er doch selbst jenes Tribunat lediglich angetreten, da ihm wohlbewusst war, dass Ideale, über welche der Jüngling ohnehin nur in bedingtem Maße mehr verfügte, die Unsterblichen kaum kalmieren würden, dass allein Taten ihm jenen Ruhm würden einbringen, welchen er zur Satisfaktion seiner Ahnen benötigte.
    "Das werde ich tun."
    , erwiderte er dennoch artig, in einem zweiten Gedanken sich doch mühend, jenem Ratschlag Positives abzugewinnen und erkennend, dass bisweilen jener Rat doch selbst ihm von Nutzen sein mochte, dachte er an seine makelhafte Bilanz bisheriger Vorsätze und Pläne zurück.

  • Wie durch einen fremden Geistesblitz durchfuhr ihn ein Gedanke, der mit der Tat vereinbar war. Wenn dieser Tribun ein Kämpfer und Soldat Roms sein wollte, sollte er auch kriegerische Tat und Handlung beherrschen: Konnte er kämpfen? Verus fragte sich gerade, ob dieser Mann wirklich etwas bewegen konnte, in einem Gefecht. Er wirkte nicht einem Krieger gleich und war auch ansonsten eher passiv in seiner charakterlichen Wirkung. Es mochte an seinem beleibten Körper liegen, der eindringlich Wohlstand offenbarte. Verus verdrängte seine sensiblen Gedanken, um in die harte Realität des Kriegshandwerks zurückzukehren. "Wie steht es um deine Kampfkünste, Tribun? Wenn wir schon über Taten sprechen, sollten wir auch über deine Fähigkeiten als Kämpfer sprechen," fragte der Centurio ohne Vorwurf in der Stimme. "Ich kann dir ein paar einfache Techniken zeigen, die dir eines Tages helfen können. Ich weiß, dass deine Position eher die eines Taktikers sein würde aber eine Schlacht kann schnell zu eigenen Ungunsten verlaufen und der Umgang mit der Waffe ist nicht minder wichtig, Flavius," war Verus ehrlich und blickte angestrengt beschwichtigend zum Tribun, da er diesen sicherlich nicht beleidigen wollte. Er erinnerte sich an seine damalige Ausbildung, die überaus hart war. Man musste lernen, Gewalt anzuwenden und auch zu ertragen. Schmerzen galten nicht nur als einzige Pein eines Kampfes. Opfer waren der Preis des Krieges. Konnte dieser Tribun sich selbst ins Getümmel werfen? Konnte er wirklich Gewalt anwenden, die sich unmittelbar zeigte? Er sollte es lernen, so dachte Verus, denn ein Römer sollte begreifen, was durch seinen Befehl in die Welt gelangte. Erst wenn die Tat nicht nur ein Begriff, sondern Handlung war, konnte dieser Mann wirklich aufrecht stehen. Verus war überzeugt davon, dass eine Tat durch Übung und Erfahrung besser vorbereitet war.

  • Die Offerte des Centurio stieß nicht auf undifferenzierte Begeisterung, da er doch sich trefflich zu entsinnen vermochte, welch Last ihn die Exerzitien unter den Augen von Optio Octavius gewesen waren, wo neben reichem Schweiß und schmerzenden Gliedern nur mäßige Resultate waren zu konstatieren gewesen. Hinzu trat, dass seiner bisherigen Erfahrung nach die Fechtkunst durch die Obliegenheiten seines Amtes nicht eben gefordert waren, sondern taktische Schulung ihm von weitaus größerem Nutzen gewesen wäre. Selbstredend wollte er den Tiberius, welcher so freimütig sich ihm geöffnet hatte und der zweifelsohne über höchste Kapazitäten in jenem Metier verfügte, selbst einen dicklichen Patrizier die Mores der Kriegskunst zu lehren, mitnichten brüskieren, ja spürte selbst, dass einige korporale Ertüchtigung ihm zweifelsohne wohl anstehen würde, dennoch ließ die Furcht, aufs Neue sich in unwürdiger Pose zu begeben und die Qualen von Überanstrengung, Azidose und der Einsicht in die eigene Inkapabilität zu erleiden, ihn zurückweichen, weshalb final er lavierend erwiderte:
    "Ich genoss bereits in Rom einen gewissen Fechtunterricht..."
    Seine Erprobung würde zweifelsohne Octavius Maro in inadäquater Weise beschämen, da er in der Kürze der Zeit doch beachtliche Anstrengungen unternommen hatte, seinen noblen Scholaren so gut als possibel an die Materie heranzuführen, doch würde der Centurio dies kaum wagen. Verlegen räusperte sich Manius Minor somit und fügte ein wenig gedehnt an:
    "Insofern danke ich dir für deine Offerte, doch möchte ich dich folglich nicht von deinen Obliegenheiten abspenstig machen."
    Jene Refutation erschien ihm, kaum hatte er die Worte gesprochen, wieder als jene Feigheit, welche er eigentlich abzulegen sich geschworen hatte, sodass sogleich sein Gewissen ihn anklagte und er genötigt war, dem festen Blick des Centurio auszuweichen. Doch die Worte waren gesprochen.

  • Konnte es Verus wirklich glauben? Hatte dieser beleibte Jüngling wirklich ausreichenden Fechtsport betrieben? Scheinbar nicht aber Verus akzeptierte die Flucht des Flavius, denn Verus war heute nicht nach weiteren Vorhaltungen. Das sparte er sich für seine Rekruten auf, die noch nicht ganz in der Spur liefen. Sein Räuspern offenbarte eine ähnliche Schwäche, die er oft gesehen hatte. Es war keine konkrete Feigheit aber eine unfähige Haltung gegenüber der Pflicht. Es war die Pflicht eines Offiziers möglichst geschickt im Umgang mit seinen Waffen zu sein. Der dickliche Flavius drückte sich davor und konnte dies auch von Standeswegen begründen aber es machte die Sache nicht ehrbar; auch nicht im Sinne der römischen Traditionen, die eine gewisse Tugend und Tapferkeit von einem Mann verlangten. Verus schmunzelte über die ungeschickte Reaktion seines Gegenübers aber nickte diesem mit einem verstehenden Augenzwinkern zu. "Jeder dient an seinem Platz," schloss der Centurio ab und machte damit wohl die geheime Feigheit offensichtlich, eben jene Flucht aus der Handlung, die der Flavius so betuelich vollzogen hatte. "Ich werde nun zu meinen Pflichten zurückkehren," verabschiedete sich der Tiberius freundlich. Er wollte den armen Tribun nicht weiter mit harter Realität stören oder in dieser deplorablen Situation verweilen lassen. Verus wollte keine Rechtfertigung hören oder verlangen.

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